Italien Sanft und entschlossen
Wenn Virginia Raggi wirklich Wichtiges sagen will, fixiert sie ihr Gegenüber mit festem Blick aus tiefbraunen Augen. Politik, sagt die Frau, die antritt, künftig Rom zu regieren, sei im Grunde nicht ihr Geschäft. "Wir alle hier sind normale Bürger – aber solche, die es satthaben, an der Nase herumgeführt zu werden."
"Wir", das sind die Frauen und Männer der Fünfsternebewegung (M5S), die sich an diesem regnerischen Nachmittag auf einer Piazza im Osten Roms vorstellen. Und sie, Virginia Raggi, ist die Spitzenkandidatin. Kurz vor der ersten Runde der Bürgermeisterwahlen liegt sie in allen Umfragen vorn. Raggi wäre die erste Frau in der mehrtausendjährigen Geschichte Roms, die den Kapitolshügel erobert.
Italiens Hauptstadt ist hoch verschuldet, von Korruptionsskandalen erschüttert und laut einer auf EU-Daten gestützten Studie die dreckigste Metropole Europas. Die Kandidatin, gebürtige Römerin, kennt die Probleme. Woher nimmt sie den Optimismus, es besser machen zu können? "Ich bin nicht optimistisch, ich bin entschlossen", sagt Raggi kühl.
Auf den ersten Blick gleicht der Kampf ums Rathaus von Rom einem ungleichen Duell. Denn die schöne, zierliche Raggi, 37 Jahre alt, steht einem eingeschworenen Clan Altvorderer gegenüber: den Meinungsführern und Meinungsmachern der Hauptstadt, Politveteranen, Wirtschaftsbossen, Leitartiklern. Sie alle sehen mit Sorge, wie diese Frau mächtigen Lobbys den Krieg erklärt und ankündigt, mit bisherigen Gewohnheiten brechen zu wollen, sobald sie erst einmal Bürgermeisterin ist.
Die Wähler finden diese Vorstellung weniger abschreckend. Bis hinaus auf die Straße reicht an einem nasskalten Mai-Abend die Menschenschlange vor dem Eingang zum Millennium Pub im Südosten Roms. Drinnen gibt es Bruschetta und Pizza für 20 Euro – fast die Hälfte davon geht als Spende an die Protestbewegung M5S. Die Anti-Establishment-Politiker unter Führung des Komikers Beppe Grillo lehnen staatliche Parteienfinanzierung zwar ab; aber irgendwie müssen auch sie sich finanzieren. Und so organisieren sie Abende unter dem doppeldeutigen Motto "Il sindaco che ti serve" – übersetzt: "Ein Bürgermeister, der dir nützt" oder: "der dich bedient". Weshalb die Markenrechts- und Patentanwältin Virginia Raggi nun im gelben T-Shirt Pizza Margherita serviert.
Politikverdrossenheit in Italien? Nicht dort, wo Raggi auftritt: Beifallsstürme, "Grande Virginia"-Rufe, Erinnerungsfotos. Noch vor Monaten war die verheiratete Mutter eines sechsjährigen Sohns nicht einmal innerhalb des M5S wirklich bekannt. Drei Jahre Erfahrung im Stadtparlament – mehr hat sie nicht vorzuweisen. Inzwischen aber steht sie ohne erkennbare Scheu auf großen Bühnen, predigt radikalen Wandel und lässt sich dafür feiern.
"Raggi X" – Italienisch für: Röntgenstrahlen –, so überschrieb das Magazin "Espresso" die Mission der M5S-Kandidatin und ihren Anspruch: zu durchleuchten, was tief im Inneren der von Korruption und Misswirtschaft gezeichneten Hauptstadt vorgeht. Rom ist ins Gerede gekommen. Nicht erst, aber verstärkt durch den unter dem Schlagwort "Mafia Capitale" berühmten, seit Herbst 2015 laufenden Prozess gegen Dutzende Beschuldigte eines kriminellen Netzwerks. Politiker des linken wie des rechten Lagers zählen dazu, Beamte und Unterweltgrößen. Wechselseitig schanzten sie sich jahrelang öffentliche Gelder im Millionenmaßstab zu.
Seit der letzte Bürgermeister wegen angeblichen Spesenbetrugs zurücktrat, wird die Hauptstadt von einem staatlich bestellten Zwangsverwalter regiert. Unter den Metropolen Europas liegt Rom, EU-Angaben zufolge, bei der Lebensqualität an hinterster Stelle. Und während die Stadt unverändert Zehntausende Wohnungen zu Spottpreisen an Auserwählte vermietet, rätselt das Wahlvolk, ob der Schuldenstand zwölf Milliarden Euro beträgt oder mehr.
Wo also anfangen mit den Aufräumarbeiten in der "zynischsten und zornigsten Stadt Italiens" ("Espresso"), Signora Raggi? "Die wahre Revolution für Rom wäre Normalität", sagt die Kandidatin, ohne zu zögern. Und das ist wie vieles, was sie sagt in diesen Tagen, so banal wie treffend.
Raggi selbst lebt Normalität. Sie steht mit ihrem winzigen Fiat im Stau wie alle anderen, radelt auf schlaglochübersäten Straßen, quetscht sich in U-Bahn-Waggons. "Mobilität, Müllbeseitigung, mehr Transparenz", das habe Vorrang, sagt die Kandidatin bei einem Gespräch im Café. Sie kann auch konkreter werden: Ob es um marode Asphaltbeläge, Müllmafia, Bilanzbetrug geht – Raggi ist sachkundig, schlagfertig und hat keine Angst vor unbequemen Antworten.
Die Fünfsternebewegung, der sie angehört, steht für eine der ungewöhnlichsten politischen Erfolgsgeschichten in Nachkriegseuropa. Das erste Kapitel dazu schrieb, vor gut sechs Jahren, Beppe Grillo, Komiker und wortgewaltiger Politberserker. Unter seiner Führung und mit dem öffentlichkeitsscheuen Internetguru Gianroberto Casaleggio im Hintergrund stiegen die "Grillini" schon 2013 zur stärksten Einzelpartei in Italiens Parlament auf.
Der Ideologe Casaleggio skizzierte die ideale Zukunft zuletzt als ein Cyber-Utopistan, als eine Welt ohne Büchereien, Tabakläden, Metzgereien, bevölkert von netzaffinen, selbstbestimmten Bürgern. Casaleggio starb am 12. April, sein Vermächtnis aber lebt fort. Beim M5S gelten strenge Regeln: Abgeordnete müssen die Hälfte ihrer Diäten abtreten; nach zwei Amtsperioden ist für sie Schluss. Den politischen Kurs der Bewegung bestimmt, zumindest offiziell, die Basis per Onlineabstimmung. Wer mit dem Verhaltenskodex der Bewegung oder der Justiz in Konflikt kommt, wird ausgeschlossen.
Das letzte Wort hat der in Genua lebende Grillo mit seinem Stab. Ohnehin darf in dieser Partei, die keine Partei sein mag, nur er tun und sagen, was er will. Als Grillo vor Kurzem äußerte, er warte nur darauf, wann der neu gewählte muslimische Bürgermeister von London sich "in die Luft sprengt", schwieg der Rest der Bewegung.
Und Virginia Raggi? Sie beruft sich auf antiautoritäre Vorbilder wie Mahatma Gandhi oder Aung San Suu Kyi – musste aber als Kandidatin einen M5S-Verhaltenskatalog unterschreiben. Darin sicherte sie zu, dem Ansehen der Bewegung keinen "schweren Schaden" zuzufügen. Andernfalls würde zusätzlich zum Parteiausschluss eine Strafgebühr von "mindestens 150 000 Euro" fällig – zu zahlen von ihr selbst. Das klingt, als drohte Italiens stolze Hauptstadt künftig von einer Bürgermeisterin regiert zu werden, die nur die Handpuppe eines Genueser Komikers ist.
Alessandro Di Battista, Mitglied der feschen, als "Golden Boys" bekannten parlamentarischen Führungstruppe der Bewegung, hält die wiederkehrenden Vorwürfe, beim M5S werde Stalinismus im Gewand der Basisdemokratie betrieben, für politisch motiviert. Der Totalitarismusverdacht werde durch die Altparteien seit Jahren geschürt, um von den Forderungen des M5S nach radikalem Systemwandel abzulenken, sagt Di Battista. Er lobt Raggis Mut und sieht die Bürgermeisterwahl als Meilenstein für seine Bewegung: "Wenn Virginia gewinnt und danach Rom in den Griff kriegt, öffnet sie uns den Weg, um später das ganze Land zu regieren." Die Bürger allerdings müssten die Wende auch mittragen: "Wer nur Raggi wählen und dann wieder die Hände in den Schoß legen will, sollte lieber gleich für den Kandidaten von Renzi stimmen."
Ein Abend im Mai, in einem Randbezirk von Rom: Virginia Raggi stellt sich auf der Piazza San Giovanni Bosco dem Wahlvolk, gemeinsam mit 48 anderen M5S-Politikern. Frauen aus sozialen Berufen sind darunter, Männer aus Bürgerbewegungen. Leute mit Feuer im Bauch, die den paralysierten römischen Politbetrieb verändern wollen.
Der Ort der Kundgebung ist bewusst gewählt. Genau hier fand im vergangenen August ein Spektakel statt, das viele Römer bis heute empört und für alles steht, was Raggi verachtet. Der auf Schutzgelderpressung spezialisierte Clan der Familie Casamonica versammelte sich da mit Wissen der römischen Behörden zum Begräbnis von Clanchef Vittorio. Während rundum der Verkehr zusammenbrach, glitt eine Kutsche mit dem Sarg durch die Menge, vom Himmel regnete es Rosenblätter, und zu Posaunentönen erklang die Titelmelodie aus Francis Ford Coppolas Film "Der Pate". Auf einem Spruchband zu Ehren des Mafiabosses stand: "Rom hast du erobert, nun ist das Paradies dran."
Dieser Ort, sagt Raggi in einer Wahlkampfpause am Rande der Piazza, sei ein "Symbol" für das Multiorganversagen in ihrer Stadt – es fehle in Rom auf allen Ebenen an Respekt vor den Regeln: "Wir brauchen deshalb auch keine neuen Vorschriften – es reicht völlig, die bestehenden Normen anzuwenden."
Und dafür will sie, einen Sieg in der Stichwahl am 19. Juni vorausgesetzt, künftig selbst sorgen. Allen Anfeindungen hat sie bisher getrotzt: Ein im Lebenslauf unterschlagenes Praktikum beim Vertrauensanwalt Silvio Berlusconis wurde ihr vorgeworfen, ebenso eine Ehekrise, die sie dann verspätet und unter Druck einräumte. Ihr Ziel verliert sie bei alldem nicht aus den Augen: "Ich weiß", sagt sie sanft, aber entschlossen, "wir sind auf dem richtigen Weg."
Ihre Gegner im Kampf um die Macht sind schlagbar: Der Kandidat der Sozialdemokraten hat sich als Knecht des Premiers Matteo Renzi karikiert; der von Berlusconi unterstützte Bewerber kommt aus der korruptionsverseuchten Bauindustrie; und für die Fratelli d'Italia fischt eine EU-Skeptikerin im äußersten rechten Becken.
Raggi, die früher links wählte, wird bei einer Stichwahl auf Stimmen aus dem rechten Lager zählen können. Wo steht sie selbst politisch? "Im Lager des gesunden Menschenverstands", erwidert die Kandidatin. "Wer eine sichere Stadt fordert, muss kein Rechter sein; und wer für funktionierende Schulen kämpft, kein Linker." Lagerdenken, soll das heißen, ist gestrig – nichts für Grillos Leute.
"Eine Stadt, die funktioniert", sagt Raggi, "ist weder rechts noch links."
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