15.07.2002
FILMVirtuose der Verweigerung
„Ich liebe das Rauschen des Meeres": verlockend harmloser Titel für ein vertracktes Psychodrama aus Italien.
Ein Problemkind, wie Signore Luigi feststellen muss: der Vater im Knast, die Mutter erschossen, ein Halbwüchsiger im ländlich-ärmlichen Kalabrien, wo noch die Regionalmafia N'Drangheta die Schicksalsfäden zieht. Luigi, der reiche Verwandte aus Turin, im Sommer zu Besuch bei der Mamma im Süden, wo die ganze Familie stolz ist auf den, der es im Norden zu etwas gebracht hat, fühlt sich herausgefordert, seinerseits Schicksal zu spielen, als er vom Unglück des jungen Rosario hört, der als schwer erziehbar gilt und eigensinnig sogar das Schmerzensgeld abgelehnt hat, das ihm nach dem Tod der Mutter diskret angeboten wurde.
Also sorgt Luigi gönnerhaft dafür, dass der 15-Jährige nach Turin und in die Obhut eines Priesters kommt, der ein Wohnheim für schwierige Jugendliche betreut; nebenbei hofft Luigi wohl, die Bekanntschaft mit Rosario könnte auch den gleichaltrigen eigenen Sohn Matteo, den er für einen gelangweilten Faulpelz hält, aus seiner Lebensunlust herausreißen.
Die Begegnung, in der Tat, wird zu einer Herausforderung: Der vermeintliche Jungkriminelle erweist sich als ein seltsamer Heiliger, der durch seine pure Präsenz Unbehagen bereitet und mit asketischem Ernst die reiche Verwandtschaft beschämt: Nicht einen Millimeter lässt er sich von seiner unausgesprochenen Überzeugung abhandeln, dass das Rauschen des Meeres mehr wert sei als aller Trubel der großen und schönen Welt.
Er ist zart und blass und linkisch und unbeugsam, und wenn man ihm mit Güte zu schmeicheln versucht, erinnert dieser Rosario in seinem sanften Eigensinn an den berühmten Verweigerungsvirtuosen Bartleby. So entwickelt sich - mit einer Dynamik, die man der schlichten Ausgangskonstellation kaum zugetraut hätte - ein kompliziertes Kräftemessen, bei dem jeder sich irgendwann der eigenen Halbheit und Unzulänglichkeit stellen muss. An Weihnachten pflegen, wie man weiß, Familiendramen ihrer Kulmination zuzustreben, man pflegt einander aber auch, wie es sich ge hört, die gegenseitige Wertschätzung durch wertvolle Geschenke zu bekunden, und Rosario hat für Luigi wie für dessen Geliebte etwas überraschend Passendes: für jeden ein Pusteröhrchen, um schön schillernde Seifenblasen zu machen.
Der Erfinder und Erzähler dieser Geschichte, Mimmo Calopresti, 47, gehört zu einem Grüppchen italienischer Filmemacher - der erfolgreichste und berühmteste unter ihnen ist Nanni Moretti -, die mit einer gewissen widerstandsfähigen Hartnäckigkeit nur die Filme machen, die ihnen richtig und wichtig erscheinen: Filme, die mit eher unitalienischem Understatement und unitalienischer Nüchternheit oder Genauigkeit in gleichnishaften, sich vielschichtig entwickelnden Geschichten der geheimeren moralischen Verfassung der Gesellschaft nachspüren; Filme, die mit einigem Trotz die Desillusioniertheit der Linken als eine Erkenntnis hochhalten, die es noch wert ist, gegen den Zynismus der Zeit verteidigt zu werden.
Nanni Moretti, gewiss Caloprestis wichtigstes Vorbild, hat die Hauptrolle in dessen erstem Film "Das zweite Mal" gespielt, der von Spätfolgen des Terrorismus handelte; und wie Moretti tritt Calopresti inzwischen, obwohl er sich nicht eigentlich als Schauspieler versteht, in seinen Filmen selbst auf, in "Ich liebe das Rauschen des Meeres" spielt er, sinnfällig, den so gutwilligen wie überforderten Priester im Jugendheim, dem das Bewusstsein der Relativität seiner Absichten und Erfolge eine tiefe Müdigkeit ins Gesicht zeichnet.
Rosario, der das Meer liebt, ist mit seinem frommen Eifer kein Glücksbringer. Die Beziehung zwischen ihm und dem gleichaltrigen Matteo steht - während die Erzählung sich durch den Herbst auf das Weihnachtsfest zubewegt - Mal um Mal auf der Kippe zwischen Anziehung und Aggression, und Vater Luigi, der kleine Kalabrier, stolz gebläht, weil ihm durch Heirat der Aufstieg ins Turiner Großbürgertum gelungen ist, beginnt irritiert zu spüren, wie seine ganze, schwer erarbeitete Selbstgewissheit zerbröselt.
Dass seine Frau, Matteos Mutter, Ex-Schauspielerin, sich schon vor Jahren nach einer kurzen Gastrolle bei Mutter Teresa in Kalkutta aquarellmalend in eine depressive Weltflüchtigkeit verabschiedete, scheint ihn nicht erschüttert zu haben; er kehrte umso energischer in der schwiegerväterlichen Firma den Boss heraus - nun aber, mit diesem störrischen Esel Rosario konfrontiert, wird er sich selbst fragwürdig: Was für ihn wie für seinesgleichen bislang unter "business as usual" lief (gelegentliche Kartellabsprachen oder Durchstechereien, bei Bedarf ein paar Callgirls für gute Kunden, notfalls auch Erpressung von Gewerkschaftsleuten), war das nicht genauso mafios wie das Brauchtum der Landsleute im verachteten Süden, von dem er sich einst abgestoßen hatte?
Und der Sohn Matteo, der, schon nicht mehr erreichbar, im Sog einer selbstzerstörerischen Gleichgültigkeit davonzutreiben scheint? "Warum hasst du mich so sehr?", fragt ihn der Vater unter dem Weihnachtsbaum. Wenn man nur wüsste. Der Zusammenbruch, wie ihn Calopresti erzählt, geschieht sanft, wie in Zeitlupe. Seifenblasen sind keine Antwort, aber es gibt auch keine bessere. URS JENNY
Von Urs Jenny
DER SPIEGEL 29/2002
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