NAZI-VERSCHWÖRUNG Nau-Nau
Der praktische Arzt und Geburtshelfer Dr. med. Heinrich Haselmayer, 46, war gerade beim Abendessen, als es am Mittwoch vergangener Woche gegen 22.20 Uhr an seiner Wohnungstür in der Hamburg-Bergedorfer Chrysanderstraße 32 langanhaltend klingelte. Dr. Haselmayer wurde nicht mehr satt. Dem Hausmädchen, das die Tür öffnete, erklärten zwei Zivilisten, sie seien "alte Bekannte des Doktors" und hätten ihn gern gesprochen. Dem inzwischen vom ersten Stock des Einfamilienhauses herbeigeeilten Dr. Haselmayer erklärten die "alten Bekannten" jedoch, sie seien Beamte der britischen Militärregierung, hätten einen Haftbefehl gegen ihn und müßten das Haus durchsuchen.
Einer der beiden Zivilisten drehte sich daraufhin dem im Dunkel liegenden Garten zu und hob die Hand. Im Laufschritt näherten sich 15 mit Maschinenpistolen bewaffnete Militärpolizisten. Gemesseneren Schrittes folgten ihnen ein blauuniformierter Offizier der Public Safety und ein Dolmetscher, ebenfalls Engländer. Insgesamt 18 Personen betraten das Haus und verteilten sich auf die einzelnen Räume. Um das Haus herum standen weitere zwölf bewaffnete Militärpolizisten. Mit zwei Personen- und einem Lastkraftwagen waren die Briten in der Chrysanderstraße angerückt.
In der Wohnung des Dr. Heinrich Haselmayer befanden sich außer ihm um diese Zeit noch das Hausmädchen und die vier Kinder des Arztes im Alter von 4, 9, 12 und 15 Jahren. Sie wurden von zwei Militärpolizisten geweckt, in ein Nebenzimmer verfrachtet und dort von einem Engländer bewacht. Ihnen wurde auferlegt, sich ruhig zu verhalten. Die häufigen Bedürfnisse der vierjährigen Christiane durften nur unter militärpolizeilicher Aufsicht verrichtet werden. Sobald sich die Kinder im Zimmer lauter unterhielten, als es dem wacheschiebenden Militärpolizisten recht war, rief er sie zur Ruhe.
Die Frau des Dr. Haselmayer platzte unvorbereitet in das Durcheinander hinein, als sie gegen 24 Uhr nach Hause kam. "Ich dachte an einen Verkehrsunfall, als ich die vielen Menschen sah; daß es Uniformierte waren, habe ich zunächst gar nicht bemerkt", erinnert sich Frau Haselmayer. Sie wurde schnell aufgeklärt. Als sie ihren Mann sprechen wollte, wurde ihr dies verweigert. Auch die Kinder durfte sie nicht sprechen. Die Kleinen warteten noch immer, nur mit Nachthemden bekleidet, in dem ungeheizten Zimmer auf eine Erklärung über das ungewöhnliche Treiben der Briten, die auch auf die im Schulenglisch vorgetragenen Anknüpfungsversuche des ältesten der vier Kinder nicht reagierten.
Erst auf energische Vorstellungen der Frau Haselmayer, daß es unverantwortlich sei, die Kinder so lange wach zu halten, noch dazu in einem ungeheiztem Raum - "meine Kinder müssen früh in die Schule" - wurde ihnen gestattet, ihr Schlafzimmer wieder aufzusuchen. Sie fanden die Betten nicht mehr so vor, wie sie sie verlassen hatten. Es war kurz vor 1 Uhr, und die britische Aktion war beendet.
Über das, was von 22.20 Uhr bis 1 Uhr geschehen war, berichtet Frau Haselmayer: "Sämtliche vier Praxisräume und die Küche im Erdgeschoß sowie die vier Wohn- und das Badezimmer im oberen Geschoß
wurden während der zweieinhalbstündigen Haussuchung auf den Kopf gestellt. Während zwei Militärpolizisten die Bettbezüge von jedem der vier Kinderbetten abzogen, selbst die Kopfkissenbezüge entfernten und die Matratzen umdrehten, beschäftigten sich andere Engländer damit, die 750 Bände starke Bibliothek meines Mannes aufzulösen.
"Jedes Buch wurde herausgenommen, durchgeblättert und auf den Fußboden gelegt. Im Küchenschrank und im Büfett wurde jede Tasse und jeder Teller hochgenommen. Kein Schubfach in keinem Schrank blieb unberührt. Ich fragte mehrmals: ''Was suchen Sie eigentlich, darf ich Ihnen behilflich sein?'', erhielt aber keine Antwort. Jede Anzug- oder Kleidertasche wurde umgedreht, und die Wäschestapel wurden einzeln abgenommen. Auch der WC-Wasserkasten blieb nicht verschont, und aus meiner Kommode holten die Engländer meine Schulzeugnisse und meine Kinderbriefe hervor, um sie genauestens durchzulesen.
"Als einer der englischen Zivilisten in einem Telephonbuch dann entdeckte, daß verschiedene Nummern angestrichen waren, wurden sämtliche anderen Telephonverzeichnisse eingesammelt. Mein Mann hatte die Angewohnheit, Rufnummern, wie den Krankentransport etwa, im Verzeichnis anzustreichen, damit er die fragliche Nummer schnell wiederfand. Aus den Photoalben wurden die Bilder herausgenommen.
"Erst kurz vor Beendigung der Suchaktion durfte ich meinen Mann sprechen, unter Aufsicht von vier Engländern. Er hat mir in Anwesenheit der Bewacher schnell die wichtigsten Dinge, die ich nun zu erledigen hätte, diktiert. Ein Offizier erklärte mir dann, ich solle Marschverpflegung für meinen Mann für acht Stunden, zwei Anzüge, Wäsche und Rasierzeug einpacken.
Ich hatte kein Brot im Hause. Der Offizier sagte darauf: ''Na, es geht auch so.'' Auf alle Fragen, warum man meinen Mann abführt, bekam ich keine Antwort. Nicht einmal vorgestellt haben sich die Engländer."
Bis in die Morgenstunden hatte Frau Haselmayer dann zu tun, um die Wohnung wieder aufzuräumen. Nur die Bücher hatten die Engländer wieder in die Regale gestellt. Bis auf die Telephonbücher wurde nichts mitgenommen und nichts gefunden.
Erst durch die Mittagszeitung am Donnerstag erfuhr Frau Haselmayer, was es mit dem nächtlichen Besuch für eine Bewandtnis gehabt hatte:
Zum ersten Mal seit Kriegsende war im Foreign Office in London morgens früh kurz nach 7 Uhr eine Pressekonferenz abgehalten worden. Der Chef der Presseabteilung, Mr. Ridsdale, der sonst nur selten bei solchen Gelegenheiten erscheint, verteilte persönlich das Kommuniqué über die Vorgänge in der britischen Zone Deutschlands während der noch kaum abgelaufenen Nacht, denen auch der praktische Arzt und Geburtshelfer Haselmayer in Hamburg-Bergedorf zum Opfer gefallen war:
"Es ist den britischen Behörden seit einiger Zeit bekannt, daß eine Gruppe ehemaliger führender Nazis sich mit Plänen zur Wiederergreifung der Macht in Westdeutschland befaßt... Im Einklang mit den ihnen nach dem revidierten Besatzungsstatut vorbehaltenen Befugnissen hat der britische Hohe Kommissar entschieden, daß die Tätigkeit dieser Gruppe näher zu untersuchen ist. Auf seine Anweisung sind die Rädelsführer verhaftet und zwecks Untersuchung in Gewahrsam genommen worden."
Und dann folgten die Namen von sechs ehemaligen Mitgliedern der NSDAP.
An jenem Mittwochabend, an dem Dr. Heinrich Haselmayer verhaftet wurde, war Konrad Adenauer von seinen Koalitionsfreunden der Deutschen Partei in die DP-Fraktionsräume im Bonner Bundeshaus eingeladen gewesen. Die DP-Abgeordneten hatten mit ihrem Kanzler eine ausführliche Unterhaltung über das neue Wahlrecht und über die Ratifizierungspraxis des Vertrags über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft erhofft.
Daraus wurde aber nicht viel. Der Kanzler sagte: "Ich hätte Ihnen so gern den ganzen Abend gewidmet, aber Sir Ivone Kirkpatrick will mich um halb acht dringend sprechen."
Pünktlich um 20 Minuten nach sieben stand der Kanzler von seinem Platz auf. Kurz darauf erfuhr er im Palais Schaumburg vom britischen Hohen Kommissar, was Großbritanniens Public Safety*) in Deutschland wenig später für die Sicherheit der britischen Truppen und den Schutz der deutschen Demokratie auf ihre Art zu tun vorhatte. Um seine Meinung fragte Sir Ivone den Kanzler dabei nicht.
Nachts um zwei klingelte das Telephon dann auch bei Verfassungsschutz-Präsident Dr. Otto John. Otto John erfuhr von seinen englischen Freunden aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, daß ein Schlag gegen den Naziuntergrund im Morgengrauen geführt
werden solle. Zu dieser Zeit war ein Teil der ehemaligen Nazis von den Public-Safety-Leuten schon hinter Schloß und Riegel gebracht.
Der prominenteste der sechs ehemaligen Nationalsozialisten, die auf so dramatische Art verhaftet wurden, war der Dr. Heinrich Haselmayer nicht. 1930 war er Organisationsleiter des NS-Studentenbundes in Hamburg geworden und hatte im gleichen Jahr mit einer Arbeit über Fragen der Sterilisation promoviert. Nach dem Kriege saß er bis 1947 in Internierungslagern und wurde schließlich in Gruppe V eingestuft. Seit dieser Zeit führte er in Bergedorf wieder eine Praxis.
Aber da waren andere, die schon mehr braunes Profil gehabt hatten, z. B. der ehemalige Geschäftsführende Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, Dr. Werner Naumann. Er erlebte das Kriegsende im Führerbunker in Berlin, setzte sich dann nach Süddeutschland ab und fand sich schließlich in Düsseldorf-Büderich wieder in der Wohnung des ehemaligen deutschen Propagandaoffiziers Herbert Lucht, der dort mit seiner belgischen Gattin eine Ex- und Import-Firma Cominbel hatte. Lucht starb 1951.
Als der SPIEGEL am 24. Januar 1951 über das Schicksal von Goebbels'' Tagebuchaufzeichnungen berichtete, erwähnte er auch den Namen Naumanns. Die Haselmayers erfuhren so, daß auch Naumann noch einmal davongekommen war und traten mit ihm in Verbindung.
Dann holten die Engländer noch den ehemaligen Reichsstudentenführer Dr. Gustav Adolf Scheel aus seinem Zimmerchen im Hamburger Rautenberg-Krankenhaus, wo er als Assistenzarzt beschäftigt war, und den ehemaligen Reichsrundfunk-Kommentator Dr. Karl Scharping, der sich in Hamburg nach dem Krieg mit der Herausgabe von Dreigroschen-Romanen und anderen Publikationen befaßte*).
Haselmayer, Naumann, Scheel und Scharping fanden sich im britischen Zuchthaus Werl wieder, wo auch schon der ehemalige SS-Brigadeführer Paul Zimmermann und der ehemalige Landrat Heinz Siepen eingetroffen waren.
Einen Tag später wurde in Düsseldorf der ehemalige Gauleiter von Hamburg, Karl Kaufmann, auch noch festgenommen.
Nun erhob sich bei den Stellen des deutschen Verfassungsschutzes bald die Frage, was die Engländer wohl um alles in der Welt bewogen haben könnte, ausgerechnet diese sieben Leute nach 46er-Militärregierungspraxis nächtens abzuholen. Denn
natürlich wußte der Verfassungsschutz längst um den sogenannten "Naumann-Kreis" (diese von den Briten verfolgte Untergrund-Bewegung wird demgemäß inzwischen als "Nau-Nau" bewitzelt).
Der Kreis war eher eine NS-Erinnerungsgemeinde und eine braune Hilfe, die Stellungen vermitteln wollte. Der Kreis war weder geschlossen noch ein Kreis im geometrischen Sinne dessen Punkte - sprich Mitglieder - vom Mittelpunkt gleich weit entfernt waren. Die meisten der etwa hundert Gesinnungsfreunde waren nur durch gelegentliche Besuche und Korrespondenzen verbunden.
Es war für Bundesverfassungsschutzchef Otto John daher nicht allzu schwierig, durch V-Männer gute Nachrichten aus dieser Gemeinde zu ziehen. Zeitweilig hatte er bis zu einem halben Dutzend Agenten im Naumann-Kreis sitzen. Nie hatten sie etwas beobachtet, was Anlaß zum Eingreifen hätte geben können.
Selbst in London hatten sich Korrespondenten gefragt, wieso der Bundesrepublik gerade im kritischsten Stadium der Westverträge demonstriert werde, wie schnell "Schutz, Ansehen und Sicherheit der alliierten Streitkräfte" gefährdet sein können. Denn die Sicherheit der alliierten Streitkräfte haben sich die Alliierten auch noch im Generalvertrag selbst vorbehalten. So drängte sich bald der Eindruck auf, die nächtliche Aktion müsse andere Gründe als die angegebenen haben; zumal ein Sprecher des Foreign Office in London erzählte, welch hohe britische Persönlichkeiten mit der Angelegenheit befaßt worden waren. Sir Ivone Kirkpatrick sei schon vor einiger Zeit nach London geflogen, um Außenminister Anthony Eden zu unterrichten und seine Entscheidung einzuholen. Mr. Eden habe dem Vorgehen des Hohen Kommissars im voraus völlig zugestimmt. Das Vertrauen in die Bundesrepublik als EVG-Partner sei durch die Vorgänge nicht erschüttert.
Durch die Person des amtierenden britischen Regierungschefs*) waren die Verhaftungen zu einer Affäre der großen Politik geworden. Durch die Erwähnung des EVG-Vertrages in derselben Erklärung und im selben Atemzuge war eine mögliche Zielsetzung der Aktion angezeigt.
Den alliierten Pressekorrespondenten in London und Bonn wurden von britischer Seite denn auch Background-Informationen zugespielt, die entsprechend lauteten:
* Die Verschwörer gehörten zum intellektuellen Flügel der Nazipartei. Sie wollten keinen Hitler-Mythos neu auflegen, sie wollten vorläufig keine neue
Nazipartei gründen, sondern die bestehenden Parteien benutzen.
* Die Verschwörer planten auf lange Sicht. Durch Propagierung antiwestlicher Parolen und Ablehnung der Westverträge wollten sie die Voraussetzungen für eine eigene nationalistische Politik schaffen.
* Die Verschwörer planten, diese Politik auf die Wiedervereinigung Deutschlands und Schaffung einer starken Nationalarmee zu richten.
* Die Verschwörer wollten vor und nach der Wiedervereinigung die Ost-West-Gegensätze ausnutzen, um Deutschlands verlorene Machtpositionen in Europa wiederzugewinnen.
* Von der westdeutschen Industrie erhielten sie laufend große Geldmittel zur Durchführung ihres Programms.
Nun ist es von Nutzen, sich den weltpolitischen Hintergrund zu dieser britischen Nachtaktion gegenwärtig zu machen:
* In Frankreich läuft der Oradour-Prozeß. Die französische Presse berichtet ausführlich über die Schandtaten und Verbrechen der Deutschen.
* In Holland wartet man immer noch darauf, daß Deutschland die sieben aus dem Zuchthaus Breda geflohenen kriegsverurteilten Holländer ausliefert. Der holländische Botschafter in Bonn drückte offiziell sein Erstaunen über die lasche Sucharbeit der deutschen Polizei aus.
* In Norwegen wartet man auf die Auslieferung zweier geflohener Kriegsverurteilter durch die Bundesrepublik.
* In England berichtet Lord Norwich, der ehemalige Duff Cooper, im Oberhaus und in Zeitungsartikeln: "Die Deutschen sind jetzt aggressiver, als sie jemals waren. Es gibt Leute, die glauben, man könnte die Deutschen zur Bekämpfung der Sowjetunion benutzen. Deutschland hat aber kein Interesse daran, gegen die Sowjets zu kämpfen, weil es nichts gewinnen kann als unfruchtbares Ackerland im Nordosten Europas." Und: "Jeder Tag bringt neue Beispiele dafür, wie der Wind weht."
* In den USA dagegen schickt sich die neue Regierung Eisenhower an, nichts unversucht zu lassen, doch noch deutsche Kontingente unter die Waffen zu bekommen. Die einflußreiche Zeitschrift "US News and World Report" hatte gerade ausdrücklich festgestellt, daß an ein Come back der Nazis nicht zu denken sei. "Der Hitler-Mythos scheint hier (in Deutschland) tot zu sein."
Am selben Donnerstag, da britische Stellen nun zu allem Überfluß ihre Version von der Nazi-Verschwörung verbreiteten, tagten in der Bonner Husarenkaserne die bundesdeutschen Innenminister unter Vorsitz von Robert Lehr. In diesem intimen Kreis wetterte Robert Lehr, der die Aktion ursprünglich für berechtigt gehalten hatte, über die britische Nacht- und Nebelaktion, von der deutsche Stellen nicht unterrichtet worden seien und die Deutschland nur geschadet habe.
Vor den Bonner Journalisten beschränkte er wenig später seinen Kommentar zu den Verhaftungen und zu der von den Briten gegebenen Begründung auf die Bemerkung: "Nicht zuviel Ehre antun." Seine Sicherheitsbehörden hätten sich seit Monaten mit den verdächtigten Personen befaßt und mit den Briten Informationen ausgetauscht. Einen aktuellen Anlaß zum staatsschützenden Eingriff hätten sie bis auf den Tag nicht ersehen können.
Robert Lehrs Beschwichtigungsversuch war zu schwach und kam zu spät. Da er
den britischen Background-Informationen keine attraktiven Argumente entgegengehalten hatte, machten die Auslandskorrespondenten nur gelangweilte Gesichter.
Sie hatten außerdem ihre stories längst über die Grenzen geblasen. Die vier großen internationalen Nachrichtenagenturen hatten von London und Bonn schon morgens zwischen zehn und zwölf die von den Engländern gelieferte Version und ihre eigenen Kommentare aus "gut unterrichteten Kreisen" durch die Kabel und über die Sender gejagt. Von alldem wußte der Innenminister nichts. Sein Pressechef, Gerhard Milner, war zur Kur. Das Bundes-Presseamt funktionierte wie in solchen Fällen üblich. Zu allem Überfluß benutzten SPD und Gewerkschaften die ungerechtfertigte Kompromittierung der Bundesregierung dazu, sich in düsterer antifaschistischer Abwehrbereitschaft zu ergehen
Das Ergebnis in der westlichen Weltpresse war entsprechend. Fast alle Zeitungen von einiger Bedeutung in Amerika, England, Frankreich, Belgien, Holland und im übrigen Westeuropa brachten die Nazistory als Aufmachung heraus.
Wenn die Befürchtung stimmt, die besonders im Bonner Außenamt gehegt wird, daß der Aufwand, mit dem die Verschwörung aufgedeckt wurde, nur dazu dienen sollte, um Frankreichs Position zu stärken und die Atmosphäre für eine direkte deutsch-amerikanische Absprache zu vergiften, dann hatte die Affäre ihren Zweck auch erreicht.
In der westalliierten Presse las es sich so:
"Daily Telegraph": "In ihrer ungebildeten Gestalt als antiwestlicher Kreuzzug mit voller kommunistischer Unterstützung könnte die Nazi-Bewegung eine neue Herausforderung an die Zivilisation bedeuten."
"Daily Express": "Wenn man den Deutschen Gewehre gibt, wer kann dann sicher sein, wohin diese Gewehre letzten Endes zeigen werden? Es gibt nur einen Weg, sicherzugehen: ihnen überhaupt keine Gewehre zu geben."
"Le Figaro": "Die sofortigen Konsequenzen der Aufdeckung dieses Komplotts sind jetzt noch schwer vorauszusagen. Psychologisch gesehen, werden sie jedenfalls dazu beitragen, neues Mißtrauen im Ausland gegenüber einem Deutschland, das politisch so wenig sicher ist, und gegenüber Industrie- und Finanzgruppen zu erwecken, die den echten Rahmen ihrer Befugnisse überschreiten."
"Evening Standard": "Diejenigen, die ihre Wünsche für Tatsachen nehmen, haben ihre Antwort. Sie haben sich darüber lustig gemacht, daß die Nazis in Deutschland jemals
wieder eine gefährliche Macht darstellen könnten... Angesichts der anhaltenden und gefährlichen Vitalität der Nazi-Idee sollten sie ihre Politik umkehren."
"Le Monde": "Die alliierte Propaganda hat bei weitem nicht alle unsere Nachbarn jenseits des Rheins von den Schönheiten der Demokratie überzeugen können. Wenn man sie zur Wiederbewaffnung in reaktionären und autoritären Kadern aufruft, so werden die Vereinigten Staaten und alle anderen, die auf diesem Weg folgen, letzten Endes nur erreichen, daß nach und nach wieder das soziale und geistige Klima geschaffen wird, in dem einst der Nationalsozialismus die Macht erobern konnte."
Inzwischen hat freilich ein britischer Sprecher bekanntgegeben, der Kreis der Verhafteten habe keine größere Organisation hinter sich. Aber, wie immer, hat die sensationelle Nachricht der ersten Stunde die Balkenüberschriften und Kommentare der Weltpresse bestimmt.
Wenn der französische Ministerpräsident René Mayer nun nach Amerika zu Dwight D. Eisenhower geht, und Eisenhower sollte etwa mit dem Gedanken einer deutschamerikanischen Allianz spielen, die den Engländern und Franzosen wie ein Alpdruck auf der Seele liegt, dann kann René Mayer immer mit dem Finger auf das große Nazi-Gespenst zeigen. Jenes Gespenst, das die Engländer wie einen Luftballon aufgeblasen haben.
Nun bleibt abzuwarten, was mit den sieben Verhafteten geschieht. Wenn eine Parallele zu früheren ähnlichen Vorgängen erlaubt ist, wird es nicht allzuviel sein.
Im Februar 1947 war schon einmal eine ähnliche Aktion über die Bühne gegangen, und zwar kurz vor der Moskauer Viermächtekonferenz. Die Zeitungen meldeten damals bis in die Formulierung ähnlich wie jetzt von den Verdiensten der Briten, die eine Nazi-Verschwörung zerschlagen hatten, damals allerdings auch gegen die Sowjetunion und nicht nur gegen den Westen wie jetzt:
"Die Festnahme des Großteils der Führer einer ausgedehnten. umstürzlerischen Organisation, die von früheren hohen SS-Offizieren geführt wurde, ist vom Geheimdienst und militärischen Streitkräften in der britischen und amerikanischen Zone Deutschlands in einer geschlossenen Operation unter der Code-Bezeichnung ''Selection Board'' um 2 Uhr morgens am 23. Februar 1947 durchgeführt worden.
"Die Bewegung, von der britische Kreise offiziell behaupteten, daß sie als schlagbereite Streitmacht bereitgestanden habe, die innerhalb weniger Monate Forderungen an die Alliierten gestellt haben würde, hatte als ihr Hauptziel die Wiederaufrichtung einer Nazi-Regierung, ''um die europäischen
Nationen gegen Rußland zu führen''.
"Bei weitem der größte Teil des Unternehmens, das auf keinerlei Widerstand stieß, spielte sich in der britischen Zone ab, wo insgesamt mehrere hundert Verhaftungen in fast jeder großen Stadt vorgenommen wurden. Die Zahl der Verhaftungen in der amerikanischen Zone war sehr viel geringer. Die Bewegung sollte Zweigstellen in allen Zonen gehabt haben und die russischen und französischen Behörden waren vorher informiert worden, so daß sie ähnliche Maßnahmen hätten ergreifen können.
"Ein hoher britischer Geheimdienst-Offizier erklärte nach dem Beginn des Unternehmens, daß die Organisation mit der Anwendung ''einer verheerenden neuen Waffe'' (die mit der bakteriologischen Kriegführung zusammenhängen sollte) gedroht hätte, wenn die Alliierten sich weigerten, ihre Forderungen zu erfüllen.
"Zu diesen Forderungen gehörten angeblich erstens die Wiederaufrichtung der deutschen Armee, zweitens die Entlassung aller deutschen Kriegsgefangenen, drittens die sofortige Errichtung einer totalitären Zentralregierung, viertens Beendigung der Demontage, fünftens Beendigung aller Kohlenexporte, sechstens Rückgängigmachung der Sozialisierung der Schlüsselindustrie und siebtens Rückgabe von Schlesien und Ostpreußen.
"Ein Kommuniqué der US-Militär-Regierung bezeichnete die angebliche Bewegung als ''nebelhaft'', und Militär-Gouverneur Clay erklärte, daß sie als nicht besonders gefährlich angesehen werde."
Die Verhafteten wurden damals nach nicht allzu langer Zeit sang- und klanglos wieder laufen gelassen. Die sensationellen Meldungen vom Jahre 1947 hatten ihren politischen Zweck erfüllt: Die Briten konnten in Moskau zur Konferenz antreten mit einem handgreiflichen Beweis ihrer Viermächtetreue.