Kompliziertes Gängesystem
Der Begriff "Vermüllungssyndrom" wurde 1984 von dem Hamburger Mediziner Peter Dettmering geprägt. Der Psychiater war als Amtsarzt in Berlin und Hamburg immer wieder mit total verwahrlosten und vermüllten Wohnungen und deren Inhabern konfrontiert. Er erkannte, dass dem Phänomen eine krankhafte Störung zu Grunde liegt.
Zusammen mit einer Kollegin hat der Arzt seine Erfahrungen in einem Buch zusammengefasst, das Ende Juni erschienen ist*. Im Mittelpunkt steht dabei die Dokumentation von 30 Patientenschicksalen.
Dettmering unterscheidet zwischen Menschen, die zwanghaft Müll sammeln und Personen, denen die Kraft abhanden gekommen ist, irgendetwas wegzu- werfen.
Als höchst unterschiedlich beschreibt der Mediziner den Grad der jeweiligen Vermüllung. Er differenziert zwischen Räumen, in denen noch ein kompliziertes Gängesystem erkennbar ist, völlig chaotisch zugestopften Zimmern und schließlich Behausungen, die so unbewohnbar geworden sind wie das Apartment eines Mannes, dessen Toilette und Bad zugemüllt waren, der nur noch durch ein Oberlicht ein- und aussteigen konnte.
Auslöser der Störung sind laut Dettmering oft traumatische Ereignisse, der Tod eines Partners, eine Scheidung, beruflicher Misserfolg. Betroffen sind überdurchschnittlich viele Alleinstehende, in der Mehrzahl Frauen. Oft spielt auch Alkoholmissbrauch eine Rolle.
Die Abfallmassen werden häufig als eine Art Schutz empfunden. Leere wird als Katastrophe erlebt, Säuberungsaktionen können Panik auslösen. Schon wenige Wochen nach einer Entmüllung entsteht oft der alte Zustand.
Verblüffend: Die meisten Vermüllten sind nach außen völlig unauffällig. Ihr
streng gehütetes Geheimnis wird den Behörden häufig nur durch Zufall bekannt, etwa wenn es in der Wohnung brennt oder wenn Nachbarn wegen Geruchsbelästigung Anzeige erstatten. Oft kommt es dann zu Entmündigungsverfahren.
Bei zahlreichen Patienten werden psychische Erkrankungen diagnostiziert, von leichten neurotischen Störungen über Zwänge bis hin zur Schizophrenie. Die verwahrloste Wohnung ist oft ein wesentliches Symptom der Erkrankung.
Weniger schlimm dran sind die meisten Menschen, die unter die Kategorie der so genannten Messies fallen (englisch: mess = Unordnung). Der Modebegriff aus den USA umfasst nicht nur notorische Sammler, sondern vor allem Chaoten, die ihren Alltag nicht unter Kontrolle kriegen: Vergessliche, Unpünktliche, Unzuverlässige, Schlamper.
Eine ehemals Betroffene, die Amerikanerin Sandra Felton, hat aus der Not eine Tugend gemacht und mehrere Ratgeber für Messies verfasst, die prompt zu Bestsellern wurden. Auch in Deutschland, wo die Zahl der Messies auf bis zu 15 Prozent der Bevölkerung geschätzt wird, hat sie eine große Fan-Gemeinde.
In vielen Städten gibt es inzwischen Selbsthilfegruppen, in denen Messies nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker Leidensgeschichten austauschen können und Unterstützung erhalten. Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen in Osnabrück beraten telefonisch und helfen bei der Therapeutensuche.