Großbritannien war stets eine Art Zukunftslabor für Europas Linke. Im 19. Jahrhundert gründeten englische Arbeiter die ersten Gewerkschaften des Industriezeitalters. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute die Labour Party den modernen Wohlfahrtsstaat aus. Fünfzig Jahre später wurden Tony Blair und seine Politik des "Dritten Wegs" zum Vorbild einer marktwirtschaftlich erneuerten Sozialdemokratie.
An diesem Sonntag wollen die Spitzen der SPD den bisherigen EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz zum Nachfolger des glücklosen Sigmar Gabriel ausrufen; und auch diesmal legen ihm viele Genossen das britische Beispiel ans Herz. Wie Labour-Führer Jeremy Corbyn solle auch Schulz seine Partei nach links rücken, so empfehlen sie: sich von den ungeliebten Agendareformen der Schröder-Jahre distanzieren, sich gegen die Globalisierung stemmen und jenen Politikmix aus höheren Steuern und mehr Sozialstaat wiederbeleben, mit dem die Sozialdemokratie in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts so erfolgreich war.
Es sei "der Schwenk der traditionellen Arbeiterparteien zum Neoliberalismus" gewesen, der ihren Niedergang hervorgerufen habe, so behauptet etwa der frühere SPD-Chef und heutige Linken-Führer Oskar Lafontaine. Liegt also die Zukunft der Sozialdemokratie in ihrer Vergangenheit? Ist die richtige Antwort auf den Rechtspopulismus ein "Populismus von links"? Oder, anders gefragt: Sollte Schulz den Corbyn machen?
Wenn der neue SPD-Chef tatsächlich ins Kanzleramt strebt, wie er es gleich nach seiner überraschenden Inthronisierung in dieser Woche angekündigt hat, sollte er die Ratschläge der Old-Labour-Fraktion besser vergessen. Eine Politik à la Corbyn wäre der sicherste Weg, die SPD auf Dauer in die Opposition zu führen.
Das zeigt schon die Heimbilanz des Labour-Chefs. Knapp zwei Jahre nach seinem Amtsantritt ist der Flügelstreit in seiner Partei schärfer denn je und der Erfolg beim Wähler überschaubar. Laut Umfragen liegt Labour derzeit 16 Punkte hinter der konservativen Konkurrenz.
Hinzu kommt: In Deutschland ist die Industriearbeiterschaft, die Hauptzielgruppe der Sozialdemokratie, keine aussterbende Spezies wie im Vereinigten Königreich. Sie ist ein Kern der Mittelschicht, nicht selten ihres oberen Drittels.
Wer in einem der exportstarken Betriebe der Automobil-, Chemie- oder Maschinenbaubranchen sein Geld verdient, ist kein Abgehängter wie sein arbeitsloser Kollege aus den Fabrikruinen Nordenglands, er ist ein Gewinner der Globalisierung. Sein Job wird nicht durch Abschottung sicherer, sondern durch Freihandel. Und wenn er auf seinen Gehaltszettel blickt, auf dem zwischen Brutto und Netto vielfach eine vierstellige Eurosumme ausgewiesen ist, hat er nicht unbedingt das Gefühl, dass höhere Steuern die soziale Gerechtigkeit steigern. Bei der jüngsten Landtagswahl in Baden-Württemberg haben fast doppelt so viele Arbeiter CDU gewählt wie die SPD.
Nach Lage der Dinge könnte Schulz allenfalls mit einem rot-rot-grünen Bündnis Kanzler werden. Es wäre aber ein schwerer Fehler, würde er sich seinen potenziellen Regierungspartnern nun anbiedern. Im Gegenteil: Wenn er die Bürger für eine Linksallianz auf Bundesebene gewinnen will, muss er klarstellen, dass ein derartiges Experiment nur zu den Bedingungen der SPD zu haben ist. Am wichtigsten dabei: die Sicherung der industriellen Wohlstandsbasis der Republik.
Schulz darf deshalb keinesfalls nur Angebote aus dem Sortiment der Sozialpolitik ins Schaufenster stellen; er muss seine Truppe als Zukunftspartei positionieren. Dazu gehört, die Digitalisierung der Arbeitswelt nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu begreifen. Eine Einwanderungspolitik ist gefordert, die auch den Fachkräftebedarf der Wirtschaft im Blick hat. Und schließlich sollte sich die SPD eine Steuer- und Sozialabgabenreform vornehmen, die vor allem Durchschnittsverdienern nutzt. Es gilt, den Kuchen größer zu machen; nicht nur, ihn möglichst gerecht zu verteilen.
Natürlich sollte sich die SPD in wichtigen Fragen klar von der CDU abgrenzen, sie darf nicht verwechselbar werden. Doch wenn Schulz die Kanzlerin verdrängen will, muss er den Kampf um das politische Zentrum führen. So wie es im französischen Präsidentschaftswahlkampf derzeit Emmanuel Macron versucht, der frühere Wirtschaftsminister, der mit seinem sozialliberalen Programm deutlich vor seinen sozialistischen Konkurrenten liegt.
In Zeiten von Trump und Fake News ist der Wahlausgang noch schwerer vorherzusagen als ohnehin. Das Motto des letzten sozialdemokratischen Kanzlers aber gilt noch immer. Die Bundestagswahl, so pflegte Gerhard Schröder zu sagen, wird in der Mitte gewonnen.