SCHADENSERSATZ Millionen-Poker vor Gericht
Niemand erwartet, dass er glücklich wäre, aber reich, wenigstens reich. Schließlich lebt Hans Ephraimson in Amerika, und er hat seine Tochter bei einem Flugzeugabsturz verloren. Macht fünf Millionen Dollar Schadensersatz, zehn Millionen? Keine einzige. "Amerika", sagt Ephraimson, "ist nicht das Klageparadies, für das es Europäer gern halten."
Der gebürtige Berliner wohnt im US-Bundesstaat New Jersey und hat am eigenen Schicksal erlebt, wie schwer es in Wahrheit ist, im Land der unbegrenzten Millionen-Entschädigungen Ansprüche vor Gericht durchzusetzen.
Ephraimsons 23-jährige Tochter Alice saß 1983 mit 269 Menschen im Jumbo der Korean Airlines 007, der von einem sowjetischen Jagdflugzeug abgeschossen wurde. 17 Jahre lang kämpfte Ephraimson in den USA um eine Entschädigung. Eine Jury sprach ihm 2,1 Millionen Dollar zu, ein Berufungsgericht reduzierte die Summe auf 500 000. "Am Ende habe ich keinen Cent gesehen", sagt Ephraimson, das Geld sei für Anwalts- und Gerichtskosten draufgegangen.
Mit gemischten Gefühlen beobachtet deshalb der pensionierte Unternehmensberater, der sich als Ratgeber nach Flugzeugabstürzen wie TWA 800 vor Long Island oder Swissair 111 über Neu-Schottland einen Namen gemacht hat, dass immer häufiger Opfer aus Europa in Amerika ans große Geld kommen wollen. Ob bei Zug- oder Flugzeugkatastrophen, Seilbahnunglücken, der BSE-Krise, Raucherkrebs oder Firmenzusammenbrüchen - wenn etwas schief läuft, sollen es US-Richter richten. Doch viele Klagen enden mit enttäuschten Hoffnungen und dicken Anwaltskosten.
Dass sich die USA längst als "Jury in allen Zivilsachen" versteht, wie es Haimo Schack, Direktor des Kieler Instituts für Privat- und Verfahrensrecht, formuliert, hat mit der Arbeit riesiger Anwaltsfirmen zu tun. Sie reißen sich um jedes Mandat und haben die Streitwerte in die astronomischen Höhen von Mondzahlen getrieben.
Der Sog der großen Summen, gepaart mit unzeitgemäßen Entschädigungsgesetzen in Deutschland, zieht die Kläger förmlich ins Ausland. Zwar hat die Bundesregierung nun zumindest Besserung versprochen: Sie plant etwa, die Geschädigten von Unfällen mit höheren Schmerzensgeldern besser zu stellen. Doch nicht nur Unfallopfer monieren die ungleiche Rechtspflege. Auch für europäische Unternehmen ist die unkalkulierbare Klagepraxis in den USA ein Problem. Seit Jahren versuchen Regierungsvertreter die Spielregeln für transatlantische Streitigkeiten festzulegen. Vergeblich: Das für Oktober 2000 verabredete Haager Gerichtsstand- und Vollstreckungsabkommen liegt auf Eis. Die Europäer wollen keine US-Verhältnisse, und die Amis, so der als Gutachter eingesetzte Professor Schack, "wollen auf ihr Bonanza nicht verzichten".
Auch das Berliner Justizministerium wird langsam ungeduldig. "Die Amerikaner sollten verstehen, dass es Regeln gibt, die auch von ihnen berücksichtigt werden müssen", sagt Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD). Wie die aussehen sollen, steht in einem internen Vermerk des Ministeriums. In den Verhandlungen der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht zielen die Deutschen darauf ab, vor allem die für ihre Konzerne bedrohliche Allzuständigkeit der US-Gerichte einzuschränken. Klagen wie im Fall BSE oder wegen des ICE-Unglücks in Eschede (SPIEGEL 8/2001) würden dann unmöglich. Sie fußen nur darauf, dass eine betroffene deutsche Firma auch in den USA Geschäfte macht. Erließen die eigenwilligen US-Gerichte dennoch weiter solche Urteile, sollen diese "in den anderen Staaten weder anerkannt noch vollstreckt" werden müssen, fordert das deutsche Justizministerium.
Bisher haben die Amerikaner, zuletzt in der vergangenen Woche auf einer Konferenz im kanadischen Ottawa, wenig Bereitschaft erkennen lassen. Mit der Tendenz, sich für zuständig zu erklären, betrieben die Vereinigten Staaten "aktiv Wirtschaftspolitik", urteilt Schack: "Ausländische Unternehmen werden nicht selten wie Freiwild betrachtet."
Die Hoffnungen von Geschädigten und Hinterbliebenen, in den USA herauszuholen, was in Europa nicht reinzuholen ist, ruhen auf dem "long-arm-statute", dem langen Arm der amerikanischen Gerichte. Sie können sich schnell und überall für zuständig erklären, laut US-Supreme Court schon dann, wenn ein "minimum contact" erfüllt ist - eben wenn deutsche Firmen Töchter in den USA haben.
Um aber die heimische Industrie vor Klagen aus dem Ausland und die Gerichte vor Überlastungen durch europäische Prozesshansel zu schützen, hat der amerikanische Gesetzgeber auch eine Barriere eingebaut: Richter können den Fall nach freiem Ermessen ablehnen, wenn sie der Meinung sind, dass die Klage eher im Ausland verhandelt werden sollte.
Fachleute halten deshalb die Ankündigungen des Münchner Anwalts Michael Witti und seines amerikanischen Kollegen Ed Fagan, in den Staaten für die Hinterbliebenen des Seilbahnunglücks von Kaprun und die BSE-geschädigten Bauern Schadensersatz einklagen zu wollen, für Tamtam auf der PR-Pauke. Das Duo hatte vor zwei Wochen eine "Hotline für BSE-Geschädigte" eingerichtet. Weil sich die Beweise in Europa befänden, sagt der in den USA zugelassene Berliner Anwalt Elmar Giemulla, "dürfte sich kein US-Gericht damit befassen wollen".
Mitunter sind die Klagedrohungen nur Muskelspiele, um Vergleichsverhandlungen zu beschleunigen. Und die Strategie funktioniert. Denn die angegriffenen Firmen riskieren nicht nur, von einer Laienjury zu exorbitanten Summen verurteilt zu werden. Richter können auch die Ausforschung aller Beweismittel beschließen - dann müssen die Unternehmen sämtliche Geschäftsunterlagen herausrücken. Das ist vielen Firmen unangenehm; noch dazu ist es teuer, weil jede Partei selbst dann ihre Anwälte bezahlen muss, wenn sie gewinnt. Kosten pro Anwaltsstunde: um 500 Dollar.
So beschleunigte das juristische Säbelrasseln auch die Verhandlungen im Fall der verunglückten Concorde. Der Mönchengladbacher Anwalt Christof Wellens reichte unter anderem eine Klage gegen Continental Airlines ein, um am Unglück beteiligte amerikanische Firmen an den Verhandlungstisch zu zwingen. Giemulla, der zusammen mit dem ehemaligen Bundesinnenminister Gerhard Baum mehrere Angehörige vertritt, zog mit sechs Klagen nach. Seitdem kommen die Verhandlungen gut voran. "Bevor die erste Concorde wieder in die Luft geht", prophezeit Wellens, "werden wir uns geeinigt haben." Die Hinterbliebenen könnten für jeden Toten im Schnitt rund eine Million Dollar bekommen - Beträge, mit denen auch Opfer in den USA entschädigt werden.
Was für Summen im Vergleich zum Almosen für die deutschen Hinterbliebenen des Crashs der Birgenair 1996 vor der Dominikanischen Republik. Sie mussten sich zumeist mit 40 000 Dollar begnügen. Mehr sei nicht drin gewesen, sagt Claus Weisner, der Präsident von "Echo Deutschland" - einem Verein, der sich um Opfer von Flugzeugkatastrophen kümmert. Zusammen mit Fachmann Ephraimson hatte er überlegt, den Flugzeughersteller Boeing zu verklagen, doch "die Gefahr, dass US-Richter den Fall zurückweisen, war zu groß".
Anwälte wie Baum drängen deshalb darauf, die Gesetze zu modernisieren, damit Opfer in Deutschland mehr Schadensersatz erhalten und erst gar nicht ins Ausland ziehen wollen. Deutsche Export-Unternehmen wünschen sich zudem internationale Abkommen, um die Gefahr von Klagen besser abschätzen zu können - besonders nach dem Fall BMW: Der Neuwagen eines Manns aus Alabama hatte einen Lackschaden; mickrige 4000 Dollar hätte die Reparatur gekostet. Doch der Kunde zog vor Gericht und bekam - in der ersten Instanz - sagenhafte vier Millionen Dollar zugesprochen. Begründung: angeblich böswilliger Betrug von BMW.
Über den Schadensersatz hinaus können die Geschworenen eines Zivilprozesses nämlich eine Strafe ("punitive damages") festlegen. Dabei greifen die oft aus kleinen Verhältnissen stammenden Laienrichter den Multis gern in die Tasche - besonders wenn die aus dem Ausland kommen. Eine Klage, so Friedrich Kretschmar, Leiter der Rechtsabteilung des Bundesverbands der Deutschen Industrie, kann deshalb "wie ein Lottogewinn" sein. US-Kanzleien hätten sich auf solche Prozesse spezialisiert. "Und niemand entwickelt so viel Phantasie wie Anwälte", weiß Jurist Kretschmar, " wenn es um viel Geld geht."
Weil die "Sorgen der Unternehmer virulent" seien und sie "Kalkulationssicherheit" bräuchten, will Baden-Württembergs Justizminister Ulrich Goll das Thema auf die Tagesordnung der nächsten Justizministerkonferenz setzen. Berlin müsse auf die USA einwirken, so der FDP-Mann, "dass nicht deutsche Firmen nach Belieben in Amerika vor Gericht geschleppt werden". Denn wie unberechenbar die amerikanische Justiz ist, hat die deutsche Industrie in der letzten Woche zu spüren bekommen. Am vergangenen Mittwoch lehnte es Shirley Wohl Kram, 78, Richterin am Bundesgericht Manhattan ab, eine Sammelklage von Zwangsarbeitern gegen deutsche Banken abzuweisen.
Auf alles vorbereitet haben sich auch die deutschen Krankenkassen, die nach Amerika schauen. Am vergangenen Donnerstag hatte ein Gericht in Jacksonville erstmals einen Zigarettenhersteller dazu verurteilt, einem einzelnen Raucher für seinen Lungenkrebs Schadensersatz zu zahlen. Die Höhe: 1,1 Millionen Dollar.
Wegen immenser Ausgaben für krebskranke Raucher klagen derzeit bereits US-Krankenversicherer gegen Tabakkonzerne. Dem wollte sich die Barmer Ersatzkasse zunächst anschließen. Sie sei dann aber, so Jürgen Ciesla von der Regressabteilung, "vor den hohen Kosten zurückgezuckt". Jetzt warten die Deutschen ab. Sind die US-Krankenversicherer erfolgreich, sagt Ciesla, "legen wir mit Klagen nach". UDO LUDWIG, GEORG MASCOLO