SPIEGEL-Gespräch „Alles durch den grünen Filter“
SPIEGEL: Herr Polman, Sie gelten als Weltverbesserer unter den Konzernchefs. Glaubt man Ihnen, hilft Unilever mit seinen Brühwürfeln, die Frauenrechte weltweit zu stärken. Meinen Sie das ernst?
Polman: Ob Sie es glauben oder nicht: Ja, wir meinen das ernst. In Indien und Afrika etwa haben wir den Bouillonwürfeln Eisen beigefügt. Das liefert den Menschen Nährstoffe, die sie sonst nicht bekommen würden. Außerdem spart das Kochen mit unseren Produkten Zeit – und das macht die Frauen unabhängiger.
SPIEGEL: Wieso das?
Polman: Wenn Frauen weniger Zeit am Herd verbringen, können sie sich besser weiterbilden. Wir unterstützen sie in Entwicklungsländern zum Beispiel darin, als Kleinstunternehmerinnen unsere Produkte zu verkaufen. Das ermöglicht ihnen ein eigenes Einkommen und damit Selbstständigkeit. Weltweit wollen wir so fünf Millionen Jobs für Frauen schaffen.
SPIEGEL: Das heißt also: Wer Ihre Produkte kauft, hilft, die Welt zu verbessern?
Polman: Das Wachstum vieler Länder bleibt begrenzt, solange sie sich nur auf ein Geschlecht konzentrieren. Wenn Frauen weltweit die gleichen Rechte und den gleichen Zugang zu Bildung hätten wie Männer, stiege das weltweite Wirtschaftsvolumen um 28 Billionen Dollar.
SPIEGEL: Finden Ihre Anteilseigner es denn gut, dass Sie sich so stark in Sachen Weltverbesserung engagieren?
Polman: Ein Unternehmen muss in erster Linie den Kunden und nicht den Investoren dienen. Wenn wir diesen Job gut machen, dann sind wir erfolgreich. Und davon profitieren auch unsere Aktionäre.
SPIEGEL: Sie haben deren Hunger nach kurzfristigen Ergebnissen einst mit dem Lechzen eines Junkies nach dem nächsten Schuss verglichen – und deshalb Ihre ausführlichen Quartalsberichte abgeschafft.
Polman: Die Fokussierung auf schnelle Gewinne ist kein Zukunftsmodell. Das ist in der Politik ein Problem, und in der Wirtschaft erst recht. Die durchschnittliche Lebensdauer eines börsennotierten Unternehmens in den USA beträgt heute 18 Jahre. Das kommt davon, wenn man nur in Quartalsberichten denkt. Unser Unternehmen ist inzwischen über hundert Jahre alt, und ich will, dass es uns auch in hundert Jahren noch gibt. Wenn ich an die großen globalen Probleme wie Hunger, Klimawandel und Wasserknappheit denke, dann müssen wir nach langfristigen Lösungen suchen.
SPIEGEL: Statt über Unternehmenszahlen reden Sie offenbar lieber über Bevölkerungswachstum, Klimawandel und die soziale Verantwortung von Wirtschaft und Politik. Wären Sie besser bei einer NGO oder der Uno aufgehoben?
Polman: In meiner jetzigen Position habe ich die Chance, etwas Sinnvolles zu tun und Veränderungen anzustoßen. Gäbe es einen Job, für den ich qualifiziert wäre und bei dem ich noch mehr bewegen könnte, würde ich diesen sofort annehmen. Momentan sehe ich den aber nicht.
SPIEGEL: Haben Sie Ihre Investoren in den vergangenen sieben Jahren denn überzeugen können, dass es richtig ist, auf Nachhaltigkeit zu setzen?
Polman: Unsere Aktionäre haben gelernt, dass unsere Strategie nicht zu ihrem Nachteil ist. Im Gegenteil: Wir reinvestieren unsere Überschüsse, was langfristig zu deutlich höheren Gewinnen führt. Wir machen auch unsere Wertschöpfungskette transparent. Das stärkt unsere Reputation, das wiederum zieht die richtigen Investoren an. Denn die erkennen mittlerweile, dass es riskant ist, in Firmen zu investieren, die nicht transparent sind oder die Menschen am anderen Ende der Welt ausbeuten. Diese Unternehmen werden hinweggespült werden.
SPIEGEL: Das bezweifeln wir. Marken wie Primark oder Kik laufen gut. Und die Textilindustrie beharrt darauf, dass die Kontrolle der Lieferkette in einer globalisierten Welt kaum möglich sei.
Polman: Das ist eine Frage des Wollens. Unilever arbeitet weltweit mit 76 000 Zulieferern zusammen, und täglich kommen neue hinzu. Natürlich kann man nicht jeden einzelnen Mitarbeiter und Vertragspartner immer im Blick haben. Auch Unilever ist nicht perfekt, und das werden wir leider auch nie sein. Aber wir können für bessere Standards sorgen.
SPIEGEL: Was passiert mit den Lieferanten, die diese nicht einhalten?
Polman: Wir konfrontieren sie und versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir scheuen uns aber auch nicht davor, als Ultima Ratio Lieferbeziehungen zu beenden. Aber natürlich ist es kompliziert, nehmen Sie den globalen Teemarkt: Manche Teeblätter können Sie überhaupt nicht zurückverfolgen. Deshalb versuchen wir, hier grundsätzlich etwas zu ändern. In Indien und Kenia arbeiten wir mit lokalen NGOs und den Regierungen zusammen. Wir investieren bei Lipton ganz bewusst in unsere eigenen Teeplantagen, um zu zeigen, dass man eine profitable Plantage betreiben und gleichzeitig gerechte Lohn- und Lebensstandards schaffen kann. Jeder Arbeiter hat dort ein anständiges Haus, Zugang zu Toiletten und Elektrizität. Auf unserer Teeplantage in Kenia leben und arbeiten rund 90 000 Menschen. Dort haben wir die besten Schulen des Landes, sechs Krankenstationen, 50 Prozent unserer Vorarbeiter sind Frauen. Den Leuten geht es gut. Und Lipton geht es daher auch gut.
SPIEGEL: So einfach ist das also? Warum folgen dann so wenige Ihrem Beispiel?
Polman: Ich sage nicht, dass es einfach ist. Wir hatten beispielsweise in Kenia Probleme, unter anderem mit sexueller Belästigung. Aber wenn man etwas verändern will, dann findet man einen Weg. Viele haben Angst vor dieser Reise, auch weil sie Kritik fürchten von Leuten wie Ihnen. Ein CEO ist heute durchschnittlich fünf Jahre im Amt, das ist nicht gerade ideal, um langfristige Veränderungen anzustoßen. Wenn man sich traut, die großen Dinge anzupacken, macht man sich als Führungsperson und als Unternehmen angreifbar. Unter anderem, weil durch das Internet alles sehr schnell transparent wird.
SPIEGEL: Das bekamen Sie im vergangenen Jahr selbst zu spüren: In Südindien kämpften ehemalige Unilever-Mitarbeiter 15 Jahre lang für eine Entschädigung, weil sie in einer Thermometerfabrik gesundheitliche Schäden davongetragen hatten. Aber erst als das Video einer jungen Rapperin im Netz kursierte und Unilevers Ruf auf dem Spiel stand, wurde man sich einig. Warum hat es so lange gedauert, bis Sie gehandelt haben?
Polman: Das Video hat nicht viel zu dieser Einigung beigetragen, auch wenn das jetzt aus Ihrer Perspektive vielleicht so aussieht. Das war ein komplizierter Fall, bei dem auch die Aktivisten vor Ort dazu beitrugen, dass es keine schnelle Lösung gegeben hat. Das ist schade, und das wollen diese Helfer natürlich nicht hören, weil sie es eigentlich gut meinen.
SPIEGEL: Verfluchen Sie manchmal die Macht, die das Internet Ihren Kunden schenkt?
Polman: Ohne das Internet gäbe es viel weniger Bewusstsein für die Probleme dieses Planeten. Und als Unternehmen profitieren wir ja auch davon, dass wir über die sozialen Netzwerke heute wesentlich schneller erfahren, was unsere Kunden umtreibt, was sie stört oder was sie sich wünschen. Leider werden Diskussionen im Netz oft sehr emotional und verkürzt geführt. Man kann komplexen Zusammenhängen eben oft nicht auf 140 Zeichen gerecht werden.
SPIEGEL: Aber Sie können es als Konzern auch für sich nutzen.
Polman: Natürlich! Wir stellen eine Transparenz her, die es so vorher nicht gab. Wir haben zum Beispiel unseren Nachhaltigkeitsplan und unsere 60 Ziele veröffentlicht und berichten fortlaufend über die Fortschritte. Wir haben Webcams auf Farmen installiert. Unsere Kunden können verfolgen, was dort passiert – viele schätzen das.
SPIEGEL: Aber am Ende kaufen die Leute nicht den Kartoffelbrei, bei dem sie gesehen haben, wie der Bauer die Kartoffeln erntet. Sondern den, der gerade im Angebot ist.
Polman: Dieses Verhalten ändert sich gerade. In den USA etwa gehen 80 Prozent des Wachstums im Lebensmittelsektor auf Produkte zurück, die nachhaltig, fair gehandelt oder bio sind.
SPIEGEL: Aber der deutsche Kunde schaut immer noch zuerst auf den Preis. Vielleicht sind die Verbraucher noch nicht so weit, den Unilever-Weg mitzugehen.
Polman: Natürlich spielt der Preis, aber auch der Geschmack eine wichtige Rolle. Aber wenn man diese Hürden genommen hat, dann schauen die Verbraucher genauer hin. Ein Marktleiter in einem Hamburger Supermarkt erzählte mir, dass bei ihm derzeit vor allem die regionalen Produkte boomen – obwohl diese teurer sind! Das gilt auch für Textilien: Die Zeit, in der die Kunden Billig-T-Shirts cool fanden, ist spätestens seit dem Einsturz von Rana Plaza vorbei.
SPIEGEL: Bei dem Einsturz der Textilfabrik in Bangladesch starben vor drei Jahren mehr als 1000 Arbeiter, mehr als 2000 wurden verletzt. Die Umsätze mit Billigklamotten sind allerdings nicht eingebrochen.
Polman: Deswegen reden wir ja darüber. Die Leute müssen wissen, welche Entscheidung sie mit ihrem Einkauf treffen. Bei unseren Aktionärstreffen ging es früher nur um die harten Zahlen. Heute wird am längsten über unser "corporate responsible behaviour" diskutiert, also wie wir uns als Unternehmen verhalten. Die Investoren haben Macht in der Wirtschaft. Aber bei Konsumgütern haben die Verbraucher einen noch größeren Einfluss – und den sollten sie bewusst nutzen.
SPIEGEL: Blöd nur, wenn der Kunde da einfach nicht mitspielt: zum Beispiel bei Ihren kleinen, komprimierten Deosprays. Da haben Sie eine teure Innovation lanciert, die Ressourcen sparen und Müll vermeiden soll. Aber der Kunde kauft die kleineren Dosen einfach nicht. Die Konkurrenz macht sich sogar über Sie lustig.
Polman: Wir brauchen eben einen langen Atem. Die Kunden müssen sich erst an etwas Neues gewöhnen und das Produkt verstehen. Wir haben in diesem Fall sogar unsere Technologie offengelegt und das Patent freigegeben, damit möglichst viele Unternehmen diesem Beispiel folgen und die ökologischen Einspareffekte noch größer werden. Wir glauben an diese Technologie.
SPIEGEL: Ihr Ziel ist es, dass jedes neue Unilever-Produkt nachhaltig sein soll. Was darf man sich darunter vorstellen?
Polman: Wir jagen alles, also jede Produktinnovation, durch einen grünen beziehungsweise Nachhaltigkeitsfilter. Wir stellen immer die gleichen Fragen: Hat das Produkt eine bessere Umweltbilanz als vergleichbare Produkte? Ist es gesünder? Erfüllt es unsere Wasser- und CO2-Ziele? Wie sieht das bei der Verpackung aus? In Deutschland bieten wir beispielsweise für eine Vielzahl unserer Duschgels Nachfüllbeutel an. All das ergibt für uns auch wirtschaftlich Sinn: Wir sind in den letzten acht Jahren deutlich stärker gewachsen als der Markt.
SPIEGEL: Das meiste Wachstum kommt aber aus Asien oder Südamerika.
Polman: Ich bin auch mit dem Europa-Geschäft zufrieden. Wir wachsen zwar nicht überall und nicht in allen Sparten, aber 2015 hatten wir zum Beispiel einen Rekordumsatz bei Langnese ...
SPIEGEL: ... was vor allem am guten Wetter lag!
Polman: Natürlich, aber auch daran, dass wir bei Eiscreme ebenfalls Neues ausprobieren. Angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa haben wir in Italien und Spanien zum Beispiel ein Programm gestartet, das junge Leute als mobile Eisverkäufer schult und ihnen so immerhin einen saisonalen Job vermittelt.
SPIEGEL: Ihr Engagement in allen Ehren. Aber wann gab es zuletzt eine wirkliche Innovation auf dem Eiscrememarkt? Und führen Sie jetzt bitte nicht Magnum an ...
Polman: Das ist in der Tat in den Achtzigerjahren entstanden. Aber sehen Sie: Bei den Körperpflegeprodukten ist unser Umsatz in den letzten acht Jahren von 12 auf 20 Milliarden Euro gestiegen. Unsere Sparte ist heute größer als Estée Lauder und Beiersdorf zusammen – und das liegt an unseren Innovationen in diesem Bereich. Nehmen Sie zum Beispiel die neue Dove-Pflegeserie für Männer.
SPIEGEL: Aber können diese Entwicklungen die Zukunft eines Riesenkonzerns wie Unilever sichern?
Polman: Es kommt darauf an, wie Sie Innovation definieren.
SPIEGEL: Wie definieren Sie Innovation?
Polman: Die nächsten großen Veränderungen werden sich auf die Wertschöpfungskette beziehen. Da wird es um weit mehr gehen als um die Neugestaltung eines Etiketts. Im Teegeschäft wird das nicht bedeuten, dass Sie "Earl Grey" plötzlich rückwärts buchstabieren, sondern dass Sie künftig bei jeder Tasse genau wissen, von welchem Busch dieser Tee stammt und wie die Leute behandelt wurden, die diese Blätter für Sie gepflückt haben.
SPIEGEL: Herr Polman, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.