Ukraine/Russland Insel der Sehnsucht
Einen Helden wie ihn braucht der Kreml gerade in diesen Zeiten: Sergej Karjakin, 26 Jahre alt, Schachgroßmeister, auf der Krim geboren – und trotzdem Putin-Fan. Karjakin darf demnächst für Russland den norwegischen Weltmeister Magnus Carlsen herausfordern – ein Duell fast wie der legendäre Zweikampf Spasski gegen Fischer, als sich Ost und West im Kalten Krieg bekämpften. Als es symbolisch auch um die Überlegenheit eines politischen Systems ging.
Nun also wieder Ost gegen West – diesmal unter den besonderen Vorzeichen der Krimkrise. Schon 2009 entschloss Karjakin sich, für Russlands Nationalmannschaft zu spielen. Als Wladimir Putin vor gut zwei Jahren die Krim annektierte, bejubelte er die Eroberung. Und zeigt sich bis heute in T-Shirts mit Putins Konterfei.
Bei einem Referendum am 16. März 2014 stimmten die Krimbürger angeblich mit über 95 Prozent dem Anschluss zu. Weder die EU noch die USA schätzten die Abstimmung als fair und frei ein, für sie ist und bleibt die Annexion völkerrechtswidrig, das Territorium Teil der Ukraine.
Wer heute die russische Presse verfolgt, muss glauben, dass auf der Krim inzwischen paradiesische Zustände herrschen: glückliche Menschen, die dankbar sind für die "Befreiung" vom ukrainischen Joch. Wer die amerikanischen und westeuropäischen Medien liest, bekommt oft das Gegenteil erzählt: überall Verzweifelte, die sich nach den Zeiten sehnen, in denen Kiew auf der Halbinsel das Sagen hatte.
Wo liegt die Wahrheit? Warum ist die Krim, kleiner als Brandenburg, knapp zwei Millionen Einwohner, für einen Großteil der Russen so bedeutend? So wichtig, dass sie trotz der Nachteile, die die Annexion für sie brachte, ihren Präsidenten für seinen militärischen Blitzkrieg loben, Putin höchste Popularitätswerte bescheren? Und wie denken die Menschen auf der Krim?
JALTA: Die schwierige Schöne
In der Luft ein mediterraner Duft, Zitronenbäume und Rosmarin, die Leichtigkeit des Seins. Hügel wie im Schwarzwald, Palmen wie an der Côte d'Azur und dazu ein tiefblaues Meer. Wer die Uferpromenade entlangspaziert, wer in den zu Hotels umgebauten Jugendstilvillen zu Gast ist, der weiß, warum Baden-Baden und Nizza Schwesterstädte von Jalta sind. Hier weht der Geist verlorener Zeiten: mal kitschig mondän, mal protzig proletarisch, immer einen Hauch sentimental. Jalta ist der Sehnsuchtsort im Sehnsuchtsland der Russen. Die Krim gilt seit Ende des 18. Jahrhunderts, seit Katharina die Große sie in ihr Reich einverleibte, als das Arkadien einer ganzen Nation. Die großen Dichter der Nation von Puschkin über Tschechow bis Brodski priesen die Krim wie eine Geliebte. Eine selbstverständlich ihnen und ihren Landsleuten zustehende Geliebte.
Jetzt in der Vorsaison putzt sich Jalta wieder heraus, in der Fünfsternevilla Elena und dem Traditionshotel Oreanda werden Risse in den Wänden gekittet, Fassaden neu gestrichen, die Pools gereinigt. Von zwei schwierigen Geschäftsjahren erzählen die Tourismusmanager der Stadt, die Buchungen sind bis zu 50 Prozent zurückgegangen. 2016 soll besser werden. Moskau subventioniert Flüge auf die Krim, und da die Türkei und Ägypten für Russen aus politischen Gründen als Reiseziele wegfallen, könnte es klappen.
Aber internationale Gäste werden weiterhin wegbleiben: Wegen der Sanktionen dürfen deren Fluglinien die Krim nicht anfliegen, westliche Kreditkarten sind gesperrt. Den britischen "Street Store" an Jaltas Uferpromenade hat die Bolschewik-Kette übernommen. Und es gibt keine Big Macs mehr: McDonald's, das einst in Jalta direkt hinter dem Lenin-Denkmal eröffnet hatte, musste schließen. Auch der Zoo war lange Zeit geschlossen – Besitzer Oleg Subkow, 46, hatte sich mit der neuen politischen Führung überworfen. Dabei war der Russe, der es in der Ukraine zum millionenschweren Unternehmer gebracht hatte, vor zwei Jahren von der "Heimholung" der Krim so begeistert, so euphorisch, dass er zwei neugeborene Tigerbabys "Referendum" und "Russischer Frühling" taufte.
Subkow sitzt in seinem Büro zwischen Raubkatzen aus Marmor und mahagonigeschnitzten Krokodilen und erzählt von seiner Enttäuschung über die neuen Herren: "Sie haben mich mit immer neuen Vorschriften traktiert, mir meine Eigentumsrechte streitig gemacht und mir im Winter einen zusätzlichen Generator für die Heizung verweigert." Offensichtlich erwarteten sie von ihm private finanzielle Zuwendungen. "Doch mein Prinzip ist: Ich zahle keine Bestechungsgelder", sagt Subkow. Die kleinen Tiger Referendum und Russischer Frühling seien ihm unter den Händen weggestorben.
In einem bizarren Rechtsstreit klagt ihn die Staatsmacht wegen Vernachlässigung der Tiere an. Er schloss den Zoo, zog vor Gericht. Dann war er mit den vier Elefanten, den Giraffen und den Hyänen Nacht für Nacht allein auf dem Gelände, das im Grünen vor den Toren Jaltas liegt.
Jalta war einmal ein Ort der großen Politik: Im Liwadija-Palast, der Sommerresidenz von Zar Nikolai II., haben Stalin, Roosevelt und Churchill im Februar 1945 die Welt aufgeteilt. KP-Generalsekretär Leonid Breschnew und viele seiner Nachfolger bis hin zu Michail Gorbatschow verbrachten in Jalta regelmäßig ihren Urlaub.
Der in Jalta geborene Historiker Igor Jenojew sagt: "Wo Jalta mit seinem Zweidrittelanteil von Russischstämmigen hingehört, stand ja nie in Zweifel. Auch als KP-Chef Nikita Chruschtschow auf die irre Idee kam, die Krim seiner Heimatrepublik Ukraine zu schenken, dachte niemand an ein Ende der Sowjetunion. Die Tragödie begann erst, als die UdSSR zerfiel, die Ukraine unabhängig wurde." Jenojew hat keine Probleme damit, dass Putin die auch vom Kreml unterschriebene europäische Grenzordnung veränderte. "Null, nada, njet", sagt er. "Es musste so kommen. Weil doch – wie sagen Sie in Deutschland? – zusammenkommt, was zusammengehört."
SEWASTOPOL: Verdammt zum Heldentum
Die Strecke von Jalta Richtung Westen, die Küste entlang, zählt zu den schönsten der Krim. Hier bei Aluschta hat der russische Oligarch Alexander Lebedew schon vor Jahren sein erstes Hotel eingeweiht, hier will er weitere bauen, in ganz großem Stil. "Ich wüsste nicht, warum dies nicht zu einem zweiten Dubai werden könnte."
Der Milliardär gilt unter den großen Wirtschaftsführern in Putins Reich als der Kreml-Kritischste. Die von ihm mitfinanzierte Zeitung "Nowaja Gaseta" hat es gewagt, die Panama Papers auszuwerten, in denen das Umfeld des Präsidenten mit dubiosen Briefkastenfirmen in Zusammenhang gebracht wird. Aber zur Krimannexion hat man von Lebedew kein Wort der Kritik gehört – wie von kaum einem liberalen Oppositionellen. Auch Michail Gorbatschow, dem Westen sonst so zugewandt, fand viel Verständnis für Putins Kurs: "Ich hätte bei der Krim nicht anders gehandelt."
Die Küstenstraße endet in Sewastopol. Wer sich die Stadt der russischen Schwarzmeerflotte als waffenstarrende Militärmetropole vorstellt, erlebt eine angenehme Überraschung. Großzügig angelegte Parkwege führen hinunter zur Artilleriebucht, wo Fischlokale und kleine Cafés um Kunden werben. Ausflugsboote fahren hinaus aufs Meer, nahe heran an die Kriegsschiffe, den Stolz der russischen Flotte.
Erst auf den zweiten Blick präsentiert sich Sewastopol als historische "Heldenstadt", Denkmäler und Museen erinnern an den Krimkrieg, als Engländer, Franzosen und Türken die Verteidiger erst nach elfmonatiger blutiger Belagerung im Jahr 1855 bezwangen. Auf grausame Weise wiederholte sich die heroische Geschichte: Von Oktober 1941 an belagerte Hitler-Deutschland Sewastopol 247 Tage lang. Als die Deutschen nach ihrem blutigen Sieg 1942 wieder abzogen, hinterließen sie eine zerstörte Stadt. Zweimal aufopfernd verteidigt, zweimal niedergebrannt, zweimal wiederaufgebaut – daraus entstand ein Mythos, der bis heute überlebt hat.
Auch in Sewastopol ist nach dem anfänglichen Jubel über die Annexion Ernüchterung eingekehrt. Es gehe nicht voran, sagt Alexej Tschaly, 54, der als millionenschwerer Unternehmer mit glühenden Reden und viel Geld die russlandfreundliche "Revolution" vorangetrieben hatte. Tschaly galt lange als der starke Mann der Stadt, ist als Stadtrat immer noch populär und tut alles, um Investoren nach Sewastopol zu holen. Doch das Sagen hat nun ein anderer, der von Putin eingesetzte Gouverneur Sergej Menjailo, auch ein "Patriot" und Vizechef der Flotte, der sich in den kritischen Stunden im Frühjahr 2014 für Moskau hervorgetan hat.
Auf den Märkten der Heldenstadt beklagen sich die Menschen über die gestiegenen Preise, um weit mehr als die Hälfte sei alles teurer geworden. Niemand beklagt sich über den Kreml, schuld sind laut den Einheimischen nur die örtlichen Autoritäten. Im Bewusstsein der allermeisten Russen, und fast aller Sewastopoler, gehört die Krim psychologisch und geografisch zu Russland. Sie ist Teil ihrer Identität. "Die Krim zu besitzen, das ist der Höhepunkt unserer historischen Mission, der Daseinszweck unserer Kultur", sagt der Moskauer Historiker Andrej Zorin.
BACHTSCHYSSARAJ: Krims Märchen
Die Krim soll seit ewigen Zeiten russisches Land sein? Da muss die Kreml-Geschichtsschreibung viel ausblenden, beispielsweise ein paar Jahrhunderte sowie eine ganze Anzahl Volksgruppen, die hier ihre Spuren hinterließen, und die Rede ist dabei nicht von den Ukrainern.
Die Stadt Bachtschyssaraj, in Hügel gebettet zwischen der Inselhauptstadt Simferopol und Sewastopol, wirkt mit ihrem prächtigen Khanpalast, der Großen Moschee und dem Tränenbrunnen wie ein Traum aus Tausendundeiner Nacht. Die Einwohner sind fast alle Krimtataren, Nachfahren des bis Ende des 18. Jahrhunderts auf der Halbinsel regierenden Khans. Sie stellen etwa zwölf Prozent der Krimbevölkerung – und sind Gegner des Kreml. Die Muslime sehen die Russen überwiegend als Besatzer. Viele boykottieren sie, einige wenige bekämpfen sie im Untergrund. Moskau aber stellt die Minderheit unter Terrorismusverdacht und scheut vor Verschleppung und Folter nicht zurück.
In der Nähe des Palastes erzählt bei türkischem Kaffee und Baklava-Süßigkeiten Elmira Tschijgos von ihrer Familie und schaut immer wieder aufmerksam in alle Richtungen. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Geheimen der Militärpolizei ihr auflauern. Neulich erst kamen sie nachts in ihr Haus, durchwühlten alle Schränke und Schubladen. Ihr Mann Achtjom wurde im Januar 2015 verhaftet, ihm wird "Organisation von Massenunruhen" vorgeworfen. Dabei habe er eine aufgebrachte Menge beruhigt, nicht angestachelt, sagt seine Frau. Sie fürchtet, man werde ihren Mann über Jahre wegsperren – als Vizechef des Medschlis, der parlamentarischen Vertretung der Krimtataren, ist er den neuen Herrschern ein Dorn im Auge.
Der Kreml hat den Medschlis gerade als "extremistisch" verboten. Die Europäische Union verurteilte dieses Verbot als "schweren Angriff auf die Rechte" der Krimtataren, es stelle "eine weitere sehr negative Eskalation der Menschenrechtslage" auf der Halbinsel dar. "Dabei wollen wir nur unsere Kultur bewahren und unserem Glauben nachgehen", sagt Tschijgos, die ihren Mann so oft wie möglich im Gefängnis besucht. Sie ist entschlossen, nicht aufzugeben. Sie ist eine dieser starken Frauen, wie man sie überall auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion trifft. Nur an ihren Augen merkt man Elmira Tschijgos manchmal an, wie erzwungen ihr Lächeln ist.
Wie alle in Bachtschyssaraj kennt sie die Geschichte der Krimtataren – und die macht sie misstrauisch gegenüber russischen Machthabern. Stalin hatte 1944 die gesamte Volksgruppe wegen angeblicher Kollaboration mit den Nazis von der Halbinsel deportieren lassen, Zehntausende starben auf dem Weg nach Zentralasien. Erst nach Gorbatschows Zusagen in Perestroika-Zeiten kehrten viele zurück.
Jetzt ist der Kreml dabei, den Tataren erneut etwas zu unterstellen – moskaufeindlichen Islamismus. Einige der Tataren haben tatsächlich begonnen, die Russen mit Sabotageakten zu bekämpfen: So könnte der Vorwurf zur Prophezeiung werden, die sich selbst erfüllt, und die Gemäßigten aus der parlamentischen Vertretung der Tataren wie Achtjom Tschijgos würden in den Hintergrund gedrängt.
Für die Tataren ist der Sieg der Sängerin Jamala, die für die Ukraine mit einem Lied über die stalinistische Vertreibung ihrer Großeltern von der Krim den Eurovision Song Contest gewann, Triumph und Gefahr zugleich. Denn sie müssen nun fürchten, dass Putin seine Haltung gegenüber der Minderheit verschärft: Russlands Präsident hat den Sieg Jamalas als Demütigung empfunden. Der Vizepräsident der Krim prangerte ein angeblich "antirussisches Komplott" an, kremlnahe Journalisten drohten, zum nächsten ESC-Wettbewerb in Kiew 2017 "mit Panzern vorzufahren".
Und so steht die Krim wieder einmal an einem Scheidepunkt. Nicht Paradies ist sie, nicht Hölle, sondern Fegefeuer. Nicht Verzweiflung prägt das Leben, aber stark gebremste Hoffnung.
Im Osten der Halbinsel lässt Putin bei Kertsch gerade mit Milliardenaufwand eine Brücke von der Krim zum russischen Festland bauen. In zwei Jahren soll sie fertig sein und die Infrastruktur erheblich verbessern. Im Norden stehen sich bei Dschankoj an der ukrainisch-russischen Grenze die Armeen der Russen und Ukrainer in Sichtweite gegenüber. Auf beiden Seiten isst man Borschtsch. Aber nicht mal bei der Zubereitung der traditionellen Rote-Bete-Suppe sind sie sich einig. Mit Knoblauch, sagen manche Ukrainer. Nur mit Lorbeerblättern, sagen manche Russen.
Die russischen Soldaten wiederholen, was ihnen die Propagandasender täglich eintrichtern: Drüben, da regieren die Faschisten, die bekommen die Krim nie mehr zurück. Es sei keine Annexion, sondern eine "Heimholung", durchgeführt, "ohne einen Schuss abzugeben", und dank Volksentscheid "demokratisch legitimiert".
Fürst Grigori Potjomkin hatte 1783 Zarin Katharina II. aufgefordert, die Krim zu annektieren: "Russland braucht ein Paradies." Als die Halbinsel erobert war, schrieb sie ihm zurück. "Landstriche zu besetzen, das ist für uns nie unangenehm. Was wir hassen, ist, sie wieder aufzugeben." Putin hat jetzt überall auf der Krim überlebensgroße Plakate aufhängen lassen – nur drei Worte umrahmen das Gesicht des triumphierend Lächelnden: "Krim. Russisch. Auf ewig."
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SPIEGEL-Gespräch mit dem Perestroika-Philosophen Alexander Zipko über Putins Träume von einer antiwestlichen Zivilisation