SPIEGEL-Gespräch „Bereit, alles niederzubrennen“
Zipko, Jahrgang 1941, arbeitet im Institut für internationale Wirtschaft und Politik an der Russischen Akademie der Wissenschaften. In den Achtzigerjahren gehörte er zur Perestroika-Bewegung um Michail Gorbatschow. Zipko war wegen seiner Sympathien für die polnische Solidarność vom KGB observiert worden und hat auch in Japan und den USA gearbeitet. Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin bot ihm mehrfach Ministerposten an, die Zipko wegen dessen gewaltsamen Vorgehens gegen die Opposition ablehnte. Die Übernahme des Präsidentenamts durch Putin begrüßte er, heute ist er einer der schärfsten öffentlichen Kritiker des Kreml.
Zipko: Nein. Das ist ein Beleg für jene geistige Krise, in der sich Russland gegenwärtig befindet. Selbst zu sowjetischer Zeit verstanden die Menschen: Russland ist Teil der westlichen Zivilisation. Damals wurden bei uns nicht – wie heute – Westen und Osten gegenübergestellt, sondern Kapitalismus und Kommunismus. Und der Marxismus als angeblich fortschrittliche Idee war ja aus dem Westen gekommen. Jetzt ist dieser Westen laut offizieller Propaganda unser Feind. Und die meisten akzeptieren das. Wir Russen sind leichtgläubig und beeinflussbar. Es gibt russische Philosophen, die sagen, es fehle uns die Fähigkeit zum eigenständigen Denken.
SPIEGEL: Viele russische Denker haben die Zukunft ihres Landes immer mit dem Westen verbunden.
Zipko: Es gab auch nach 1991 dieses Bedürfnis, diesen großen Wunsch, wieder Teil der westlichen Welt zu werden, die Selbstisolation und den Kalten Krieg hinter sich zu lassen. Dann kamen die Bombardierung Belgrads und der Krieg im Irak, mit beiden Ereignissen wuchs die antiwestliche Stimmung. Trotzdem strebten und streben die Russen weiter nach einem westlichen Lebensstandard: Wohlstand, eine ordentliche Wohnung, ungehindertes Reisen, Recht auf Emigration. Sie schätzen also westliche Werte, nur den Wert der individuellen Freiheit erkennen sie nicht. Es wird ihnen auch nach wie vor eingeredet, dass das Wohl des Landes über allem stehe, die Bedürfnisse des Einzelnen nicht wichtig seien. Dass man zuallererst russischer Patriot sein müsse, weil Russland angeblich wieder mal eingekreist und auf sich allein gestellt sei. Und viele glauben an die verlogene Theorie von der besonderen russischen Zivilisation, zu der Russland jetzt angeblich zurückgekehrt sei und in der das Materielle wie auch die individuelle Freiheit keine große Rolle spielen – dafür umso mehr Gott, Staat und Familie. Diese Theorie gründet sich vor allem auf Konstantin Leontjew, einen religiös-konservativen Philosophen des 19. Jahrhunderts.
SPIEGEL: Ein Vorläufer Nietzsches.
Zipko: Leontjew meinte, dass die westliche Freiheit eine Sünde sei. Es gibt bei ihm sogar den schrecklichen Gedanken, niemand könne sagen, wo der Mensch glücklicher sei – in einem despotischen Staat oder in einem freiheitlichen. Russland hat begonnen, die übrige Welt als Antiwelt zu sehen: Wir lehnen jetzt nicht nur den Westen ab, sondern auch dessen Humanismus.
SPIEGEL: Putin spricht von der westlichen Dekadenz, betont den russischen Konservatismus und beruft sich dabei auf angesehene russische Philosophen. Der Sinn des Konservatismus bestehe darin, die Rückkehr in die "chaotische Finsternis" zu verhindern.
Zipko: Das sagt auch Russlands orthodoxer Patriarch Kirill. Aber die Idee einer besonderen russischen Zivilisation und Moral, die der des Westens überlegen sei, ist weder besonders christlich, noch stimmt sie. Christus lehrte, dass alle Völker gleich seien. In der Idee der besonderen russischen Zivilisation hingegen kann man Elemente des Rassismus finden. Tatsächlich verbergen sich hinter der antiwestlichen Stimmung die ewig russischen Probleme.
SPIEGEL: Welche meinen Sie?
Zipko: Diesen russischen Maximalismus beispielsweise, also die Devise: alles oder nichts. Russland leidet unter einem mangelnden Realitätssinn. Es hat ein nur schwach ausgeprägtes Rechtsempfinden. Die Verteilung von Gütern wird für wichtiger gehalten als ihre Produktion. Und vor allem ist das Land nicht in der Lage, die Gründe des eigenen Elends zu analysieren. Russen suchen Fehler immer bei anderen, nie bei sich selbst. All diese traditionellen Mängel des russischen Nationalbewusstseins haben die Bolschewiki in ihrer Revolution 1917 ausgenutzt. Die war weniger ein Drang zur Freiheit als eher ein Wunsch zur Destruktion. Die Russen von heute sind nicht viel weiter als die Bauern zur Zeit der Revolution. Sie sind enttäuscht darüber, dass der schnelle Anschluss an Europa nicht gelang. Und verändern nun einfach ihre Sicht auf jene Welt, die sie an ihre Unvollkommenheit erinnert. Mit Wahrheit und Wirklichkeit hat das nichts zu tun. Dazu gehört auch der Umgang mit der eigenen Geschichte. Die orthodoxe Kirche beispielsweise will nicht, dass die Russen mehr über Stalins Verbrechen erfahren. Sie sagen: Das würde die Russen entmutigen und ihren Glauben an sich selbst zerstören.
SPIEGEL: Viele Russen kommen tatsächlich mit dem neuen Europa nicht zurecht: mit dem multikulturellen Leben dort, mit dem – wie sie sagen – gottlosen Liberalismus. Haben sich beide Seiten entfremdet?
Zipko: Dass das heutige Russland religiöser und näher an Gott sein soll als Westeuropa, ist ein Mythos. Lediglich fünf bis sechs Prozent der Russen sind Kirchgänger, weniger als in den meisten katholisch oder protestantisch geprägten Ländern. Die Tragödie des heutigen Russland besteht darin, dass es den Westen wegen dessen angeblicher Ungläubigkeit und der Aufgabe traditioneller Werte kritisiert, aber selbst nicht an grundsätzliche christliche Werte glaubt. Die Zahl der Abtreibungen ist hoch. Der Kirchenführer Kirill wird nur von sehr wenigen als moralische Autorität wahrgenommen. Die Hälfte aller Russen verehrt immer noch Stalin, einen Mann, der Millionen Menschen ermorden ließ.
SPIEGEL: Eine Flucht in die Russifizierung gab es in Russlands Geschichte schon oft: unter Nikolai I. und Zar Alexander III. oder nach 1945. Ist das auch jetzt ein vorübergehender Prozess?
Zipko: Wenn ich ehrlich bin: Bislang finde ich keine Argumente dafür, dass wir da wieder herauskommen. Und das ist fürchterlich. Die Revolution vor fast hundert Jahren hat große Teile unserer Intelligenz vernichtet, das Land ist genetisch verändert worden. 70 Jahre lang hat man uns abgewöhnt, Verantwortung zu übernehmen. Und wegen der bis dahin hohen Ölpreise glaubten alle, der Staat habe den Wohlstand einfach nur zu verteilen, sie selbst müssten nichts tun. Nachkriegsdeutschland wurde von der Mittelschicht aufgebaut, auch in Japan war das so. In Russland ist sie bis heute nicht wiedererstanden.
SPIEGEL: Und was war Gorbatschows Perestroika? Ein historischer Ausrutscher?
Zipko: Ich war einer der Ideologen der Perestroika. Wir glaubten, die Russen würden ihre neuen Freiheiten nutzen. Aber später unter Jelzin wurde es versäumt, stabile demokratische Institutionen zu schaffen. So fiel der Staat in die Hände verrückter Patrioten, deren Denken militärisch geprägt ist. Die schufen zwar auf ihre Art Stabilität, aber sie führen auch den Krieg gegen die Ukraine und verlangen, der Russe müsse bereit sein, für die Würde Russlands zu sterben. Würde gründet sich aber nicht auf Panzern, sondern auf gegenseitiger Achtung und Wertschätzung.
SPIEGEL: Russland solle sich, so heißt es in der Propaganda, erheben. Eigenartigerweise ist dabei nur die Außenpolitik gemeint. Die Modernisierung des Landes ruht: Man könne nicht beides tun, geopolitisch wieder eine Rolle spielen und gleichzeitig das Land im Innern umbauen.
Zipko: Eine große Dummheit. Schon im zaristischen Russland entsprach der Zustand im Inneren nicht der äußeren Größe des Landes und seinen Ambitionen. Auch die Sowjetunion ging an diesem Widerspruch zugrunde. Wir besaßen die Hälfte der weltweiten Ackerfläche mit Schwarzerde und konnten trotzdem das Volk nicht ernähren. Außenminister Lawrow fordert nun, den Gürtel enger zu schnallen. Aber die USA sind wirtschaftlich immer noch 14-mal stärker als Russland.
SPIEGEL: Trotzdem glaubt Russland, attraktiv genug für all jene zu sein, die nicht dem amerikanischen Modell folgen wollen. Tatsächlich aber hat sich die Ukraine abgewandt, sogar Satelliten wie Kasachstan und Weißrussland gehen auf Distanz.
Zipko: Und kaum jemand, der jetzt aus dem Nahen Osten flüchtet, kommt zu uns. Das Gerede über die russische Zivilisation, die nicht das Materielle in den Vordergrund stellt, ist Unfug. Früher haben wir den Völkern der Welt zeigen wollen, wie man den Kommunismus aufbaut. Jetzt sagen wir: Wir sind von Gott erschaffen, um eine antiwestliche Welt zu begründen, in der Ehre, nationale Würde und Tapferkeit wieder die höchsten Werte sind und in der alle von Russland reden. Aber wir bauen nichts Bedeutendes auf, niemand auf der Welt redet von russischen Errungenschaften.
SPIEGEL: Der "russische Frühling" begann 2014 mit der Heimholung der Krim. Sie stammen aus Odessa in der Ukraine. Was hat Russland, abgesehen von der Krim, mit dem Ukrainekrieg erreicht?
Zipko: Mich hat 1991 der Zerfall der sowjetischen Welt sehr getroffen: Meine Heimatstadt Odessa war neben Moskau und St. Petersburg die dritte Hauptstadt im Zarenreich. Aber nur ein Irrer kann das heute wiederherstellen wollen. Der russische Philosoph Iwan Iljin hat Stalin 1949 vorgeworfen, er habe sich die Länder Osteuropas einverleibt und so die Zahl der unversöhnlichen Feinde Russlands vergrößert. Und so ist es auch heute: Wir haben nur noch Feinde an unserer Peripherie. Da ist Polen, wo man anders als in Russland eben nicht die vierte Teilung des Landes, diesmal durch Stalin, vergessen hat. Da ist das Baltikum, wo nach dem Anschluss an die UdSSR 1940 ein Großteil der Intelligenz umkam oder nach Sibirien deportiert wurde. Und da ist die Ukraine. Sogar die Türkei ist nun antirussisch.
SPIEGEL: Im Osten der Ukraine sind viele Russen gefallen, die aufseiten der Separatisten kämpften. Sie starben angeblich für die Verteidigung der "russischen Welt".
Zipko: Auch das ist ein Mythos. Viele junge Leute glaubten wirklich, dass sie Russland retten, man kann sie nicht einfach verurteilen. Da spielt auch Ritterlichkeit hinein, russische Leichtgläubigkeit, Fügsamkeit und Beeinflussbarkeit. Schuld hat auch unser Fernsehen, das den Aufstand des Donbas heroisiert. Es hat zum Tod vieler Russen beigetragen, die Propaganda im Fernsehen war ein Aufruf zum Sterben.
SPIEGEL: Sogar die russischen Intellektuellen überbieten sich mit martialischen Äußerungen. Ein bekannter Politologe hat in einer Talkshow einem Amerikaner ins Gesicht gesagt: "Wir werden euch noch zum Teufel bomben." Und ein berühmter Filmemacher hat verlangt, eine Atombombe auf Istanbul zu werfen, weil die Türkei sich mit Russland anlegt.
Zipko: Neulich bei einer Taxifahrt erkannte mich der Fahrer, ich bin oft im Fernsehen, und sagte: "Ich verstehe nicht, warum Sie das dreiste Amerika verteidigen. Soll doch die gesamte Menschheit umkommen, wenn sie die Missgeburt Amerika duldet." Leute wie er mögen Putins Muskelspiele. Die Rehabilitierung Stalins kommt nicht von oben, sondern von unten. Unser Patriotismus ist meist aufgesetzt, hinter ihm verbergen sich Angst und Ungewissheit. Der Vizechef der Präsidialadministration sagt: "Solange es Putin gibt, gibt es auch Russland. Ohne Putin gibt es kein Russland."
SPIEGEL: Welche Rolle spielt Putin wirklich?
Zipko: Nicht er ist das Problem, das Problem sind die russische politische Kultur und unser politisches System. Das hat nicht Putin geschaffen, es entspricht einfach unserer Tradition: Macht war in Russland schon immer uneingeschränkt und grenzenlos. In der Duma kann bis auf den unglücklichen Ilja Ponomarjow ...
SPIEGEL: ... der als Einziger gegen die Krim-Annexion gestimmt hat ...
Zipko: ... kein Deputierter aufstehen und etwas gegen den Kreml sagen. Hier zeigt sich das schiefe Verständnis von Kollektivismus, die Angst, sich abzusondern. Etwas anderes ist es, dass wir nun von den psychologischen Besonderheiten eines Mannes abhängen, der gern davon erzählt, wie er in der Kindheit auf einem Petersburger Hinterhof lernte, als Erster zuzuschlagen. Putin kommt aus Nordrussland. Das ist ein besonderer Menschenschlag, den Dostojewski als den "unterirdischen", den aus dem Hintergrund agierenden, beschrieb. In ihm verbindet sich krankhafte Eigenliebe und die Bereitschaft, alles niederzubrennen. Der Westen hat die Besonderheiten der Psyche Putins nicht ernst genommen. Putin scheint persönlich beleidigt zu sein, und das hat seine Komplexe aktiviert. Die Tragödie besteht darin, dass die Menschheit davon abhängig geworden ist, wie dieser Mann auf die Herausforderungen des Westens reagiert.
SPIEGEL: Sie haben einmal geschrieben: Das Fürchterlichste am Schicksal der Russen ist, dass unser Leben vollkommen vom Zufall abhängt. Hat der nicht immer seine Hand im Spiel?
Zipko: Im Grunde ja. Aber die menschliche Zivilisation hat immer wieder Mechanismen hervorgebracht, die ihre Überlebenschancen vergrößerten. Die USA mögen den Krieg im Irak angezettelt haben, mit vielen Toten. Aber sie haben ein Verfassungsgericht, den Kongress, Instrumente zur Regelung lebenswichtiger Fragen. Die Deutschen haben ein politisches System aufgebaut, das ich für eines der besten in Europa halte. Tolstoi hat gesagt, mit jedem Jahr, das vergehe, lerne die Menschheit neue Mechanismen, mit denen man existenzbedrohenden Zufälligkeiten begegnen könne. Bei den Russen aber gibt es eine Gefahr: ihr schwacher Instinkt zur Selbsterhaltung.
SPIEGEL: Das müssen Sie erklären.
Zipko: Das menschliche Leben war uns stets wenig wert. Russische Heerführer haben nie über die Höhe ihrer Verluste nachgedacht. Die Generäle des Zaren und die Generäle Stalins handelten nach der russischen Redensart: "Man muss den Soldaten nicht bedauern, die russischen Weiber werden andere gebären."
SPIEGEL: Russland ist nicht mehr im Krieg.
Zipko: Seit Beginn des neuen Jahrtausends lief es rund, der Wohlstand stieg, der Kontakt zum Westen war gut, die Leute waren zufrieden. Plötzlich wird das zerstört, es gibt wieder Selbstisolation und Kriegspsychose. Wir sollten das ernst nehmen.
SPIEGEL: Alexander Sergejewitsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.