Essay Weltgeist Ball
Eine Frage: Wären die Flüchtlinge vor allem Brasilianer, wie würden die Debatten verlaufen? Anschlussfragen: Gäbe es dieses Zerwürfnis von CDU und CSU? Wäre die AfD bei Landtagswahlen und Umfragen so stark? Wäre die Balkanroute geschlossen, würde die Türkei für ein Abkommen übermäßig hofiert werden? Wäre es ein Problem, dass vor allem junge Männer kommen?
Die meisten Brasilianer sind keine Muslime, das würde Hass, Ängste und Sorgen reduzieren. Aber selbst wenn, jeder deutsche Fußballverein würde seine Kleintransporter oder Fernbusse in die Grenzregionen schicken, um junge Männer und Jungs abzufischen. Und wehe, Polen oder Ungarn reklamierten einen fairen Anteil für sich, damit sie auch mal einen Titel gewinnen könnten.
Fußball verändert die Welt, und meistens macht er sie schöner, wie wir hoffentlich von Freitag an bei der Europameisterschaft in Frankreich erleben können. Aber Fußball ist auch politisch, weil er so groß ist und so tief in die Gemüter der Fans hineinwirkt. Im Umfeld des Spiels geht es um Masse (Volk), Stimmung, Nation (Identität). Das sind Stichwörter, die in der Politik Konjunktur haben, über Donald Trump, AfD, FPÖ, Front National. Aber deshalb ist der Fußball noch lange nicht als Instrument des Rechtspopulismus geeignet, wie Alexander Gauland gerade erleben muss. Sein Satz, Jérôme Boateng sei vielen Deutschen als Nachbar nicht willkommen, war ein Rohrkrepierer. Die Dinge sind komplizierter. Deshalb kommt hier ein kleines Vademekum zum Zusammenhang von Fußball, Gesellschaft und Politik für die Europameisterschaft.
Ein beliebtes Spiel ist die Parallelisierung. Der Fußball drückt das aus, was in der Gesellschaft oder der Politik gerade passiert. Mancher kann da für jedes Jahr einer Welt- oder Europameisterschaft einen Zusammenhang nachweisen, mehr oder weniger ernst, aber es gibt ein paar Beispiele, die sind so hübsch, dass man nicht an einen Zufall glauben mag.
Als Deutschland 1954 überraschend Weltmeister wurde, galt das als Ausdruck einer Wiedergeburt nach dem Zweiten Weltkrieg. Bundespräsident Theodor Heuss sagte, gutes Kicken sei noch keine Politik, aber das war überheblich und zu kurz gedacht. Der Sieg über den Favoriten Ungarn träufelte den Deutschen mehr Selbstbewusstsein ein, als es jede politische Rede vermocht hätte. Sie waren nun endgültig bereit für das Wirtschaftswunder.
Die Mannschaft, die 1972 Europameister wurde, spielte so befreit und stürmisch, als wollte sie den gesellschaftlichen und politischen Aufbruch aufnehmen, die gesprengten Fesseln nach 68 und Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen". Und kann es ein Zufall sein, dass Deutschland, also die Bundesrepublik Deutschland, 1990, im Jahr der Wiedervereinigung, Weltmeister wurde, beflügelt vom Ende einer leidvollen Trennung, Anspruch auf neue Geltung erhebend? Es kann ein Zufall sein, aber schöner ist, an den Zusammenhang zu glauben, an Hegels Weltgeist, der alles lenkt und fügt und auch ein Auge auf den Fußball hat, mit viel Wohlwollen für die Deutschen.
Er bescherte ihnen 2006 eine Weltmeisterschaft im eigenen Land (womöglich hieß der Weltgeist damals Franz Beckenbauer). Das war zur rechten Zeit, dass die Deutschen der Welt eine neue Unbeschwertheit zeigen konnten. Diesmal war es nicht das Spiel, es waren die Fußballfans, die einen Wandel ausdrückten, zum Schöneren, Leichteren. Fröhlichere Massen in den Landesfarben hatte es in Deutschland nie gegeben. Die Nation war wieder da, aber liebenswert.
Es gibt das auch anders. Beim sogenannten Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador starben 1969 über 2000 Menschen. Davor fielen bei einem Qualifikationsspiel zwischen beiden Ländern Fans übereinander her. Sie nahmen politische Spannungen auf, die damals zwischen beiden Staaten existierten. Es ging um salvadorianische Migranten in Honduras.
Im Mai 1990 spielten im kroatischen Zagreb die Teams von Dinamo Zagreb und Roter Stern Belgrad gegeneinander. Kroatien wollte sich damals von serbischer Dominanz befreien. In dieser aufgeladenen Stimmung lieferten sich Hooligans beider Vereine Schlägereien. Bald schossen Serben und Kroaten in einem grausamen Krieg aufeinander.
Der Fußball löst so etwas nicht aus, er ist nur ein Verstärker von Stimmungen, guten wie schlechten, weil er Massen anzieht und zu extrem starken Identifikationen motiviert, mit einem Verein, mit einer Nationalmannschaft und damit mit einem Land. Früher war das eine eindeutige Sache. Bis in die Achtzigerjahre hinein spielten in Vereinsmannschaften vor allem Männer aus dem jeweiligen Land. Die Spieler der Nationalmannschaft sahen fast durchgängig so aus, wie man in dem jeweiligen Land mehrheitlich halt aussah. Es herrschte Homogenität, Identifikation war eine Selbstverständlichkeit (außer in Deutschland, wo immer ein erheblicher Anteil von Fans für Togo oder Paraguay die Daumen drückte, wegen der deutschen Vergangenheit, die Selbsthass oder andere Verkrampfungen beförderte).
Die Hoffnungen von damals sind verflogen. Der französische Fußball hat es trotz seiner Erfolge nicht geschafft, die Nation zu einigen. Der Stürmer Karim Benzema, der algerische Vorfahren hat, warf Nationaltrainer Didier Deschamps in dieser Woche vor, er habe "sich dem Druck eines rassistischen Teils von Frankreich gebeugt", weil er Benzema nicht in das Aufgebot für die Europameisterschaft berufen hat. Allerdings ist Benzema in einen Erpressungsskandal verwickelt und benutzt das Argument womöglich, um Mitleid zu erregen.
Auch in Deutschland war Fußball und Rassismus schon vor Gaulands widerlicher Einlassung ein Thema. Als Afrikaner und dunkelhäutige Brasilianer in der Bundesliga auftauchten, wurden ihre Aktionen von den gegnerischen Fans häufig mit Affenlauten begleitet. Manchmal flogen Bananen (was allerdings auch dem äußerst blonden Oliver Kahn passierte).
Das hat stark nachgelassen. Spätestens wenn in der eigenen Mannschaft ein Afrikaner spielt, werden die Affenlaute zum Problem. Zudem wirken die magischen Kräfte des Fußballs. Selbst wer mit einem Ressentiment ins Stadion geht oder vor dem Fernseher sitzt, lässt sich von einem herrlichen Sturmlauf des Gabuners Pierre-Emerick Aubameyang einfangen, es sei denn, man ist völlig abgestumpft. Ist man es nicht und obendrein Fan von Borussia Dortmund, steckt der Aubameyang schon bald in einem drin, weil man sich ja identifiziert mit seinem Verein und dessen Spielern, und schon hat man ein Trikot mit dem Schriftzug "Aubameyang" gekauft, und nach einem Spieltag mit zwei Toren Aubameyangs zieht man es auch nachts nicht aus. Schon ist es Liebe.
So wirkt Fußball. Im besten Fall, muss man hinzufügen, aber der ist ziemlich häufig. Das Ganze hat natürlich einen utilitaristischen Kern. Vor der Liebe kommt die Nützlichkeit. Kann man einen Spieler gebrauchen oder nicht? Aus fußballerischer Sicht wirkt die Einwanderung von Syrern zunächst einmal nutzlos, weil ihr Land auf diesem Feld keine Traditionen und keine Erfolge hat. Mit Brasilianern wäre das anders.
Aber einige Kinder der Syrer werden womöglich bald erkennen, dass eine ihrer großen Chancen auf dem Fußballplatz liegt, so wie viele türkisch- oder afrikanischstämmige Kinder. Sie werden großen Ehrgeiz und großes Geschick entwickeln, und spätestens wenn einer von ihnen Deutschland zum Weltmeister schießt, wird man die Flüchtlingskrise mit anderen Augen betrachten.
Deshalb liegt Gauland mit seinen Einlassungen so doppelt und dreifach daneben. Die Fans des Bundesligafußballs sind für Rassismus nur bei großer Selbstverleugnung zu erreichen. Der Fußball zählt in dieser Hinsicht zu einem der automatischen Stabilisatoren einer Gesellschaft. Das ist ein Begriff aus der Ökonomie. Wenn es abwärtsgeht, verhindern die Stabilisatoren, dass es so richtig abwärtsgeht.
Ein Identifikationsproblem mit der deutschen Nationalmannschaft gibt es jedenfalls nicht. Mesut Özil, der sich kürzlich in Mekka fotografieren ließ, gehört zur deutschen Nationalmannschaft. Also gilt auch: Der Islam gehört zur deutschen Nationalmannschaft. In Wahrheit ist es egal. Hauptsache, Özil verrennt sich nicht dauernd in der gegnerischen Abwehr. Man bangt ja schon wieder.
Was die Politik angeht, sind das alles beruhigende Aussagen. Die Massen im Stadion sind nicht so leicht verführbar. Sie wollen das Spiel sehen, der Fußball schafft ihnen die Realität, die sie brauchen. Angela Merkel kann sich mit einem halb nackten Özil fotografieren lassen, sie kann bei den Spielen auf ihre herzige Weise jubeln und damit Sympathien einsammeln, sie kann den Sport auf diese Weise instrumentalisieren, aber sie kann hier nicht der Weltgeist sein, der alles lenkt und fügt.
Der steckt wahrscheinlich im Ball, und nun wird es wirklich Zeit, dass er wieder in einem großen Turnier rollt. ■