Autoindustrie Verräterisches Muster
Es sind nüchterne Schaubilder, die bei Felix Domke aus dem Drucker laufen, rote, grüne und blaue Linien. Diesen Auswertungen ging eine monatelange, akribische Detektivarbeit voraus – und sie enthalten einige Sprengkraft. Felix Domke, IT-Spezialist aus Lübeck, holt die Schaubilder aus dem Drucker. Er erkennt darin ein verräterisches Muster. "Was wir hier sehen, sind Messdaten aus der Motorsoftware eines Opel Zafira", erklärt Domke. Dieses digitale Schaltzentrum des Wagens erkenne, ob es sich in einer Fahrsituation befindet, wie sie bei einem Abgastest vorkommt.
"Ist das der Fall, dann arbeitet die Abgasreinigung so sorgfältig, dass der Wagen die Grenzwerte einhält", sagt Domke und tippt auf das geordnete Bündel blauer Striche. In den meisten anderen Fahrsituationen, die so beim Abgastest nicht vorkommen, ist die Abgasreinigung drastisch reduziert. "Der Wagen stößt deutlich mehr giftige Stickoxide aus", sagt Domke.
Schon mit seinen früheren Untersuchungen der Motorsoftware eines Opel Zafira 1,6 Liter Diesel, ausgelöst durch gemeinsame Recherchen von SPIEGEL (20/2016), dem ARD-Magazin "Monitor" und der Deutschen Umwelthilfe, hatte Domke den Rüsselsheimer Hersteller schwer düpiert. Verkehrsminister Alexander Dobrindt bestellte Opel-Chef Karl-Thomas Neumann zum Rapport. Neumann sollte erklären, warum sein Zafira unter anderem bei schnellen Autobahnfahrten die Abgasreinigung abschaltet. Der Minister meldete auch nach dem Besuch des Opel-Chefs in Berlin große Zweifel an der Legitimität der von Domke entdeckten Abschaltvorrichtungen an.
Neumann und seine Begleiter hatten die Existenz zweier dieser Vorrichtungen eingeräumt. Angeblich dienen sie dem Schutz der eigenen Motoren. Eine dritte Einrichtung haben sie bestritten. Neumann wiederholt in den letzten Wochen immer wieder: "Wir setzen keine illegale Software ein." Auch auf eine Anfrage zu Domkes neuen Auswertungen betont der Konzern, man habe "keine Testzykluserkennung".
Die Verteidigungsstrategie der Rüsselsheimer ist klar: bloß nicht so dastehen wie Konkurrent Volkswagen, der eine betrügerische Software hatte einräumen müssen und seither schwer angeschlagen ist. Doch die blauen Linien sind für Domke ein wichtiges Indiz, dass Opel nach einem ähnlichen Schema vorgegangen ist wie VW: Das Auto erkennt zwar nicht den Prüfstand – aber genau jene Fahrsituationen, nach denen die Abgastests ablaufen, überall in Europa.
VW verwendete in seiner Motorsoftware dafür eine Kombination aus Fahrzeit und zurückgelegter Strecke. Opel setzte nach Domkes Befunden auf eine Kombination aus der Motordrehzahl und der Menge des eingespritzten Diesels, um sicherzustellen, dass der Wagen bei der Abgasprüfung nicht durchfällt.
Opel befindet sich in einer gefährlichen Situation. Immerhin hat der Konzern genau das bislang abgestritten – gegenüber dem Verkehrsministerium genauso wie gegenüber der Öffentlichkeit. So verwundert es auch nicht, dass der Konzern, mit den Vorwürfen aus der Analyse Domkes konfrontiert, energisch dementiert: "Diese Interpretationen sind falsch." Allerdings tut Opel das mit einem neuen, erstaunlichen Argument: Es handle sich deshalb nicht um eine Zykluserkennung, weil sich die Autos auf der Straße genauso verhielten, "wenn sie nach den gleichen Bedingungen gefahren werden, wie sie während eines Testzyklus vorherrschen". Das wird jedoch, wie man bei Opel weiß, kaum vorkommen: Der Test hat mit realen Fahrsituationen fast nichts zu tun.
Würde dieses Argument gelten, hätte auch VW nichts zu befürchten, und Fiat wäre ebenfalls fein raus: Dort schaltet die Abgasreinigung nach 22 Minuten ab – die Prüfstandstests dauern knapp 20 Minuten. Der neuen Opel-Definition von "Zykluserkennung" folgend, könnten die Italiener argumentieren, solange Autofahrer alle 20 Minuten den Motor ausmachten, seien die eigenen Abgaswerte doch in Ordnung und alles total legal.
Genau deshalb sind Domkes Analysen, die er jetzt auf 14 Seiten zusammengefasst hat, so brisant für Opel. Die roten und grünen Grenzlinien auf seinen Schaubildern beschreiben nämlich recht genau die Bedingungen des standardisierten, immer gleich ablaufenden europäischen Emissionstests NEFZ. Die blauen zeigen das Fahrverhalten an. Solange der Fahrer sich exakt an die Testvorgaben hält, befinden sich die Werte im erlaubten Korridor, also im rot-grün umrandeten Bereich.
Weicht der Fahrer nur ein wenig von diesen Testvorgaben ab, schießen die blauen Linien wild darüber hinweg. Die Motorsteuerung schaltet dann vom Modus "3", so hat Domke festgestellt, in den sogenannten Modus "9" um – gewissermaßen der Schmutzmodus –, weil dann die Abgasreinigung deutlich reduziert wird. Vor allem aber verharrt er dort, selbst wenn der Fahrer längst wieder in geringeren Drehzahlen unterwegs ist.
Domke hat seine neue Analyse in dieser Woche dem Kraftfahrt-Bundesamt übermittelt, das bereits nach seinen ersten Funden auf ihn zugekommen war. SPIEGEL und "Monitor" haben sie zudem unabhängigen Experten zur Bewertung vorgelegt. Für Markus Ledermann, Professor für Mechatronik an der Hochschule Esslingen, ergibt sich daraus ein eindeutiges Bild: Die vollständige Abgasnachbehandlung werde von Opel "möglichst oft abgeschaltet und möglichst selten wieder angeschaltet".
Vor allem aber sei "das einzig erkennbare Kriterium für das Abschalten, ob dieser Betriebszustand im NEFZ vorkommen kann". Die Abschaltkriterien seien "nur dadurch zu verstehen, dass es darum geht, bei allen nicht NEFZ-relevanten Zuständen abzuschalten".
Kai Borgeest, Motorenexperte der Hochschule Aschaffenburg, hält eine weitere Entdeckung von Domke für besonders verräterisch. Demnach unterscheidet die Software von Opel, wann sie bei einer Beschleunigung die Abgasreinigung reduziert, je nach eingelegtem Gang. "Will ich den Motor schützen, bräuchte ich diese Differenzierung nach Gängen eigentlich nicht", sagt Borgeest. Das Argument vom "Motorschutz", mit dem Opel die Abschaltvorrichtung begründet, hält er deshalb für vorgeschoben.
Verkehrsminister Dobrindt und seine Experten hatten Opel beim Ortstermin im Ministerium eine Frist eingeräumt, innerhalb deren der Konzern Dokumente und Erklärungen nachliefern sollte. Die Rüsselsheimer schöpften diese Frist voll aus und lieferten am Mittwoch mehrere Hundert Seiten an Unterlagen. Diese würden nun "technisch und juristisch geprüft" und "zügig" bewertet, heißt es im Ministerium.
Opel-Chef Neumann hatte in seiner Stellungnahme darauf hingewiesen, bei der Abgasreinigung handle es sich um ein komplexes System – und zu insinuieren versucht, Domke habe es nicht voll durchdrungen und liege mit seiner Analyse daneben. Anderswo bewertet man die Qualitäten des Lübeckers anders: Im Verkehrsministerium überlegt man gerade, ihn als Berater unter Vertrag zu nehmen.