ZEITGESCHICHTE „Daumen auf das Auge“
Rund 30 Jahre lang hat die kämpferische Sozialistin die Feder gewetzt. Gegen den Zar und den Kaiser, das Militär, die Bourgeoisie und gegen ihre Parteifreunde. Sie schrieb Bücher, Leitartikel und Briefe ohne Zahl, noch am Tag vor ihrer Ermordung teilte sie der Welt mit: Schon morgen werde sich die Revolution "rasselnd wieder in die Höh'' richten", mit "Posaunenklang" und zum Entsetzen aller "stumpfen Schergen".
Die kleine, nicht einmal 1,50 Meter messende Person aus Zamost in Russisch-Polen, geboren 1871 als Tochter eines jüdischen Kaufmanns, war der rhetorische Schrecken der Kaiserzeit. 83 Jahre nach ihrem Tod haben Luxemburg-Deuter jetzt erneut steigende Konjunktur, die Debatten füllen Leserbriefspalten der "Frankfurter Allgemeinen" wie des "Neuen Deutschland". Allen Sparzwängen zum Trotz hat sich nun der neu gebildete rotrote Berliner Senat vorgenommen, Rosa Luxemburg auf dem nach ihr benannten Platz im Stadtteil Mitte ein Denkmal zu
setzen, nicht das erste in der Hauptstadt (siehe Grafik).
Verhaltene Skepsis meldet inzwischen die Historische Kommission der SPD an; ihr Vorsitzender Bernd Faulenbach rät, "hinter dem Mythos" die geschichtliche Wirklichkeit der Politikerin in den Blick zu nehmen. Für richtigen Streit wird der "Künstlerische Wettbewerb" sorgen, den der SPD-PDS-Senat für das neue Luxemburg-Denkmal demnächst ausloben will. Die Koalitionsvereinbarung schreibt das Projekt ausdrücklich fest. In Rosa Luxemburg sollen die alte klassenkämpferische SPD der Kaiserzeit und ihre Tochter, die revolutionäre KPD, geehrt werden, außerdem die Emanzipation und der politische Märtyrertod.
An Sympathisanten für diese historische Vielzweck-Offerte fehlt es in Berlin nicht: Alljährlich ziehen Mitte Januar Tausende in einer Demo zum Grab von Rosa Luxemburg und ihrem Mitstreiter Karl Liebknecht, der in der gleichen Nacht erschlagen wurde.
Die anhaltende Faszination durch die energische Klassenkämpferin beruht offenbar auf der Dreieinigkeit von revolutionären Taten (sie geriet immer mal wieder in Haft, alles in allem mehr als vier Jahre), mörderischem Ende und dem Umstand, dass sie neben boshaften Bemerkungen viele an Herz und Hand rührende Merksätze hinterlassen hat:
* "Das Vaterland der Proletarier ist die sozialistische Internationale" (1904, auf dem Sozialistenkongress in Amsterdam).
* "Bei Gott, die Revolution ist groß und stark" (1906, nach der Entlassung aus dem Warschauer Gefängnis).
* "Ein Sozialdemokrat flieht nicht. Er steht zu seinen Taten und lacht Ihrer Strafen. Und nun verurteilen Sie mich!" (1914, vor Gericht in Frankfurt am Main).
* "Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen" (1915, während des Ersten Weltkriegs).
* "Ich werde bei der nächsten Möglichkeit wieder dem Weltklavier mit allen zehn Fingern in die Tasten fallen, dass es dröhnt" (1917, aus dem Zuchthaus in Wronke, Provinz Posen).
* "Mit faulen Menschen kann man keinen Sozialismus verwirklichen" (1918, kurz nach dem Sturz des Kaiserreichs).
Ihr berühmtester Satz, im Breslauer Gefängnis 1918 niedergeschrieben und erst nach ihrem Tod von ihrem Ex-Verteidiger und Liebhaber Paul Levi 1922 publiziert, lautet im Original: "Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden."
Die Sentenz, mittlerweile meist durch ein "nur" veredelt ("Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden"), hat die Welt umrundet. DDR-Dissidenten trugen sie 1988 bei der Liebknecht-Luxemburg-Demo tapfer voran, nur wenige Sekunden lang. Dann machte die Stasi dem Spuk ein Ende. In jeder besseren Talkshow kommt die Einsicht vor, und neue Bücher zum alten Thema gibt es immer wieder.
Autor des neuesten Werks ist Manfred Scharrer, 57, Leiter der badischen Ver.di-Bildungsstätte**. Scharrer, der vor Jahrzehnten schon über die Arbeiterbewegung und Rosa Luxemburg promoviert hat, stieg bis zum Urgrund der Mythen hinab.
Das geflügelte Wort entstammt der dünnen Broschüre "Die Russische Revolution. Eine kritische Würdigung". In ihr geht die eingesperrte Kämpferin mit Lenin und Trotzki hart ins Gericht: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit." Hellsichtig prophezeit sie Russland die "Diktatur einer Hand voll Politiker" über den ganzen Rest des Volkes. Konsequenterweise stellten Stalin und der KP-Führer Ernst Thälmann in späteren Jahren diese ideologische Vorausschau als "Luxemburgismus" unter harte Strafen.
Das war insofern ungerecht, als die Autorin in derselben Schrift wenige Seiten später ein temperamentvolles Plädoyer für die "Diktatur des Proletariats" niedergelegt hat: "Sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen", rät sie. Auf die "Sicherung der bürgerlichen Demokratie" solle man pfeifen.
Polemisch war und blieb sie, in Wort und Schrift und in fünf Sprachen (polnisch, russisch, deutsch, französisch, englisch). Aus dem nachgelassenen riesigen OEuvre des "Adlers" der Revolution, so nennt Lenin sie, aber erst nach ihrem Tod, kann deshalb jeder Interessierte alles herauslesen - und von fast allem auch das Gegenteil.
Dem Feinde galt das Rezept: "Daumen auf das Auge und Knie auf die Brust." Einige Parteifreunde wollte sie 1909 "ohne Umstände erschießen" lassen. Über Lenin (der hatte eine kalmückische Großmutter und sah deshalb ein bisschen mongolisch aus) urteilte sie, er habe "eine gar so hässliche Fratze". Ihren SPD-Übervater August Bebel nannte sie einen "Greis", den österreichischen Sozialistenchef Victor Adler einen "arroganten Juden". Der revanchierte sich und schimpfte die Frau Dr. Luxemburg ein "giftiges Luder".
Zwar waren, seit Karl Marx ab 1848 den Ton vorgab, gröbste Beleidigungen unter Genossen nichts Ungewöhnliches; so nannte Marx den Arbeiterführer Ferdinand Lasalle einen "jüdischen Nigger", einen blöden noch dazu. Erst Rosa Luxemburg erhob die Verbalinjurie jedoch zur Alltagswaffe, oft kombiniert mit derben Übertreibungen.
Von der sozialistischen Organisation der Polen in Deutschland behauptete sie 1901 kess, das sei "nur eine Hand voll Krakeeler, die bequem auf einem Sofa Platz" hätten. Ihre deutschen Genossen nannte sie nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs "Schildknappen des Imperialismus", einen "Haufen organisierter Verwesung".
Überhaupt die Deutschen! Nach einer Scheinheirat mit dem preußischen Arbeiter Gustav Lübeck 1898 (der wollte nicht so richtig, wurde aber von seiner parteitreuen Mutter dazu gezwungen) zog die in Zürich zum Doctor juris publici et rerum cameralium promovierte Ex-Polin nach Berlin. Da sie knapp bei Kasse war, landete sie in einem Moabiter Hinterhof. "Auf Schritt und Tritt fehlt mir jetzt die wohltuende Gemütlichkeit und die Kultur der Schweiz. Und auch die Reinlichkeit!" Ratlos schrieb sie nach Zürich: "Na, ich weiß nicht, woher das Märchen von den reinlichen deutschen Hausfrauen stammt; ich habe hier noch keine einzige gesehen."
Je länger Rosa Luxemburg im Gefängnis saß, desto schwankender wurden ihre Stimmungen. Mal schwärmte sie von den "Massen" und der "Weltrevolution", mal sehnte sich die 47-Jährige nur noch nach ihrer Katze Mimi.
Rückblickend fällt die Bilanz ihres Lebens düster aus. Es ist ihr nicht gelungen, von allen Deutschen als Deutsche akzeptiert zu werden; Konservative sprechen abwertend von der "galizischen Jüdin". Bebel nennt sie eine "Giftmischerin". Luxemburgs angeborene doppelseitige Hüftgelenkverrenkung ist seinerzeit unbehandelbar; auch weite Röcke können ihr Hinken nicht verbergen. Der Wunsch nach Ehe und Familie - "und vielleicht noch ein kleines, ganz kleines Baby?" - bleibt unerfüllt. Keiner ihrer Liebhaber macht ihr einen Heiratsantrag.
Auch auf die "Massen" ist kein Verlass. Erst am allerletzten Tag des Kaiserreichs kommt sie frei, niemand holt sie am Gefängnis ab. Die von ihr und Karl Liebknecht geleitete revolutionäre Organisation "Spartakusbund" hat in der Millionenstadt Berlin nur 50 Mitglieder (nach anderen Angaben sogar bloß 31).
Trotzdem stürzt sie sich in den "letzten Klassenkampf der Weltgeschichte". Gemeint sind einige lokale Scharmützel, von denen die meisten Berliner gar nichts merken. In der "Roten Fahne" trommelt sie: "Auf, Proletarier! Zum Kampf!" Aber die wollen nicht.
Am 15. Januar 1919 werden Luxemburg und Liebknecht in ihrem Versteck von einer "Bürgerwehr" aufgestöbert. Man bringt sie in das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division im Hotel Eden. "Rosa, du alte Hure", begrüßt sie der Dienst habende Offizier erfreut.
Auf dem Weg zum Auto, das die Revolutionärin angeblich in das Gefängnis Moabit bringen soll, schlägt sie der Jäger Otto Wilhelm Runge, 44, mit zwei Kolbenhieben bewusstlos. Dann wird sie erschossen, schließlich wirft man sie in den Landwehrkanal. Runge war, ehe er für den Kaiser in den Krieg zog, ein Arbeiter.
HANS HALTER