USA Der Mann, der Assad jagt
Darf man Baschar al-Assad töten? "Man darf", sagt Professor David Crane, "unter bestimmten Umständen." Er stellt die Frage einem seiner Studenten während der Vorlesung, und beantwortet sie gleich selbst, ohne erkennbare Emotion.
Crane war einmal Uno-Chefankläger, heute ist er Professor am College of Law der Syracuse University im Bundesstaat New York. Crane ist Jurist. Er sieht im syrischen Präsidenten Assad nicht das Monster. Er sieht in Assad einen Fall. Und diesen Fall will er vor Gericht bringen.
Syracuse ist eine Stadt mit 145 000 Einwohnern im sogenannten Rust Belt, einer Industriegegend gut vier Autostunden nordwestlich von New York City. Die Universität von Syracuse genießt einen guten Ruf, besonders die Rechtswissenschaften.
An dieser Fakultät hat Crane eine Art studentische Staatsanwaltschaft gegründet, kurz nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs. Zusammen mit ihrem Professor bereiten sich die Studierenden hier für den Tag vor, an dem die Kriegsverbrechen hoffentlich vor einem internationalen Gericht verhandelt werden. Sie nennen es das Syrian Accountability Project.
Crane ist eine unauffällige Erscheinung, helles Hemd, graue Wollhose, dunkle Brille. Aber er blüht auf, wenn er über das spricht, was ihn antreibt: die Chance, sich mit der Macht des Gesetzes dem Unfassbaren entgegenzustemmen.
Dann wird aus dem freundlichen Professor ein scharfer Advokat, der keinen noch so ungemütlichen Ort auf der Welt scheut. Crane war es, der 2003 einen der mächtigsten Diktatoren Afrikas anklagte, Charles Taylor, in Freetown, Sierra Leone. 2012 wurde Taylor zu 50 Jahren Haft verurteilt. Der Expräsident Liberias wird für den Tod von mehr als 100 000 Menschen verantwortlich gemacht, heute sitzt er in England im Gefängnis. Er wird es wohl nie wieder verlassen.
Crane und seine Studierenden hoffen, dass die Vereinten Nationen oder das Nachkriegssyrien eines Tages beschließen, ein Sondertribunal für die Verbrecher des Krieges zu gründen. Als ob es dieses Gericht schon gäbe, tragen die Mitarbeiter des Projekts Fakten zusammen. Sie vergleichen weltweit Quellen, sie prüfen Augenzeugenberichte, sind mit Menschenrechtsorganisationen in Kontakt. Sie durchforsten Regierungsreports, Pressemeldungen, so lückenlos und umfassend, wie es möglich ist. Sie führen exakt Buch über diesen Krieg, über jeden Tag. Entstanden ist dabei die weltweit umfangreichste Matrix der Kriegsverbrechen in Syrien, eine Tabelle des Grauens. Regelmäßig sendet Crane aktualisierte Fassungen an die Uno und an den Internationalen Gerichtshof.
Die jungen Menschen, die sich dafür die Nächte um die Ohren schlagen, sind Promotionsstudenten wie Molly White, 24, aus Michigan. Sie war schon als Kind fasziniert von Serienkillern und der Fragilität der Zivilisation. Am Syrian Accountability Project reizt sie, nicht für den Abfalleimer zu arbeiten, sondern etwas zu machen, "das die Welt verändern wird".
Die Datenbank umfasst inzwischen 17 000 Seiten. Sie sollte die Täter das Fürchten lehren, vor allem das Regime, das am verheerendsten wütet. Bis Dezember 2015 registrierten die Juristen 12 252 "Ereignisse", fast zwei Drittel davon wurden eindeutig von Assads Truppen verübt. Aber auch die Kommandeure des "Islamischen Staats" (IS), Mitglieder der Freien Syrischen Armee (FSA) und andere Gewalttäter sind aufgeführt. Jede fünfte Tat der Opposition ist allerdings nicht eindeutig zuzuordnen, die Rebellen und der IS tragen weder Uniformen noch Abzeichen.
"Sicher ist, dass keine Kriegspartei unschuldig ist", sagt Projektleiter Peter Levrant, 29. Im internationalen Recht geht es nicht so sehr um die Anzahl der Verluste, um die Größe des Schadens, um die Zahl der Getöteten – es geht darum, dass ein Kriegsverbrechen stattgefunden hat.
Levrant hält bereits die ersten Fassungen von Anklageschriften in Händen. Die von Baschar al-Assad ist 20 Seiten lang, sie lautet auf "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" und "Kriegsverbrechen".
Minutiös weisen die Studenten darin nach, wie Assads Kommandeur der Präsidentengarde in Damaskus, Suheil Salman Hassan, am 15. März 2011 den Befehl gegeben hat, auf unbewaffnete Demonstranten zu schießen. Und wie der Oberbefehlshaber, Präsident Assad, bis heute systematisch Angriffe gegen die Zivilbevölkerung führt, aufgeschlüsselt nach Tagen, Dörfern, Städten, Regierungsbezirken.
Ein eigenes Kapitel widmen die Autoren den mindestens 130 000 Verschwundenen und den Foltermethoden von Assads Geheimdiensten. Sie reichen von Knochenbrüchen bis zum Verbrennen bei lebendigem Leib. Als Blaupause für Assads Anklage dient den Studenten der Schriftsatz gegen Liberias Expräsidenten Taylor.
Cranes Büro im dritten Stock der Universität ist klein, eichenfarbene Regale, einfacher Tisch, keine Pflanze. Es gibt keine Insignien von Ruhm oder den Erfolgen, die er in seinem Berufsleben gefeiert hat. In Syracuse kennt ihn allerdings jeder, die Bedienung im Café, der Fahrer vom Hotel. In der kleinen, internationalen Branche der Kriegsverbrecherjäger eilt ihm ohnehin ein Ruf voraus.
Die Berufung zum Chefankläger für das Sondergericht der Vereinten Nationen in Sierra Leone bedeutet höchste Ehre für einen Juristen. Als Taylor 2012 im sogenannten Blutdiamantenprozess wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt wurde, war das ein guter Tag für Crane.
Vor seinem Einsatz in Westafrika hatte Crane 30 Jahre lang für das US-Verteidigungsministerium gearbeitet, als Rechtsberater. Zuletzt besetzte er eine ziemlich heikle Stelle als oberster Prüfer der Geheimdienste. Spektakulär waren 2014 seine Vorträge vor dem Weltsicherheitsrat und der EU-Kommission im Fall "Caesar".
Caesar ist das Pseudonym eines Militärfotografen aus Syrien. Monatelang schmuggelte er Beweise aus seiner Behörde, Bilder von zu Tode gehungerten Gefangenen mit Folterspuren, auf USB-Sticks, im Schuh. Es geht um 55 000 Fotos von 11 000 Leichen, die belegen, wie in Assads Folterverliesen "in industriellem Stil getötet" wird. Hätte das Regime Caesar erwischt, er wäre der Nächste gewesen, der tot fotografiert worden wäre (SPIEGEL 10/2016).
Das Material von Caesar war zunächst der Regierung in Katar zugespielt worden, von syrischen Rebellen. Die britische Anwaltskanzlei Cater-Ruck heuerte im Auftrag der katarischen Regierung Crane an. Als unabhängiger Sachverständiger sollte er neben zwei weiteren Rechtsexperten herausfinden, ob die Bilder authentisch sind.
"Die Bilder sind hundertprozentig echt", sagt Crane, so wie der Zeuge Caesar echt sei. Vier Tage habe er mit ihm zusammengesessen und geredet. Caesar wollte kein Geld. Er habe es nicht mehr ausgehalten, jeden Tag mehr als 50 Folterleichen zu fotografieren, erzählte er. Als eines Tages einer seiner Freunde unter den Toten war, beschloss er zu fliehen. Heute lebt Caesar irgendwo in Europa, mit neuer Identität.
Crane ist davon überzeugt, dass Caesars Datei nur einen kleinen Teil der Wahrheit zeigt: Die Bilder stammten aus drei Foltereinrichtungen in Damaskus, landesweit gebe es aber etwa fünfzig.
In der aktuellen politischen Konstellation hat Cranes Plan keine Chancen. Russland und China stimmten als Verbündete Syriens im Sicherheitsrat der Uno schon mehrfach gegen ein Kriegsverbrechertribunal. Im März immerhin beschloss das US-Repräsentantenhaus, die Uno zu einem Sondertribunal zu drängen. Der republikanische Abgeordnete Chris Smith schlug sogar vor, Cranes Datensatz als Grundlage zu nutzen.
Fünf fertige Klagen haben die Studenten Levrant und White mit ihrem Professor bisher erarbeitet. Jetzt wollen sie sich an Anklageschriften gegen Kommandeure des IS, der Nusra-Front und der Freien Syrischen Armee machen.
"Wir haben keine politische Agenda", sagt Projektleiter Levrant. Falls es zur Anklage kommt, könne man wohl nicht alle bestrafen, zumindest aber die Hauptschuldigen, die höchsten Kommandeure aller Kampfgruppen, die sich an Kriegsverbrechen beteiligt hätten.
Crane lebt eigentlich längst ein beschauliches Rentnerleben in North Carolina. Er wandert in den Weinbergen, kümmert sich um die Enkel. Einmal wöchentlich fliegt er für zwei Tage nach Syracuse. Vor über 40 Jahren hat er hier selbst studiert, es macht ihm Freude, Staatsanwälten von morgen beizubringen, wie sie Kriegsverbrecher jagen.
Als Sohn eines US-Offiziers hat er einige Zeit in Süddeutschland gelebt. 1962 besuchte er mit der Familie das Konzentrationslager Dachau. "Ich konnte den Horror noch immer riechen", sagt er. Das habe ihn nicht losgelassen und am Ende sogar veranlasst, Jura zu studieren.
Crane war damals stolz darauf, wie die Amerikaner in Europa die Freiheit verteidigten. Heute findet er es oft schwierig, stolz zu sein auf sein Land. Er war noch im Verteidigungsministerium, als dort 2002 der Irakkrieg vorbereitet wurde, "nur aus einem Grund: Öl", sagt Crane.
Und dann die Sache mit Charles Taylor. Als Leitender Staatsanwalt wunderte sich Crane damals, warum er trotz exzellenter Beziehungen zu den US-Geheimdiensten keinerlei Unterstützung erhielt, seine Ermittlungen wurden sogar behindert. Es stellte sich heraus, dass Taylor seit Jahrzehnten für den Militärgeheimdienst DIA und die CIA arbeitete; die wollten die Zusammenarbeit gern fortsetzen.
Am meisten beschämt Crane, dass sein Land nicht dem Statut des Internationalen Strafgerichtshofs beigetreten ist. Er zitiert Expräsident George W. Bush, der sagte, er würde in den Niederlanden einmarschieren, wenn sich dort auch nur ein US-Soldat vor Gericht verantworten müsse.
Es sei schon erstaunlich, sagt Crane, dass die größten Kriegsverbrecher der Welt, die USA, China und Russland, selbst nie zur Verantwortung gezogen würden, weil sie dies durch ihr Vetorecht im Weltsicherheitsrat zu verhindern wüssten.
Von der Kriegsverbrechen-Matrix in Syracuse haben die wenigsten bisher Notiz genommen. Aber Crane hat Erfahrung mit diesen Prozessen.
Der Pfad zur Gerechtigkeit sei lang und voller Rückschläge, aber er könne gelingen, sagt er. Er hat es ja schon einmal vorgemacht.