Fußball Das Ende des Wirgefühls
Ascona schläft in der Mittagssonne, der Lago Maggiore liegt still, die Menschen auf den Bürgersteigen bewegen sich langsam, die meisten sind alt, und es ist warm. Oliver Bierhoff, der auch in grauen Turnhosen gut angezogen wirkt, sitzt auf der Terrasse eines Fünfsternehotels und bespricht mit dem Kellner irgendetwas auf Italienisch. Der Kellner lächelt, deutet eine Verbeugung an. Bierhoff fährt in seiner kurzen Rede über die Zukunft des deutschen Fußballs fort. Er spricht über seine Ausflüge zu McLaren, GM, nach Palo Alto, zu Google, zu den San Francisco 49ers. Sie hätten SAP ins Boot geholt, sagt er. Big Data. Ihn interessieren die großen Fragen. Zum Beispiel: "Wohin entwickelt sich der Mensch?"
Seit zwölf Jahren gehört Oliver Bierhoff zu einem Team, das sich aufmachte, die Nationalmannschaft in eine neue Zeit zu führen. Bierhoff ist Teammanager, er begleitet die Auswahl thematisch, wenn man so will. Für ihn ist das Nationalteam eine Marke. Seit anderthalb Jahren gibt es "Die Mannschaft". Ein Label, das die Eigenschaften des Teams, das in Rio Weltmeister wurde, beschreiben soll. Deutsch und modern zugleich.
Wie Volkswagen. Das Auto, sagt Bierhoff und lächelt schief.
Er spricht über die unterschiedlichen Weltsichten von jungen und älteren Spielern. Barack Obama habe neulich beschrieben, dass seine jüngere Tochter viel mehr durch die digitale Welt geprägt sei als seine wenig ältere Tochter.
Obama. Am Pool schlappen Müller, Gomez und Hummels vorbei. Bierhoff nippt an seinem Espresso. "Wandel ist die einzige Konstante im Leben", sagt er. Links, wo das Herz schlägt, trägt er den Bundesadler auf der Brust, rechts, genauso groß, den Mercedes-Stern.
Vor ein paar Wochen noch saß der Teammanager auf der Bühne des DFB-Bundestags, der ebenfalls einen Neuanfang markieren sollte, nach dem Skandal um die verschwundenen Millionen, nach dem Rücktritt der alten Führung. Während die neue Führung von Transparenz, Vertrauen und Kontrolle redete, schien Bierhoff allein mit seinem Anzug, seiner Frisur und der Gesichtsfarbe zu sagen: Ich gehöre eigentlich nicht dazu.
"Doch, doch, wir und ich sind natürlich schon Teil des DFB", widerspricht Bierhoff.
Er habe sich ständig im System bewegt, von der Kreisauswahl bis zum Nationalteam. Aber er spüre die Angst der Funktionäre, die Nationalmannschaft zu verlieren. Die Angst, der Graben zwischen den Amateuren und den Profis werde immer größer. Die Angst, der deutsche Fußball verliere seine Seele an Geschäftemacher.
"Wir müssen das tun, wovon wir überzeugt sind, und dürfen uns nicht treiben lassen von der Frage, ob und wie das ankommt. Wir stehen zu unseren Entscheidungen, auch wenn wir damit hier und da polarisieren oder nicht Mainstream sind", sagt Bierhoff.
Ob auch das für den gesamten DFB gilt, ist schwer zu sagen.
Im Mai, als die Bundesligasaison zu Ende geht, brechen der neue DFB-Präsident Reinhard Grindel und sein Stellvertreter Rainer Koch zum Fifa-Kongress nach Mexico City auf. Sie sollen den neuen DFB in der Welt repräsentieren, sehen aber eher aus wie Steuerprüfer. Das ist kein Widerspruch. Ihr Vorgänger Wolfgang Niersbach trug die Haare eine Spur zu lang im Nacken, er war ein Kumpel von Franz Beckenbauer und Günter Netzer, die Nähe zur schillernden Welt der Fußballprominenz wurde ihm im vorigen Jahr zum Verhängnis. Grindels Vorbild ist Uwe Seeler. Ein Mann, der nicht dem Geld folgte.
Grindel und Koch gelten als Freunde des Amateurfußballs. Grindel ist Mitglied des Rotenburger SV, Koch spielte beim Kirchheimer SC. Reinhard & Rainer. Sie fahren ein bisschen durchs Land, besuchen Projekte und schauen sich am Abend vorm Kongress ein Fußballspiel im Aztekenstadion an. Kurz vor Mitternacht kommen sie ins Hotel zurück. In der Lobby sitzt die Fifa-Familie. Dickbäuchige Stammesfürsten, Südamerikaner mit gefärbten Haaren, breitbeinige Osteuropäer, alte Männer mit jungen Frauen. Grindel geht gleich aufs Zimmer, Koch trinkt noch eine Cola in der Halle.
Koch war noch nie in Mexiko, abgesehen von einem Kurzausflug über die amerikanische Grenze, 1994, Tijuana. Mit Frau und Tochter. Das Aztekenstadion sei beeindruckend gewesen, sagt Koch, aber in Gedanken ist er nicht in Mittelamerika, sondern in der Bayernliga. Er zeigt auf seinem Handy eine Fernsehsendung vom Bayerischen Fußball-Verband-TV, es geht um die Oberpfalz. Koch wischt auf dem Handy herum. Er hat da viele Sachen drauf, die er vorführen könnte. Die ganzen Tabellen allein. In Bayern finden am kommenden Wochenende 15 000 Spiele statt. Im Rest der Welt hört der Amateurfußball in der vierten Liga auf, nicht so in Deutschland.
Von da, so sieht es Koch, kommt die Kraft her, die die ganze Fußballwelt fürchtet. Und auch seine Autorität wuchs da unten, im schweren Boden der deutschen Fußballnation.
Sein Plan ist, von Mexico City direkt zur 60-Jahr-Feier des FC Aschheim zu fahren. Er kennt den Präsidenten des Vereins, der, wie er in seinem Tabellenwerk recherchiert, in der achten Liga spielt. Koch hat ein Zeitfenster von 19 Uhr bis 19 Uhr 20. Dann muss er zur Meisterfeier des FC Bayern. Grindel und er hätten gern die Meisterschale überreicht, aber dann müssten sie den Fifa-Kongress praktisch nach zehn Minuten verlassen. Das sieht natürlich blöd aus, gerade jetzt, wo es um den Neuanfang geht. Sie landen erst mit dem Schlusspfiff des Bayern-Spiels in Deutschland.
"Früher hätte man vielleicht den Helikopter ins Stadion genommen", sagt Rainer Koch. "Aber das können und wollen wir heute nicht mehr machen."
Das Zeitfenster für die 60-Jahres-Feier beim FC Aschheim schloss sich, aber bei der Meisterfeier des FC Bayern war er. Die Einladung liegt noch auf dem Beifahrersitz seines Dienst-Mercedes. Koch fährt gerade durch Poing, den Münchner Vorort, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hat.
"Ich möchte hier nicht weg", sagt er.
Bei Föhn sieht man von seinem kleinen Haus aus die Berge. Aber heute ist kein Föhn. Koch ging in Poing zur Grundschule, später nach München auf ein humanistisches Gymnasium, wo er die Oberschichtenkinder kennenlernte. Er hat im Dorfverein Fußball gespielt. Vorstopper. Eine Position, die es nicht mehr gibt. Er studierte Jura, er wurde Sozialdemokrat. Er wurde Richter und Schiedsrichter und Funktionär.
"Fußball hat Integrationskraft, hält die Gesellschaft zusammen", sagt Koch. "Das ist heute wichtiger denn je. Die Gesellschaft wird immer fragmentierter, so beschrieb das mein Doktorvater. Das stimmt, sie zerlegt sich von Jahr zu Jahr mehr in ihre Einzelteile."
Koch zählt die Tage bis zum Beginn der EM, auch weil es die Tage nach dem Skandal sind. Seine Rede auf dem Erneuerungsbundestag des DFB begann er mit dem Satz: "Es sind rund 150 Tage seit dem Rücktritt von Wolfgang Niersbach und circa 60 Tage bis zum Beginn der Europameisterschaft." Je näher die Europameisterschaft rückt, desto mehr geraten ihre Skandale in Vergessenheit. Sie sind jetzt fast da. Ihre nächste Präsidiumssitzung findet in Paris statt. Die Nationalelf soll sie erlösen.
"Bei diesem Turnier ist es besonders wichtig, dass die Mannschaft erfolgreich ist", sagte Grindel auf dem DFB-Bundestag.
Der deutsche EM-Song von Felix Jaehn und Herbert Grönemeyer klingt so, als stamme der Text von Koch und Grindel.
"Es geht auf und nach vorne / Eine neue Aufgabe / Es wird gespielt, nicht verlorn."
Thomas Strunz war Nationalspieler und ist jetzt Spielerberater. Er sitzt in einem Restaurant des Hilton Hotels am Münchner Flughafen, wo gerade die Sendung "Doppelpass" zu Ende gegangen ist, eine Art Fußballstammtisch auf Sport 1, bei dem man den Kaffee bezahlen muss, das Weizenbier aber umsonst bekommt.
Strunz ist überzeugt davon, dass sich Amateure und Profis immer weiter voneinander entfernen werden. Er glaubt daran, dass man die Vereine für Investoren öffnen muss und konkurrierende Pay-TV-Stationen braucht, um international mithalten zu können. Es sei auch die einzige Möglichkeit für die anderen Bundesligavereine, die Lücke zum FC Bayern zu schließen.
"Im Amateurbereich arbeiten Ehrenamtliche, aber Profivereine sind professionell geführte mittelständische Unternehmen. Dies ist von Ehrenamtlichen nicht zu leisten. Wer das glaubt, stammt aus einer anderen Zeit", sagt er. "Die einzige Schnittstelle ist die Nationalmannschaft. Dort spielst du für die Ehre. Geld spielt dabei überhaupt keine Rolle. Es ist falsch, wenn DFB-Funktionäre daraus irgendwelche Autoritäten ableiten. Der DFB verdient gutes Geld mit der Nationalmannschaft, die dort Verantwortlichen dürfen Hände schütteln und im Erfolgsfall feiern. Damit sollte es auch gut sein."
Die Nationalmannschaft wirkt wie die letzte Klammer, die den deutschen Fußball zusammenhält, der so zerrissen ist wie der Rest des Landes. Die einen fürchten den Verlust der deutschen Identität, die anderen haben Angst, den Zug zu verpassen, der in die globale Zukunft rast.
Die einen wollen den Aufstiegsmodus zwischen vierter und dritter Liga vereinfachen, die anderen wollen eine europäische Superliga. Die einen orientieren sich am chinesischen Markt, die anderen an den Bedürfnissen der Regionalliga Nordost. Die einen schauen auf die Traditionen, die anderen wollen die Gesellschaftsanteile der Vereine an Investoren veräußern. Die einen wollen nicht ihre Seele verkaufen, die anderen wollen nicht hinter Spanien und England zurückbleiben. Die einen reden von Solidarität, die anderen sind überzeugt, dass sie es auch allein schaffen.
Es gibt kaum noch Gemeinsamkeiten zwischen diesen Welten.
Reiner Calmund und Andreas Rettig haben einst beide für Bayer Leverkusen gearbeitet. Sie mögen sich, haben aber nicht mehr viel gemein. Rettig ist Geschäftsführer des FC St. Pauli, eines Zweiligaklubs, Calmund war lange Manager bei Bayer Leverkusen, telefoniert immer noch viel mit Spielervermittlern, Investoren und Boulevardzeitungen, macht Kreuzfahrten sowie dies und das. Gerade ist er in Hamburg, weil er heute Abend bei "Markus Lanz" auftritt. Calmund kann überall mitreden. Er hat ein iPad auf seinem gewaltigen Bauch abgestellt, auf dem er ein paar Gedanken und Tabellen zur Lage des deutschen Fußballs gespeichert hat, die er nun vorträgt.
Man kann es so zusammenfassen: Fußball ist der Volkssport Nummer eins. Franz Beckenbauer ist eine Legende und bleibt eine Legende. Es muss noch mehr Fußball im Fernsehen geben. Calmund war auch erst skeptisch, als das Privatfernsehen begann, alle Tore zu zeigen und nicht nur die von ein paar Spielen. Er hatte Angst, dass niemand mehr ins Stadion gehen würde. Aber das Gegenteil ist der Fall. Er hat die Tabellen da. Je mehr Fernsehfußball, desto voller die Stadien. Die Gier ist grenzenlos, und Calmund ist ein guter Repräsentant für diesen Trend.
Auch Rettig hat sich vorbereitet. Er hat ein Flipchart in seinem Geschäftsführerbüro in St. Pauli aufgestellt. Er predigt nicht Gier, sondern Verzicht. Calmund sagt, mit den Bayern werde es nie langweilig, auch nicht, wenn sie zehnmal hintereinander Meister würden. Rettig sagt, die Solidargemeinschaft der Liga zerfalle. Die Politik werde von Champions-League-Klubs gemacht, die ihre Vormacht zementieren wollten. "Auch Herr Grindel wird letztlich an seine Grenzen stoßen. Wenn sie einem der Klubs, die Nationalspieler abstellen, etwas wegnehmen, erinnert der sich beim nächsten Sponsorentermin daran."
Rettig skizziert auf großen weißen Blättern den Kapitalismus im deutschen Fußball. Er will Solidarität und Nachhaltigkeit. Sie haben beim FC St. Pauli Sonnenkollektoren auf dem Dach, zwei Bienenvölker und eine Blumensamenmischung namens "Ewaldbienenhonig". Das Wertvollste eines Vereins seien die Gesellschaftsanteile, gleich danach folge der Stadionname. Beides werde der FC St. Pauli nie verkaufen, sagt Rettig.
"Wir wollen ein Wirgefühl in der Ichgesellschaft", sagt er. "Wir wollen Teil des Stadtteils sein."
Die Lampen im Zimmer gehen aus, weil es draußen hell wird, und wenn sich eine Wolke vor die Sonne schiebt, gehen sie wieder an. Wenn sie weg ist, aus.
Bei der Deutschen Fußball Liga (DFL) in Frankfurt am Main geht das Licht nie aus. Hier werden die Interessen der Profis verwaltet, und das spürt man, wenn man das Haus betritt. Die Sekretärinnen laufen mit Headsets durch die Gegend, alle. Es gibt keine Kaffeekannen und Keksteller wie beim DFB, es gibt Espresso und einen Metallbehälter, in dem Joghurtbecher stehen. Durch große Fenster schaut man auf die Skyline der Bankenstadt, und es ist kein Zufall, dass die Klassikerzitate, die man hier hört, nicht von Sepp Herberger stammen, sondern von "Titanic"-Regisseur James Cameron und Systemtheoretiker Niklas Luhmann.
Es geht um Weltherrschaft. Europa, Asien, Fernsehen und die Schiedsrichter.
Man kann sich hier eine Geschichte, einen Spin abholen, an dessen Ende man bestürzt, aber bestens unterhalten zurückbleibt, wie nach mehreren Folgen der Fernsehserie "House of Cards". Öffentlich äußern möchte sich niemand. In den nächsten Tagen werden die neuen Fernsehrechte ausgehandelt. Das kann man sagen.
Man kann an den Büros von DFL und DFB sehen, wie sich die Machtverhältnisse im deutschen Fußball verändert haben, man sieht es an den Anzügen von DFL-Boss Christian Seifert und DFB-Chef Grindel, man sieht es aber auch im Gesicht von Alfred Draxler. Draxler, jahrelang Mitglied der "Bild"-Chefredaktion, war einmal der vielleicht einflussreichste deutsche Sportjournalist. Er bezeichnet Franz Beckenbauer als Freund, sie feierten gemeinsam auf Partys. Aber Beckenbauer hat sich zurückgezogen. Die "Bild"-Reporter haben heute nicht mehr die Zugänge zu den Stars wie früher. Die machen jetzt ihre PR teilweise selbst. Die Klubs haben eigene Fernsehsender. Alles geht so rasend schnell. Die Kühle, Glätte und Geschäftigkeit der neuen Profigesellschaft trifft auch den Journalismus. Sie braucht ihn nicht mehr.
Alfred Draxler wirkt schwermütig. Er sitzt in einer Hamburger Hotellobby, die Augen halb geschlossen, die Haare zurückgepeitscht, Einstecktuch, Weißwein. Man wäre nicht überrascht, wenn er einen Georg-Kreisler-Song anstimmte. Aber Draxler ist nicht nach Singen zumute. Er zählt vier Stadien der Entfremdung zwischen Nationalspielern und Journalisten auf.
Erstens: Spieler und Reporter schlafen alle im selben Hotel.
Zweitens: Die Journalisten werden von der Mannschaft ferngehalten.
Drittens: Spielerberater kommen ins Spiel.
Viertens: Die Digitalisierung. Sie frisst uns alle.
Er zeigt sein Handy mit der Nachricht, die er heute Nachmittag für die "Bild" von morgen verfasst hat. Günter Netzer geht es nicht gut. Not-OP. Das Herz.
Man versteht plötzlich die Schwermut. Beckenbauer schweigt, Hoeneß denkt nach, Müller vergisst, Netzer geht es nicht gut. Das Sommermärchen ist zerstört. Draxler war bei zwei Spielen damals, im Sommer 2006. Eines war das Endspiel, das andere hat er vergessen. Er weiß nur noch, dass er im Helikopter hinflog. An der Seite Franz Beckenbauers.
Irgendwann verlangt Alfred Draxler, dass der SPIEGEL ihn mit einem bestimmten Satz über Beckenbauer zitiert. Später will er dann gar nicht mehr zitiert werden. Er klimpert ein wenig auf der Klaviatur des Boulevardjournalismus herum, aber nichts funktioniert mehr, nicht das Drohen, nicht das Flehen. Und dann, nach etwa zwei Stunden, kommt der Punkt, an dem Draxler sagt, das Gespräch habe gar nicht stattgefunden. Er löst sich in der dunklen Hamburger Nacht auf. Seltsam, wie viele Gespräche in der Fußballwelt nicht stattgefunden haben. Manchmal hat man das Gefühl, in der Unterwelt zu recherchieren, manchmal, in der Spitzendiplomatie.
Je näher die Europameisterschaft rückt, desto mehr scheinen Fußballer nationale Bedeutung zu bekommen. Jérôme Boateng wird zum beliebtesten deutschen Nachbarn, Mario Götze zu einem tragischen Opfer der Gier, das sich in das deutsche Nationalmannschaftstrikot rettet wie in ein Zelt. Der Regen in Augsburg ist historisch. Die Bekanntgabe des endgültigen Kaders hat den Charakter einer Regierungserklärung. Hummels' Wade ist wichtiger als die Armenienresolution des Bundestags. Über dem Schicksal von Marco Reus kann man die Flüchtlingskrise vergessen.
"Im Ball der Gefühle / Als Teil der Sinfonie / Alle Gedanken geben auf / Ein Wurf, Dein Team", singt Herbert Grönemeyer im Lied zur Europameisterschaft.
Alle Gedanken geben auf. Dazu ist wirklich nur noch die Nationalmannschaft in der Lage. Man wird nicht viel mitbekommen von der nächsten Präsidiumstagung des DFB, von den Rechteverhandlungen der DFL und vom Riss zwischen beiden Lagern in den nächsten Wochen. Wenn es gut läuft für Grindel und Koch, dürfen sie am Ende den Pokal entgegennehmen. Es könnte der kurze Moment sein, in dem sich Amateur- und Profiwelt noch einmal berühren.
Der Uwe-Seeler-Moment, nach dem sich Präsident Grindel so sehnt. Kampf, Anstand, Leidenschaft, Bescheidenheit.
In der Person Uwe Seeler ist das oft zitierte Wesen des deutschen Fußballs eingeschlossen wie in Bernstein. Seeler sitzt in einem italienischen Restaurant in Norderstedt vor seinen eigenen Fußballfotos und erzählt von der guten alten Zeit, seiner Bandscheibe, dem 50-jährigen Jubiläum des Wembley-Finales, das sie im Sommer feiern, und von den Hamburger Radfahrern, die immer verrückter werden. Vor ihm liegt ein Blatt, auf dem ihm seine älteste Tochter ein paar Eckdaten aufgeschrieben hat.
"Geld ist auch wichtig", sagt Uwe Seeler. "Aber am Ende zählt Fußball."
"Man darf nie aufgeben, und man muss fair bleiben", sagt Uwe Seeler. "Verlieren gehört dazu."
Später steht er auf dem Parkplatz vor dem Italiener und winkt.
In der U-Bahn ins Hamburger Zentrum ruft dann noch einmal Oliver Bierhoff aus Ascona an. Ihm ist eingefallen, dass sich der deutsche Fußball in einer Art Zeitenwende befinde, er beschreibt eine Übergangsgesellschaft. Die verschwundenen Millionen sind vielleicht eher ein Symptom einer untergehenden Epoche als deren Ursache. Es verschwinden jetzt Männer, die Verträge am Tresen ausgehandelt haben, Männer mit einem eigenen Wertesystem, einer eigenen Sprache. Wer sie ersetzt, ist noch unklar. Die grauen Beamten aus dem DFB, die sich ihr Leben lang durch Behörden wuseln mussten, sind bestenfalls Übergangsfiguren. Effektivität allein reicht so wenig aus wie Stallgeruch allein. Man braucht beides. Fußball in Deutschland ist eine Art Volkseigentum, das man mit kapitalistischen Methoden allein nicht in den Griff bekommt. Bierhoff erinnert das alles an die Kulturrevolution in der Musikindustrie, in der die Manager früher mit den Rolling Stones verhandelten und heute mit Apple-Executives. Man braucht eine andere Sprache, andere Temperamente, man braucht neue Männer für das Geschäft.
Irgendwann, kurz bevor die U-Bahn in einen Hamburger Tunnel rollt, ist klar, was für Männer übrig bleiben, wenn die anderen weg sind.
Männer wie er.
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