GEWERKSCHAFTEN Kollege Klassenfeind
Ein silberfarbener Audi A8 fährt mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn, es geht weg von Berlin, weg von dieser Hauptstadt, die gerade mal wieder eine ihrer kleinen Erschütterungen erlebt hat. Deutschland steckt fest, nichts geht voran, und er da in seinem Auto, er, von dem es heißt, er sei mit schuld daran, macht sich davon.
Er hat eben den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vorgeführt. Er braucht ihn nicht, diesen Kanzler. Er nicht.
Seinetwegen hatte es heute Nachmittag Eilmeldungen in den Nachrichtenagenturen gegeben. Das Fernsehen zeigte Bilder von ihm, einem Mann mit Schnurrbart und kleinen Augen, es waren Bilder wie Fahndungsfotos.
Die Nachricht war, dass die Führer der großen Gewerkschaften ein Gipfeltreffen mit der Spitze der SPD abgesagt hatten. Es sollte dabei um Reformen für Deutschland gehen, um Annäherung, um Lösungen für das Land, aber es gab jemanden, der keinen Sinn darin sah. Er fand, nicht die Gewerkschaften müssten sich zum Kanzler bewegen, sondern der Kanzler müsste sich auf die Gewerkschaften zu bewegen.
Frank Bsirske, Chef von Ver.di, Chef der größten Gewerkschaft der freien Welt, sitzt hinten rechts in seinem silbernen Audi, auf einem Lederpolster, es ist Dienstag der vergangenen Woche, und je weiter er wegfährt von Berlin, desto kleiner wird Gerhard Schröder, und er, Frank Bsirske, wächst in den Nachrichten zu einem Riesen. Er ist unterwegs nach Hannover, zu einer Konferenz mit seinen Leuten. Er ist zufrieden mit sich, und sie sind zufrieden mit ihm. Sie reden über die Zukunft, es geht um Aktionstage, um Mobilisierung, um Widerstand.
Wenn man Frank Bsirske dann so reden hört, wirkt er wie ein Mann, der sich entschieden hat: für die kleinen Leute, für deren Schutz vor den Zumutungen einer Welt, die sich rasend schnell verändert. Er wirkt entschlossen, aggressiv, mit sich und seiner Gewerkschaft im Reinen.
Öffentlich ist er der Chef einer Organisation, die für die Rechte der Arbeitnehmer kämpft. Sie stemmt sich gegen jene Reformen, die Gerhard Schröder in seiner "Agenda 2010" aufgeschrieben hat. Wenn Bsirske die Bühne verlässt, ist er auch der Chef einer Organisation, die sich reformieren muss, zu Lasten ihrer Angestellten.
Ver.di, 2,7 Millionen Mitglieder stark, entstand vor zwei Jahren, sie ist eine Fusion von fünf Einzelgewerkschaften, die in der neuen Zeit keine Zukunft mehr hatten. Sie nannten sich Ver.di, was "Vereinigte Dienstleistungsgesellschaft" heißt, aber tatsächlich denkt man eher an Giuseppe Verdi, den italienischen Freiheitskämpfer und Komponisten. "Aida", Triumphmarsch.
Geschrieben sieht Ver.di aus wie eine Adresse im World Wide Web, der Name klingt wie eine Reaktion auf den ökonomischen Wandel, nach Synergieeffekten, nach Global Player.
Es hieß, schon die Fusion sei eine Reform. Aber es war eine Gewerkschaftsreform. Sie wollten etwas Neues, ohne das Alte zu verlieren. Nun stimmen die Bilanzen nicht mehr. Und alles, wofür eine Gewerkschaft da ist, Solidarität, Gerechtigkeit, Mitbestimmung, wird unscharf, wenn das Geld knapp wird.
So ist die kleine Welt der Gewerkschaften der Gesellschaft im Ganzen ähnlich geworden. Sie teilt sich in Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die Arbeitgeber müssen Arbeitsplätze abbauen, und die Arbeitnehmer haben Angst, weil es vielleicht nicht anders geht als mit den Methoden, gegen die Frank Bsirskes Gewerkschaft über die Straßen Deutschlands zieht.
Der Protestler
Langsam schiebt sich die Gemeinde über die Reeperbahn, einige hundert sind es, Männer, Frauen, ein paar Kinder. Es ist der 1. Mai, sie tragen ihre Fahnen durch den Wind, weiße Fahnen mit einem roten Rechteck drauf, "Ver.di" steht in dem Rechteck, sie haben Begriffe auf Transparente gemalt, "Lohnsenkung", "Ausbeutung", "Intoleranz". Sie laufen hinter Frank Bsirske her, ihrem Arbeiterführer, der in der ersten Reihe marschiert, stumm, ernst, entschlossen. Er ist konzentriert, es ist noch eine halbe Stunde bis zu seinem Auftritt, das Manuskript trägt er im Cordjackett mit sich.
Der Zug ist am Hamburger Fischmarkt angekommen. Bsirske muss gleich auf die Bühne, er geht noch zu einem Getränkestand, um sich ein Mineralwasser zu kaufen, weil ihm bei solchen Auftritten immer die Stimme verrutscht.
Am Getränkestand steht ein Mann in einer Windjacke. "Frank, das ist gut, dass ich dich mal sehe", sagt der Mann. Er sei der Jockl, sagt er, Jockl Hofmann.
Jockl Hofmann arbeitet im Hamburger Hafen, er ist Vertrauensmann der Beschäftigten in seinem Betrieb, und er ist Mitglied bei Ver.di. Vor drei Wochen hat er in der Zeitung gelesen, dass bei Ver.di über tausend Stellen abgebaut werden sollen, weil Geld fehlt. Von Nullrunden war die Rede, von Vierstundenwoche ohne Lohnausgleich, von Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld.
Hofmann schickte Bsirske ein Fax. Er hatte viele Fragen. Er war empört. Er habe nichts gegen Reformen, aber nicht so. Eine Gewerkschaft könne nicht genauso mies sein wie das Kapital da draußen. Er bat um Antworten. Aber er bekam keine.
"Das muss im Vorzimmer hängen geblieben sein", sagt Bsirske. Er wird sich darum kümmern. Dann geht er auf die Bühne und hält eine scharfe Rede gegen "blanken Sozialabbau".
Die Autorin
Am 10. Februar 2003 ging Beate Eggert in eine Sitzung des Ver.di-Bundesvorstandes, sie musste in den 9. Stock der Berliner Zentrale am Potsdamer Platz. Frau Eggert ist für das Ressort 6 zuständig, Personal. Sie brachte ein Papier mit, an dem sie lange geschrieben hatte. Fotokopien davon lagen in den Mappen der Vorstandskollegen.
Die anderen lasen darin und beschlossen, erst mal nicht weiter darüber zu reden.
Frau Eggert hatte geschrieben, dass Ver.di zurzeit 4675 Vollzeitkräfte beschäftigt, dass es aber, gemessen an den Beitragseinnahmen, laut Satzung nur 3481 sein dürfen. Dass Ver.di Stellen streichen und die Kosten senken muss. Dass es dafür mehrere Möglichkeiten gebe: keine Verlängerung befristeter Arbeitsverträge, mehr Vorruhestand, mehr Altersteilzeit, Änderungskündigungen, Aufhebungsverträge.
Aber eben auch: Viertagewoche ohne Lohnausgleich. Kürzung des Urlaubsgeldes. Streichung des Weihnachtsgeldes. Nullrunde. Vielleicht ist sie zu weit gegangen. Wochen später erfuhr die Belegschaft davon, und die kleine, warme Welt im Haus am Potsdamer Platz geriet aus der Ordnung.
Beate Eggert sieht müde aus. Sie sitzt in einem Hotel in Halle, wo gerade wieder eine Ver.di-Konferenz zu Ende geht. "Das Personalpapier", sagt sie und hält dabei die Arme vor die Brust, als müsste sie etwas von sich fern halten. "Das war ein längerer Prozess. Wir haben das in unserem Ressort diskutiert und zusammen geschrieben. So." Sie klingt jetzt ein bisschen trotzig.
Sie sagt: Wir müssen die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaft erhalten. Wir müssen eine Entscheidung fällen. Wir, sagt sie. Sie will nicht allein schuld sein an dem, was jetzt passieren muss.
Beate Eggert lernte den Beruf der Krankenschwester. Als sie 1973 Unterrichtsschwester wurde und damit Vorgesetzte, trat sie in die ÖTV ein. "Ich brauchte die Gewerkschaft auch als Korrektiv", sagt sie. Sie spricht von Wärme, von Schutz, von politischer Heimat, die sie bei Gewerkschaften gefunden hat. Sie sagt, die Werte hätten Bestand, nur eben unter anderen Voraussetzungen.
Geht das?
"Sie reden mit mir über die Quadratur des Kreises", sagt sie.
Der Verteidiger
Bernd Bajohr ist viel unterwegs in den letzten Wochen. Fliegt kreuz und quer durch die Republik, hat ständig irgendwelche Sitzungen, trägt einen schwarzen Pilotenkoffer in der Hand, mit Aktenordnern drin, in die nichts mehr reinpasst.
Bajohr ist Chef des Gesamtbetriebsrats bei Ver.di. Er ist kein Betriebsrat von der Sorte, die Sandalen trägt und Strickpullover. Er hat kurze, graue Haare und ein Jackett aus gutem Tuch, mit der Schleife der Aids-Solidarität am Revers. Bajohr hat einen Ordner aus seinem Pilotenkoffer gezogen. In dem Ordner hat er alle Schweinereien gesammelt.
Er leckt an seinem Zeigefinger und blättert darin. "Wie hieß das gleich genau?", fragt er, er blättert weiter, dann hat er es. "Hier: Strategisches Konzept zur Personalwirtschaft." Er klopft mit dem Finger drauf. Es ist das Papier von Frau Eggert.
Frau Eggert. Als er hörte, was sie sich ausgedacht hatte, schrieb er Frank Bsirske einen Brief. Er ist im Ordner gleich hinter Frau Eggerts Papier abgeheftet.
Bajohr liest ein paar Passagen vor, aber nur in Bruchstücken. "... immenser Schaden ... auch im Außenverhältnis ... wie so was auf die Beschäftigten wirkt ..." Dann kommt er zu einem Satz, den er wörtlich zitiert, langsam, zum Mitschreiben: "Wer garantiert im Übrigen dafür, dass sich begangene Managementfehler nach erfolgten Sachreparaturen nicht wiederholen?" Bajohr klappt den Ordner wieder zu.
Er wird das so nicht mitmachen, das ist schon klar. So was macht vielleicht die Deutsche Telekom oder die Commerzbank, aber nicht Ver.di.
"Jeder Arbeitgeber wird doch jetzt sagen: Leute, was wollt ihr denn? Ihr macht doch genau dasselbe", sagt Bajohr.
Die Frage ist, ob er weiß, wie es besser geht. Bernd Bajohr sagt, wie die Finanzen in Ordnung zu bringen seien, sei ein Problem von denen da oben. Wer sagt eigentlich, fragt Bajohr, dass man nicht mehr als 50 Prozent für das Personal ausgeben darf? "Für mich ist das keine heilige Kuh." Man braucht neue Einnahmen, sagt Bajohr.
Er redet hier drinnen, wie Frank Bsirske da draußen redet, wenn er die Vermögensteuer fordert.
Bernd Bajohr arbeitete als 19-Jähriger bei der Bundesanstalt für Arbeit. Er hatte einen befristeten Vertrag, er kannte viele mit solchen Verträgen. Es waren Familienväter darunter, denen man kurz vor dem Vertragsende sagte, sie sollten sich einen neuen Job suchen. Bajohr trat in die ÖTV ein, die zu Ver.di wurde. Er ist seit 15 Jahren Betriebsrat. Aber so viel "Wut der Beschäftigten" hat er noch nicht erlebt. "Dieser Vorstand hat schon jetzt erheblich an Glaubwürdigkeit verloren", sagt er und drückt seine Zigarette aus. Er muss los, sonst bekommt er das Flugzeug nicht mehr.
Der Vertreter
Wenn man die Bezirksstelle von Ver.di in Berlin anruft und den Geschäftsführer Roland Tremper sprechen will, landet man in einer Warteschleife. Das Tonband spielt ein Lied, und im Text heißt es: "Gemeinsam sind wir stärker. Ver.di - wir werden was bewegen."
Roland Tremper führt dieselben Gefechte wie Bernd Bajohr, aber er ist für die Gefechte nach außen zuständig. Er hat viel zu tun, seit der Senat von Berlin den Arbeitgeberverband verlassen hat. Es geht um ein Sparpaket von 500 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre, um weniger Geld für die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst, um Nullrunden, ums Weihnachtsgeld, ums Urlaubsgeld, um Stellenabbau.
Roland Tremper ist der Verhandlungsführer für Ver.di. Er wurde vor 27 Jahren Gewerkschafter, er weiß, was er sagen muss. Er sagt: "Der Senat spielt die Beschäftigten gegen die Notlage der Stadt aus. Es ist ein Spiel mit der Angst. Das Problem ist, dass die Leute im Senat glauben, vor lauter Kraft nicht mehr laufen zu können."
Er weiß auch, was zu tun ist. Er mobilisiert seine Leute, er organisiert Streiks, er schreibt Forderungspapiere, er verhandelt, er droht. Es kann sich lange hinziehen, sagt er. Tremper hat schon viele solcher Verhandlungen geführt. Er ist ganz gelassen.
Natürlich gibt es in Berlin einen Notstand, das sieht er auch. "Aber dieses Gemeinwesen Berlin ist nicht vergleichbar mit einem normalen Arbeitgeber."
Eigentlich ist Berlin wie Ver.di.
Roland Tremper malt das Bild von einer Gewerkschaft, die noch immer so ist wie die, in die er zu Willy Brandts Zeiten eintrat. Kein Arbeitgeber, sagt Tremper, ist so sozial wie eine Gewerkschaft. "Wir wissen: Wir haben es nicht mit irgendwelchen Kapitalisten zu tun. Es gibt nichts, wo wir sagen könnten: Wir sind vergleichbar mit der Privatwirtschaft." Deshalb wird die Gewerkschaft anständig mit ihren Leuten umgehen, wenn sie umgebaut wird. Das glaubt er jedenfalls. "Ich möchte mir was erhalten, den Sozialromantiker, wenn Sie so wollen", sagt er.
Roland Tremper lässt für seinen Bezirk gerade eine Traditionsfahne entwerfen. "Am Ende", sagt er, "wird das ein Stück Identifikation schaffen."
Der Kopfrechner
Als Gerd Herzberg noch ein junger Mann war, hatte er es leicht, ein Linker zu sein. Er studierte Jura, war bei den Jusos und trat 1979 in die DAG ein. Die Angestelltengewerkschaft bot ihm eine Stelle an, Herzberg kannte bald die Feinheiten im Mitbestimmungsgesetz. Es ging nur um Rechte, die ein Arbeitnehmer hat.
Herzberg ist inzwischen 52 Jahre alt, er hat ein Büro in der Ver.di-Zentrale am Potsdamer Platz im sechsten Stock, er führt das Ressort 3, Finanzen. Jetzt geht es auch um die Pflichten, die ein Arbeitgeber hat.
Herzberg ist ein Mann mit einem großen Schädel, er braucht keine Unterlagen, keinen Taschenrechner, er hat alles im Kopf. Er sitzt aufrecht und spuckt Zahlen aus, Soll und Haben, Plus und Minus.
Er sagt: Ver.di verliert Mitglieder, im letzten Jahr 2,4 Prozent. Ver.di hat 2002 nur noch 435 Millionen Euro aus Beiträgen eingenommen. Von den Einnahmen dürfen maximal 50 Prozent für Personalkosten ausgegeben werden. Tatsächlich liegt der Anteil deutlich höher. Macht 47 Millionen Euro Defizit. Dazu kommen Immobilien, die leer stehen. Kongresse, Tagungen. Macht zusammen fast 60 Millionen. Das Defizit muss in drei Jahren abgebaut sein.
Bis dahin redet Gerd Herzberg, wie auch Hans Eichel redet, wenn er seinen Haushalt aufdröselt. Dann geht es um die Menschen. "Tja", sagt Herzberg, "damit kommen wir zu den Einschnitten." Er umklammert seine Kaffeetasse und lässt sie lange nicht mehr los.
Dann sagt er: "Wir haben uns zusammengeschlossen, weil wir es allein nicht mehr verkraftet haben. Es gab Defizite und zu viel Personal. Bei allen. Die Probleme sind Ver.di einfach vor die Tür gekippt worden. Wir haben den Fehler gemacht, nicht darüber zu reden. Wir haben die Illusion genährt: Ver.di wird es schon machen."
Jetzt müssen sie ihren Leuten erklären, dass man etwas aufgeben muss, wenn man etwas anderes bewahren will. Die Verantwortlichen aus den Personalstellen müssen demnächst unangenehme Gespräche führen. Sie kennen das nicht. Es wird eigene Schulungen dafür geben.
Gerd Herzberg findet, dass seine Organisation im Moment in einer "Extremsituation" lebt. "Wir sind einerseits eine Gewerkschaft, die besonderen Verpflichtungen unterliegt. Was wir nach außen vertreten, muss Maßstab sein für das, was wir nach innen machen."
Einerseits. Und andererseits?
"Es gibt Gesetzmäßigkeiten, die gelten auch für uns."
Man weiß in der globalisierten Gewerkschaft nicht so genau, wer Gerd Herzberg im Moment ist. Ist er einer von ihnen? Oder ist er einer, gegen die man eigentlich auf die Straße ziehen sollte, mit der Trillerpfeife im Mund?
Die Hinterbliebenen
Doris Schmidt arbeitet in Stuttgart. Früher waren hier die Zentralen von ÖTV und IG Medien zu Hause. Als sie Ver.di wurden, sollten die Stuttgarter Angestellten mit nach Berlin ziehen. Aber das hat nicht ganz funktioniert.
In Stuttgart gibt es deshalb noch immer 120 Mitarbeiter der Berliner Bundesverwaltung. Es ist schwer zu sagen, ob sie nicht umziehen konnten oder ob sie nicht wollten. Jedenfalls ist Doris Schmidt jetzt Personalchefin in Stuttgart.
Vor ein paar Wochen hat sie einen Zeitungsartikel ans Schwarze Brett gehängt. In dem Bericht stand, dass die Leute in Stuttgart ein Teil des Problems seien. Ver.di habe, obwohl es zu viel Personal gibt, 437 neue Stellen geschaffen, weil es zu viele Angestellte gibt, die sich weigern, in einer anderen Stadt zu arbeiten. Die in Stuttgart hätten teilweise nichts zu tun.
"Ich bin unter der Decke gehangen", sagt Doris Schmidt.
Sie ist 57 Jahre alt und zieht das Bein nach. Die Schmerzen aus der Hüfte strahlen nach unten ab. Zusammen mit sechs Kolleginnen bearbeitet Doris Schmidt die Urlaubsanträge der 800 Berliner Mitarbeiter. Weil es dafür noch kein EDV-System gibt, werden sie auf Karteikarten verwaltet. Die Anträge kommen mit der Post nach Stuttgart, werden bearbeitet und gehen mit der Post wieder nach Berlin. Doris Schmidt weiß nicht, wo das Problem liegt.
Wenn man ein paar Kilometer weiterfährt, ist man wieder in einem Gebäude, das von Ver.di bewohnt wird. Das Eckhaus an der Werfmershalde ist gerade renoviert worden, weil eine Abteilung einzog, die der globale Weltgeist erfunden hatte. Ein Callcenter ist hier zu Hause, Ver.dis Callcenter. 28 Menschen beantworten jetzt Telefonanrufe.
Ihr Chef heißt Wolfgang Flüchter. Flüchter sagt, seine Frau leide an einer Lungenfunktionsstörung, das Klima in Berlin sei zu rau für seine Frau.
Flüchter kommt von der ÖTV. 1967 hatte er an einer Jugendfreizeit des DGB teilgenommen, der Leiter der Reise war ÖTV-Sekretär, und als die Reise zu Ende ging, sagte der: "Wolfgang, ist doch klar, dass du jetzt bei uns unterschreibst."
Flüchter lädt zu einem Rundgang durch sein Callcenter ein.
Ein Callcenter, sagt er, sei eine sinnvolle Einrichtung für eine Gewerkschaft, die sich als Dienstleister in einer umgebauten Welt versteht. Die Menschen können ihre Fragen stellen. Er ist am Arbeitsplatz von Kirsten angekommen. Kirsten ist blind.
"Sie sehen ja, die Kirsten konnte nicht", sagt er.
"Ich wollt auch nicht", sagt sie.
Flüchter geht schnell weiter.
Der Ordner
Auf einer weißen Tischplatte liegt ein Haufen mit Schaubildern. Schaubilder über "Organe der Ebenen", "Organe der Fachbereiche", zur "Organisationsstruktur II".
Kurt Hummel erklärt den Unterschied zwischen Ebenen und Fachbereichen und beugt sich über die Grafik "Fachbereichsstrukturen §§ 46 - 58". Ein Sternchen dahinter weist auf eine Fußnote hin: "Des Weiteren sind die Regelungen in den Fachbereichsstatuten zu beachten."
Hummel schaut etwas unsicher durch seine randlose Brille auf. Er weiß, dass das alles nicht einfach ist. Er ist Mitglied des "Arbeitsstabes der Strukturkommission" und arbeitet seit einem Jahr an der Reform von Ver.di. Er ist Gewerkschafter und macht einen Job, den andere von McKinsey erledigen lassen.
Kurt Hummel arbeitet von unten nach oben, vom Ortsverein bis zum Bundesvorstand. Er leuchtet in die 13 Fachbereiche und ihre Untergruppen, in denen 1000 Berufe organisiert sind.
"Die Matrix in der jetzigen Form", sagt Hummel, "produziert viele Überlappungen und Nahtstellen statt Schnittstellen." Er ist seit 36 Jahren in der Gewerkschaft. Er weiß, dass Fragen der Organisation auch Fragen der Macht sind.
Kurt Hummel muss zurück in einen Konferenzraum. Hier entsteht gerade ein neues Gremium. Das Projekt "IKT-Strategie" beginnt.
ren, Rechte, Einfluss, Posten. Es ging um Kleine gegen Große. Sie trauten der neuen Gewerkschaft so wenig wie dem Staat.
Jetzt, sagt Frau Wörmann-Adam, sei eine neue Zeit. Ver.di sei zwei Jahre alt. Ver.di sei eins geworden. Ver.di sei stark. Ver.di brauche keine Quoten mehr. "Ich bitte euch, liebe Kolleginnen und Kollegen, um ein einstimmiges Votum."
Einstimmig. Es muss einstimmig sein. Wenn nur einer dagegen stimmt, kracht der ganze Aufbruch in sich zusammen.
"Wer ist dafür?"
Es sind ungefähr 200 Delegierte im Saal. Sie heben ihre Stimmkarte.
"Wer ist dagegen?"
In der fünften Reihe von hinten sitzt ein Mann, der mit großer Routine seine Stimmkarte in die Luft hält. Es ist die einzige Gegenstimme.
"Damit stelle ich fest: Der Antrag ist abgelehnt", sagt Frau Wörmann-Adam.
Der Mann aus der fünften Reihe von hinten packt seine Stimmkarte in eine Ledertasche und geht Kaffee trinken. Er heißt Horst Enneper und ist Delegierter aus Nordrhein-Westfalen. Enneper ist kein Linker, er arbeitet für die Christlich Demokratische Arbeitnehmerschaft. Er ist 63 Jahre alt und stellvertretender Ver.di-Bezirksvorsitzender in Wuppertal. Am 1. Mai 1957 trat er in die DAG ein. Eigentlich ist er noch immer in der DAG.
Nachdem er in Kassel gegen den Antrag gestimmt hatte, gab es Ärger. "Da kamen welche und haben gesagt: Wir sind doch getz Ver.di, wat soll dat? Da hab ich gesagt: Ne, ne, so schnell geht dat nich. Wir waren mal fünf Konkurrenten, wir haben uns bekämpft, da kann man nich so tun, als wär getz alles Friede, Freude, Eierkuchen."
Neulich brauchte seine Frau eine Darmspiegelung. Er habe die Praxen durchtelefoniert, wegen eines Termins. Es habe Tage gebraucht, weil sie Kassenpatientin sei. Er hat jahrzehntelang gut eingezahlt, jetzt will er gute Leistung, aber die gibt es nicht.
Darum geht es. Das ist die Aufgabe einer Gewerkschaft. Er weiß noch nicht so genau, wohin das führt mit Ver.di.
"Nehmen Sie den Krieg. Wir sind ja auch irgendwo 'ne Friedensbewegung. Aber ich weiß nich, ob dat Sinn macht, wochenlang gegen den Krieg zu demonstrieren. Den Bush hat das bestimmt nich gejuckt."
Horst Enneper will keine Ver.di-Lichterketten, sondern eine Darmspiegelung für seine Frau.
Der Gefangene
Ein silberfarbener Audi A8 fährt mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn von Berlin nach Hamburg. Am Steuer sitzt der Chauffeur, er hat das Auto heute Morgen noch mal gewaschen, es ist der 1. Mai, es geht zur Demonstration, und hinten im Fond ist der Gewerkschaftsführer. Frank Bsirske hat einen blauen Schnellhefter auf dem Schoß, in dem er seine Rede aufbewahrt.
Er redet sehr leise und sehr kompliziert, wenn es um seine eigene Gewerkschaft geht. Er sagt: "Es ist ein handlungsfähiges Organisationsgebilde mit einigen Baustellen." Oder auch: "Es gibt ein erbrachtes Maß an Handlungsfähigkeit."
Seine eigenen Leute haben Angst. Um ihr Geld, um ihren Job, um ihre Gewerkschaft. Und er, Bsirske, ist der Chef.
Nie, niemals dürfte er so reden wie Gerd Herzberg, sein Finanzchef, oder wie Beate Eggert, seine Personalchefin. Er kann nicht sagen, dass die Reform einer Gewerkschaft auch zu Lasten der Beschäftigten gehen kann. Dass am Ende weniger in der Lohntüte sein könnte.
Bsirske hatte, als diese Überlegungen bekannt wurden, einen Brief an die Belegschaft geschrieben. Darin stand: "Der Bundesvorstand hat festgestellt, dass dieses Papier keine Arbeitsgrundlage für den Abbau der Personalkosten ist. Die darin enthaltenen Vorschläge sollen lediglich in die weitere Diskussion einbezogen werden. Deshalb gibt es keine Bewertung dieser Maßnahmen hinsichtlich ihrer Umsetzung." Der Brief zeigte nur, wie hilflos Bsirske war.
Er fährt im Schnitt jährlich 80 000 Kilometer durchs Land, um mit seinen Leuten zu reden. "Ich will es ihnen erklären", sagt er, "ich stelle mich der Diskussion." Sie haben dieselben Fragen wie Jockl Hofmann, der Vertrauensmann der Hamburger Hafenarbeiter. Bsirske wirbt um Zustimmung, rastlos, wie ein Wahlkämpfer.
Er ist kein Gewerkschaftsführer, wie es Heinz Kluncker in den siebziger Jahren war, keiner, der sich vom Betriebsrat langsam nach oben gearbeitet hat. Er trägt keine Schiebermütze auf dem Kopf wie Klaus Zwickel von der IG Metall. Er ist nicht in der SPD, sondern bei den Grünen. Bsirske hat Politikwissenschaften studiert, er war mal Personaldezernent in Hannover, wo er über tausend Stellen gestrichen hat. Er war in der Rolle eines Arbeitgebers, der weiß, dass Reformen schmerzen können.
Frank Bsirske sitzt in seinem silberfarbenen Audi und sagt: "Es ist nicht leicht, Arbeitgeber in einer Gewerkschaft zu sein."
Ist es leicht für ihn, da oben auf dem Podium zu stehen, als oberster Arbeitnehmer, mit der Faust nach vorn, mit einer Stimme, die versagt, weil man brüllen muss, immer nur brüllen?
Er überlegt lange. "Interessante Frage", sagt er. "Sagen wir so: Ich bräuchte das nicht unbedingt."
Aber er muss. Es ist sein Job, und den macht er richtig. Redet von "tief gestaffelten Angriffsformationen, denen wir gegenüberstehen". Ein Klassenkämpfer, der die Gesellschaft in Arm gegen Reich und Stark gegen Schwach teilt, der "den Müllwerker" gegen "den Daimler" setzt.
Er sagt, er habe auch eine Rolle als Identitätsstifter für seine eigene Organisation.
Die Organisation hat Müllmänner, Schriftsteller, Altkommunisten, Nutten und Systemlogistiker vereinigt, sie hat keine Tradition, keinen Kern, der sie zusammenhält. Die neue Zeit hat sie geschaffen, und jetzt sind nicht mal mehr die eigenen Arbeitsplätze sicher. Sie braucht einen, der es denen da draußen zeigt. Damit sie drinnen wissen, dass sie stark sind. Frank Bsirske kann gar nicht anders.
Für Ende Mai hat er organisierten Widerstand im ganzen Land ausgerufen. Im Herbst möchte er wiedergewählt werden.
"Ich habe eigentlich keinen Zweifel, dass das so kommen wird", sagt Bsirske.
Das Auto ist in Hamburg angekommen. Draußen warten seine Leute mit den Fahnen. Er steckt das Manuskript ins Jackett und geht in die erste Reihe.