15.07.2002
FAHRRÄDERVelo mit Turbolader
Ein neues Hightech-Fahrrad hängt selbst Motorroller ab. Dank Elektrounterstützung erreicht es Spitzengeschwindigkeiten von fast 100 Stundenkilometern.
Es sieht aus wie ein relativ normales Fahrrad mit ungewöhnlich dicken Rahmenrohren. In einer Hinsicht jedoch ist das Schweizer Velo namens "IntelliBike" ganz besonders: "In der Stadt", sagt Chefentwickler Professor Andrea Vezzini, "fährt es den Autos davon."
Schon ein durchschnittlich trainierter Pedaltreter erreicht mit dem silbrig glänzenden Veloziped ohne große Mühe deutlich über 50 Stundenkilometer, könnte also auf der Tour de France spielend der Spitzengruppe davonstrampeln. Allerdings würde er ebenso schnell disqualifiziert: Das Reglement schließt Sportgeräte mit Zusatzantrieben aus.
IntelliBike, das jüngste Projekt der Ingenieurschule Biel, ist die bislang spektakulärste Fortentwicklung eines uralten Fahrzeugtyps, der nie als besonders attraktiv galt: Fahrräder mit Hilfsmotor, elektrisch oder benzinbefeuert, waren stets träge, unsportliche Gefährte, völlig ungeeignet für die junge Hauptzielgruppe des Zweiradmarkts.
Ganz anders das IntelliBike. Vezzini sieht in dem E-Rad "eine lustvolle Alternative zum Motorroller". Der Motor des Gefährts schaltet sich nicht etwa zu, wenn die Muskelkraft knapp wird. Elektronisch gesteuert, unterstützt er den Radler vielmehr umso stärker, je kräftiger dieser in die Pedale tritt. So entsteht eher der Effekt eines Turboladers als der eines Flautenschiebers. Im Extremfall kann sich die Antriebsleistung eines durchtrainierten Radprofis (etwa 500 Watt) mit 1,1 Kilowatt des Nabenmotors zu einem mittleren Moped-Wert von über zwei PS summieren. Zusammen mit dem geringen Fahrwiderstand des 24 Kilogramm leichten Rades ergibt sich ein Spitzentempo um 100 Stundenkilometer.
Eigentlich ist IntelliBike ein Abfallprodukt aus bisher erfolglosen Forschungsbemühungen. Denn ursprünglich hieß das Ziel, ein gebrauchstüchtiges Elektroauto zu schaffen. In der Schweiz gilt die Ingenieurschule Biel als Zentrum für alternative Antriebe. Hier ließ der Uhren-Manager Nicholas Hayek die ersten Prototypen eines Swatch-Mobils mit Stromantrieb entwickeln, ehe Volkswagen und später Daimler-Benz (dann DaimlerChrysler) als Partner mitmischten. Das Ergebnis war letztlich der Smart mit konventionellem Verbrennungsmotor - "ein geschrumpftes Normalauto", spottet Vezzini.
Bis heute haben die Forschungen der Bieler Alternativtechniker zu keinen alltagstauglichen Fahrzeugen geführt. Aufsehen erregt die Ingenieurschule immerhin in einer exotischen Rennsportdisziplin: Bei der australischen Öko-Wettfahrt "World Solar Challenge" gewann das Sonnenstrom-Vehikel "Spirit of Biel", eine rochenflache, mit Siliziumzellen gespickte Seifenkiste, mehrfach den Weltmeistertitel.
In Anlehnung an den Rekordwagen heißt das E-Rad-Projekt nun "Spirit of Bike". Mit zwölf Kollegen und Studenten schuf Vezzini im vergangenen Jahr binnen fünf Monaten einen Prototyp und eine Kleinserie von vier Strom-Velos.
Noch ist das IntelliBike ein reiner Exot, fernab jeglicher Vermarktungschance. Bisher floss etwa eine halbe Million Euro in das Projekt. Eines der E-Räder wäre demnach teurer als ein Luxus-Mercedes mit Zwölfzylinder.
Zwar ließe sich der Kohlefaserrahmen im Serienbau durch eine weit günstigere, konventionelle Metallkonstruktion ersetzen. Als größtes Problem jedoch bliebe die Batterie.
Ein Lithium-Polymer-Akku, untergebracht in der Längsstrebe des Rahmens, versorgt das IntelliBike mit Strom. Der enorm effektive Batterietyp wird auch in Handys eingesetzt, kostet aber in der für das Rad benötigten Größe derzeit allein etwa 6000 Euro.
Nur ein solcher Stromspeicher jedoch macht ein Elektrofahrrad wirklich attraktiv. Mit seiner enormen Energiedichte hält er, 6,9 Kilogramm leicht, zwei Stunden Dauerbetrieb bei zügigem Tempo durch und lässt sich in weiteren zwei Stunden wieder voll aufladen.
Sollte ein Preissturz auf dem Batteriemarkt zum baldigen Durchbruch des IntelliBike führen, könnte das Auslösen urbaner Radarfallen zu einer neuen Form des Freizeit-Radsports avancieren. Die besten Werte dürften dabei nicht unbedingt kraftstrotzende Muskelmänner erzielen.
Das zeigte sich auf einer Demonstrationsfahrt im Rahmen der jüngsten australischen "World Solar Challenge". Mit einem Team aus Amateuren und Freizeitsportlern erreichte die "Spirit-of-Bike"-Truppe ein Durchschnittstempo von 66 Stundenkilometern über 3025 Kilometer. Zu den Fahrern zählte Duathlon-Weltmeister Urs Dellsperger, von dem alle erwarteten, er würde den absoluten Rekordwert erstrampeln. Der Extremsportler erreichte 96,6 Stundenkilometer.
Eine zierliche Frau jedoch triumphierte über den breitschultrigen Hünen. Mit 99,2 Stundenkilometern erreichte die Büroangestellte Sandra Stierli den besten Wert, der bislang auf dem IntelliBike erradelt wurde. In diesem Geschwindigkeitsbereich, so lernten die Bieler Ingenieure, fällt Windschlüpfrigkeit mehr ins Gewicht als schiere Muskelkraft. CHRISTIAN WÜST
Von Christian Wüst
DER SPIEGEL 29/2002
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