Netzwelt Gesichter als Visitenkarten
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen nichts ahnend im Bus. Ein Wildfremder zückt sein Handy, macht ein Foto von Ihnen – und spricht Sie dann mit vollem Namen an.
Was wie ein Albtraum der Datenschützer klingt, soll dank FindFace tatsächlich möglich werden. Rund eine Million Nutzer haben die App schon heruntergeladen.
Der Hype um FindFace befeuert die gesellschaftliche Auseinandersetzung, ob es im digitalen Zeitalter noch ein Recht auf Anonymität gibt – und was dieses in der Praxis wert ist. Dient das eigene Gesicht künftig als eine Art Visitenkarte, die jeder ungewollt preisgibt, der den öffentlichen Raum betritt?
Die skurrile App stammt aus Russland. Vorerst wird sie vor allem dort genutzt. Wer steckt dahinter?
Ein kleiner Büroturm an der Großen Georgischen Straße im Moskauer Stadtzentrum. Der Aufzug fährt in die neunte Etage: kahle Büroräume, ein paar Schreibtische, ein Blick auf die grandiose Skyline. Hier hat das Unternehmen N-Tech.Lab seinen Sitz.
"Wir sind gerade umgezogen, von der zweiten Etage sieben Stockwerke hinauf", sagt Artjom Kucharenko, Mitgründer und Geschäftsführer. "Wir brauchen mehr Platz." N-Tech.Lab ging erst voriges Jahr an den Start, gilt aber bereits als eines der 50 aussichtsreichsten russischen Start-ups.
Das Prinzip hinter FindFace: Der Nutzer fotografiert mit seinem Smartphone ein Gesicht und lädt das Bild in der App hoch. Sekundenschnell durchforstet eine Gesichtserkennungssoftware sodann den Bildbestand des Sozialnetzwerks VK, einer Art russisches Facebook mit über 350 Millionen Mitgliedern.
Jedes aufgenommene Gesicht wird dabei in 80 typische Datenmerkmale zerlegt: länglich oder rund, männlich oder weiblich und so weiter. Ein lernfähiges künstliches neuronales Netz vergleicht die Parameter und spuckt jeweils die Datensätze mit der größten Ähnlichkeit aus.
Konzerne wie Google setzen für vergleichbare Gesichtserkennungsprogramme eigene Serverfarmen ein. Die Russen dagegen mieten einfach einen Cloud-Dienst von Amazon – und ziehen dennoch der Konkurrenz davon.
So glänzten die Newcomer unlängst beim Wettbewerb "Megaface" an der University of Washington im amerikanischen Seattle: Die Russen gewannen in der wichtigsten Disziplin, dem "Facescrub". Die Aufgabe bestand darin, 80 Promis aus einer Flut von einer Million anderer Gesichter herauszufischen. FindFace gelang dies in fast drei von vier Fällen – Rekord.
Beim Trainieren half den Russen allerdings die Laxheit ihres einheimischen Datenschutzes. Das Sozialnetzwerk VK schütze die Profilfotos der Mitglieder kaum, daher seien fast alle frei zugänglich, kritisiert Jonathan Frankle, Rechtsprofessor an der Georgetown University in Washington. Wenn dagegen US-Firmen wie Facebook oder Shutterfly die Bilder ihrer Mitglieder analysieren, hagelt es schnell Klagen.
Gesichtserkennung kann aber nicht nur dazu dienen, fremde Menschen auf der Straße zu identifizieren. Umgekehrt soll die Technik schon bald auch helfen, die eigenen Daten einfacher zu sichern als heute.
Passwörter zum Beispiel sind eine Dauerplage: Schnell sind sie vergessen – oder geknackt. Passworthasser hoffen deshalb auf Abhilfe durch Biometrie. Wer im Netz etwas einkauft, so die Idee, könnte künftig zur Legitimation einfach sein Gesicht in die Kamera halten. Das plant die Kreditkartenfirma Mastercard mit ihrem neuen System "Identity Check", das vom Spätsommer an in Großbritannien, den USA und Kanada eingeführt werden soll.
Für seine Gesichtserkennungs-App sieht Kucharenko noch weitere Anwendungen. Mitte Mai war er im chinesischen Macau im größten Kasino der Welt mit 800 Spieltischen und 3400 Geldspielautomaten. Die Kasinobetreiber interessieren sich für sein System, um Betrüger oder wichtige Gäste zu erkennen. Kucharenko: "Selbst gut geschulte Angestellte kennen nur ein paar Hundert der VIP-Spieler. Mit dem FindFace-Algorithmus erfassen die Kameras sofort, wer das Kasino betritt."
Der Markt für Gesichtserkennung wachse "wie verrückt", so der Firmenchef, "es geht um viele Milliarden Dollar". Große Verdienstmöglichkeiten wittert Kucharenko unter anderem bei der Partnersuche: "Beim Dating-Service zum Beispiel ist noch viel drin", sagt er. "Das Aussehen ist der Schlüsselfaktor für alle, die ihre große Liebe im Internet suchen."
Wie anfällig seine App aber auch für Missbrauch ist, zeigt wiederum ein Pilotprojekt, das der FindFace-Macher mit der Moskauer Stadtregierung vereinbart hat. Die Behörden wollen mithilfe des Programms alle Bilder von Hunderttausenden Beobachtungskameras in der Hauptstadt scannen und abgleichen lassen. Gesuchte Kriminelle oder Extremisten sollen im Passantenstrom erfasst und sofort dem nächsten Polizeirevier gemeldet werden.
Der Begriff "Extremist" wird in Russland jedoch weit gefasst. In Moskau löst der Inlandsgeheimdienst FSB selbst die kleinste Demonstration von Oppositionellen gewaltsam auf. Den Machthabern muss die gesichtserkennungsdienstliche Automatisierung wie ein Gottesgeschenk erscheinen – jedes eingescannte Gesicht ist ein potenzieller Steckbrief.