FLUGZEUGKATASTROPHE Trauer im Heartbreak Hotel
Um 1.49 Uhr und 52 Sekunden, 30 Minuten nach dem Start vom New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen, bahnte sich das Desaster an. EgyptAir-Flug 990 hatte gerade seine Reiseflughöhe von 10 000 Metern erreicht, Flugbegleiter servierten Drinks in der ersten und in der Business-Klasse, als der Jet abrupt in den Sturzflug ging.
Innerhalb von 40 Sekunden, so ergab die Auswertung von Radardaten, sackte die Maschine um 5000 Meter ab. Gut 100-mal schneller, als gewöhnliche Aufzüge von höheren Stockwerken zur Lobby sinken, raste die Boeing 767-300ER ("Extended Range") der Meeresoberfläche entgegen. In etwa 5000 Meter Höhe zog der Jet wie auf einem Achterbahnkurs noch einmal bis auf 7300 Meter hoch, um dann endgültig atlantikwärts zu stürzen. Etwa 3000 Meter über dem Meer brachen Teile vom Aluminiumleib. Das Wrack riss 217 Menschen in den Tod.
Mit dem Absturz der EgyptAir-Maschine am vorletzten Sonntag setzte sich eine unheimliche Unglücksserie fort. Zum dritten Mal innerhalb von nur drei Jahren war ein Großraumflugzeug aus dem Boeing-Konzern kurz nach dem Start von New York abgestürzt: Im Juli 1996 hatte eine Explosion im fast leeren Rumpftank eines TWA-Jumbos zur Katastrophe geführt (230 Tote); im September letzten Jahres fiel die Swissair-Maschine SR 111 nach einem Kabelbrand vor der Küste Neuschottlands mit 229 Menschen an Bord in die Fluten.
Wie bei den vorangegangenen Flugzeug-Abstürzen versammelten sich auch vergan- gene Woche verzweifelte Hinterbliebene im Ramada Plaza Hotel nahe dem Flughafen. Geistliche und Psychologen kümmerten sich um die Trauernden im "Heartbreak Hotel", wie das Ramada inzwischen genannt wird. Was viele der Betroffenen neben dem Verlust ihrer Nächsten bewegt, umschrieb ein Mann aus Seattle, dessen Frau vier Angehörige verlor: "Wir wollen wissen, warum der Jet abstürzte!"
Die Antwort liegt etwa 100 Kilometer südlich der Insel Nantucket in 80 Meter Tiefe auf dem Meeresgrund. In einem Gebiet, in dem Schiffe der U. S. Coast Guard Trümmer der abgestürzten Maschine entdeckten, orteten Sonare das charakteristische "Ping, Ping", mit dem Flugdatenschreiber und Cockpit-Voicerecorder ihre Position im Wasser verraten. Schweres Wetter verhinderte bis Ende vergangener Woche die Bergung.
Die hell orangefarbenen Boxen könnten die entscheidenden Hinweise liefern, ob bestimmte Flugzeugtypen des US-Herstellers Boeing besonders fehleranfällig sind. Mehrfach hatte die amerikanische Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) Nachbesserungen und Inspektionen von Maschinen des Typs B 767 gefordert, die mit Pratt-&-Whitney-Turbinen der PW4000-Serie ausgerüstet sind.
Schon die spärlichen Fakten, die über den Unglücksflug bislang bekannt wurden, liefern erste Hinweise, wie es zu dem Desaster gekommen sein könnte.
Mit über zwei Stunden Verspätung war Flug 990 am Sonnabendabend in Los Angeles gestartet, weil zwei Reifen des Fahrwerks ausgewechselt werden mussten. Nach dem Flug quer über den Kontinent landete die Maschine in New York, nahm weitere Fluggäste für den Elf-Stunden-Flug nach Kairo auf - und raste ins Verderben.
So rätselhaft der jähe Sturzflug von EgyptAir 990 zunächst erschien - er weist deutliche Parallelen zum Absturz einer Lauda-Air-Maschine im Mai 1991 in Thailand auf. Auch damals war die Unglücksmaschine ein Langstrecken-Jet vom Typ Boeing 767-300ER. Wie EgyptAir 990 war auch Lauda Air mit PW4000-Turbinen ausgerüstet. Die Todesjets waren sogar als Zwillinge mit den Produktionsnummern 282 (EgyptAir) und 283 (Lauda Air) aus dem Boeing-Werk in Everett gerollt.
Was bisher über den EgyptAir-Absturz bekannt wurde, ähnelt in der Tat auf fatale Weise der Lauda-Air-Katastrophe vor acht Jahren. 15 Minuten nach dem Start in Bangkok - Lauda-Flug NG 004 war gerade auf 7500 Meter Höhe gestiegen - hatte sich die Schubumkehr (Thrust Reverser) des linken Triebwerks ruckartig geöffnet. Diese Bremshilfe darf eigentlich nur bei der Landung ausfahren und dient dann dazu, einen Teil der Schubleistung der Fahrtrichtung entgegenzulenken.
Der jähe Bremsruck an der linken Fläche drehte den Lauda-Jet in Rückenlage. 29 Sekunden nach dem Reverser-Ruck, so ergaben später Auswertungen des Voicerecorders, zerbarst der Jet in der Luft.
Nach dem Lauda-Absturz hatte die FAA mehrere Sicherheitsauflagen erlassen, um ein neuerliches Schubumkehr-Desaster auszuschließen. Alle mit PW4000-Triebwerken bestückten Boeing-Muster, darunter auch 747-Jumbos, mussten mit einer zusätzlichen Schubumkehr-Sicherung versehen werden.
Die EgyptAir-Maschine wurde 1993 mit einer solchen Reverser-Sicherung ausgestattet. Beim Abflug in Los Angeles hatte die Crew den Reverser des linken Triebwerks sogar deaktiviert, da er defekt war. Die Piloten durften nach internationalen Regularien dennoch starten, weil Landungen auf hinreichend langen Bahnen auch ohne Schubumkehr als sicher gelten.
Trotz der von der FAA in den letzten Jahren erzwungenen Reverser-Modifikationen halten Experten es für plausibel, dass B-767-Jet Nummer 282 das Schicksal seines in Thailand zerborstenen Zwillings 283 teilte. Der jähe Sturzflug der Egypt-Air-Maschine deutet auf eine abrupt aufgetretene, dramatische Lageveränderung des Jets.
Beim Lauda-Air-Unglück war es besonders fatal, dass der Reverser-Ruck im Steigflug, also bei hoher Triebwerksleistung passierte. Diese sorgte für einen entsprechend starken Bremsstrom aus der Schubumkehr. Obwohl die Piloten durch ein Warnlicht minutenlang auf ein mögliches Schubumkehr-Problem vorbereitet waren, hatten sie, wie später Simulationen des Unglücks im Windkanal zeigten, keine Chance, die Maschine in der Luft zu halten.
Die EgyptAir-Maschine hingegen hatte am vorletzten Sonntag bereits ihre Reiseflughöhe erreicht und flog ihren Ostkurs mit etwa 900 Kilometern pro Stunde - was die Absturzgefahr an sich verringerte: Die Ruder sprechen während des Reiseflugs besonders gut an, und der reduzierte Schub müsste auch dem Reverser einen Teil seiner Wirkung genommen haben.
Sollte sich aber etwa der intakte Reverser des rechten Triebwerks ohne jede Vorwarnung geöffnet haben, so könnte das die Crew gleichwohl so überrascht haben, dass mögliche Ruderkorrekturen zu spät kamen - und die Maschine über eine Tragfläche abkippte.
Der eigenartige Berg-und-Tal-Kurs, den das Flugzeug laut Radardaten dann vollführte, wäre vermutlich dem verzweifelten Bemühen der Piloten zuzuschreiben, die Maschine abzufangen. Wie bei einer Achterbahn, wo die stärksten Kräfte beim Übergang aus der Tal- in die Bergauf-Fahrt wirken, hatte das Abfangmanöver ernorme Belastungen zur Folge, die womöglich zu dem Bruch von Teilen der Flugzeugstruktur geführt haben.
Dass es auch nach der zusätzlichen Sicherung der Reverser als Konsequenz aus dem Lauda-Air-Unglück noch Probleme mit der Schubumkehr von PW4000-Turbinen gab, belegt eine im September erlassene FAA-Erklärung. Darin warnt die Luftfahrtbehörde vor einem möglichen Öffnen der Reverser im Flug, ausgelöst durch defekte Sicherungsstifte.
In einem weiteren Schreiben zur Schubumkehr vom 19. Oktober weist die FAA auf Probleme mit Reverser-Führungsschienen an PW4000-Turbinen der Boeing-Modelle 747-400, 767-300 und 767-200 hin. Laut FAA können die Schienen, in denen die beweglichen Teile der Schubumkehr laufen, ausschlagen, was unter Umständen zur Folge hat, dass zwei metallene Halbschalen von etwa zwei Quadratmeter Größe aus dem Triebwerk herausbrechen. Das wiederum könne zu "Schäden an der Flugzeugstruktur und möglicherweise raschem Druckverlust" im Flugzeug führen. Auch sei "eingeschränkte Lenkfähigkeit" zu befürchten, wenn das Leitwerk beschädigt wird.
Ob das Desaster vor der US-Küste tatsächlich durch Kalamitäten mit der Schubumkehr verursacht wurde, werden die Ermittlungen der NTSB-Fahnder zeigen. Für Boeing, den größten Flugzeugbauer der Welt, bedeutet das Unglück in jedem Fall einen weiteren Imageverlust.
Einen Tag bevor die EgyptAir-Maschine abstürzte, erregte die amerikanische Öffentlichkeit die Nachricht, dass Boeing 19 Jahre lang eine Studie unter Verschluss gehalten hatte, die vor Überhitzungsproblemen im Rumpftank von Jumbos warnte. Genau diese Schwäche wurde der TWA 800 zum Verhängnis, als sich Resttreibstoff im Rumpftank erhitzte und vermutlich durch Funkenschlag entzündete. Hätte Boeing die Tank-Studie nicht zurückgehalten, warfen Politiker dem Konzern daraufhin vor, könnten die Passagiere von TWA 800 noch leben.
Einen Tag nach dem EgyptAir-Unglück musste Boeing zudem einräumen, dass Feuchtigkeitsabweiser im Cockpit von 747-, 757-, 767- und 777-Jets nicht den Feuerschutznormen entsprechen. Die Auslieferung von 34 Jets wurde sofort gestoppt, die Umrüstung hunderter bereits ausgelieferter Flugzeuge dürfte folgen.
Boeing, so fasste der Herausgeber des US-Fachblatts "Commercial Aviation Report" die jüngste Pannenserie zusammen, entpuppe sich als ein Unternehmen, "das nichts mehr auf die Reihe kriegt".
ULRICH JAEGER