Technikgeschichte Schleier drüber
Die These war womöglich zu schön, um Zweifel zu nähren: das Fahrrad, ein Muster klimafreundlicher Mobilität, erschaffen vor 200 Jahren – just um die Folgen der größten globalen Wetterkatastrophe der Zivilisationsgeschichte zu mildern.
So soll er stattgefunden haben, der Urknall modernen Individualverkehrs: Auf einer indonesischen Insel bricht im April 1815 der Vulkan Tambora aus; es ist die gewaltigste Eruption, die Menschen bis dahin erlebt haben. Um die nördliche Hemisphäre legt sich ein Schleier aus Staub, im Sommer 1816 herrschen Kälte und Dauerregen, es kommt zu Ernteausfällen und Hungersnöten, Pferde werden geschlachtet, der Warentransport stockt. Auch der Kulturbetrieb verdüstert sich ( SPIEGEL 22/2016 ).
1817 wird das Wetter schon wieder besser, doch der Getreidepreis erreicht im Frühsommer seinen Höhepunkt. Und schon kommt er angeradelt, Freiherr Karl Drais von Sauerbronn, Tüftler und Edelmann, zu Lebzeiten als Spinner verspottet, heute geehrt als Erfinder des Fahrrads. Es war ein dürres Holzgestell mit zwei Rädern und ohne Pedalkurbeln, und es sollte Ersatz schaffen für Reitpferde, die gerade verhungerten oder verspeist wurden.
So jedenfalls sieht es der Physiker Hans-Erhard Lessing, als Technikhistoriker ein angesehener Mann seines Fachs. Er hat Standardwerke über Fahrradgeschichte geschrieben, hält Vorträge und wird häufig zitiert – und das vorwiegend mit seiner Lieblingsthese, die Naturkatastrophe habe den Freiherrn zur Velo-Erfindung inspiriert. Auch in Geschichtsbüchern anderer Autoren findet sie sich wieder.
Doch ausgerechnet im Fahrradjubiläumsjahr wird Lessings Theorie kompetent torpediert: von dem Münchner Publizisten Jost Pietsch. Auf seiner Website Fahrrad-history.de zerlegt der gelernte Maschinenschlosser den "Tambora-Schwindel" wie ein defektes Nabengetriebe.
Pietsch machte sich die Mühe einer intensiven Quellenprüfung und entdeckte die Bruchstelle der lessingschen Argumentation: ein Falschzitat. In einem Vortrag auf der International Cycling History Conference des Jahres 2000 in Osaka hatte Lessing einen Satz über massenhafte Pferdeschlachtungen wegen Futtermangels zitiert, der am 24. Juni 1817 im "Mannheimer Intelligenzblatt" gestanden haben soll, einer Publikation aus Drais' Heimat. Pietsch beschaffte sich die Quelle, aber es stand nichts dergleichen darin.
Vor zwei Jahren konfrontierte er Lessing damit. Der dankte jovial auf einer Postkarte für "den Hinweis auf das Fake-Zitat", ließ aber bis heute nicht von seiner Theorie ab. Auf Anfrage nennt er nun eine undatierte Drais-Aussage, die seine These stützen soll: "In Kriegszeiten, wo die Pferde und ihr Futter oft selten werden, könnte ein ... solcher Wagen ... wichtig seyn."
Das mag zutreffen, die Äußerung bezieht sich aber auf den schon zuvor von Drais erfundenen Vierrad-Muskelkraftwagen. Und überhaupt: Was hat das Ganze mit Tambora und dem kalten Sommer zu tun? Tatsächlich gibt es kein einziges überliefertes Zitat des noblen Erfinders, das auf die Folgen der Naturkatastrophe Bezug nimmt.
Sein spindeliges Gefährt, merkt Pietsch an, taugte ohnehin nicht zum Ersatz des Pferdes im Frachtverkehr. Zeitgenossen hätten es "allenfalls als sportliche Kuriosität" wahrgenommen. Obendrein war die kurze Klimakatastrophe im geschützten Oberrheingraben, wo Drais lebte, weit weniger schlimm als etwa in den Hochlagen des Schwarzwalds und der Schweiz, wo es nachweislich zu Hungersnöten kam.
Die Menschen darbten nicht überall. Der Historiker Wolfgang Behringer, Professor an der Universität des Saarlandes, veröffentlichte vor zwei Jahren ein Geschichtsbuch über den "Tambora und das Jahr ohne Sommer"; der Autor nennt diesen Titel indes schon in der Einleitung "eine Übertreibung". Das Fahrradthema findet in dem Werk kurz Erwähnung, ohne dass jedoch ein Kausalzusammenhang zwischen Wetter und der draisschen Erfindung hergestellt würde. "Das", sagt Behringer, "wäre auch ziemlich dreist."
Pryor Dodge, Velo-Koryphäe der USA und Autor des Standardwerks "The Bicycle", geht ebenso klar auf Distanz zur Tambora-These. Anfangs sei er versucht gewesen, sie in sein Buch aufzunehmen, erklärte er Lessing im Dezember in einer E-Mail, sehe jedoch "noch immer keine ausreichenden Beweise". Überdies mahnt er den Kollegen: "Ich denke, es ist nicht fair, Kritiker wie Jost Pietsch als ,Stalker' zu bezeichnen."
Lessing beteuert, die hässliche Vokabel sei nicht von ihm selbst, sondern "aus dem Familienkreis" gekommen. Der so Betitelte, stolz in der Rolle des Mythenkillers, sieht sich durch derlei Schmähungen eher geadelt als beleidigt. Die jüngste Zielscheibe seines Spotts ist das Bundesfinanzministerium.
Deutschlands oberste Geldbehörde will in diesem Jahr eine Jubiläumsmünze im Wert von 20 Euro herausgeben. Sie zeigt Drais auf seinem Prototyp, eine Kutsche ohne Pferde und den rauchenden Vulkan im Hintergrund. Die Folgen des Ausbruchs, erklärt das zuständige Bundesamt vorsichtig, "könnten der Anreiz für Karl Drais gewesen sein, über günstigere Alternativen zum Reitpferd nachzudenken".
"Das", feixt Pietsch, "ist staatliche Falschmünzerei."