SPORTBIOLOGIE Halt durch - sei ein Tier
Der Startschuss knallt, 262 Läufer stieben vorwärts - "wie Antilopen, die von Wölfen verfolgt werden", meint Bernd Heinrich. Er selbst ist einer der Läufer, und er hat kaum eine Chance, das Extremrennen zu gewinnen: einen "Ultramarathon", Distanz 100 Kilometer.
Heinrichs schärfster Gegner an diesem kühlen Oktobermorgen im Chicago des Jahres 1981 scheint unschlagbar: Barney Klecker, 29, war kurz zuvor die 80 Kilometer in weniger als fünf Stunden gelaufen - Weltbestzeit. Heinrich dagegen ist damals 41, ein Akademiker in der Midlife-Crisis, frisch verlassen von Frau und Tochter. Und sein Arzt hat ihn gewarnt: "Wenn Sie nicht aufhören zu laufen, nehme ich Ihnen die Kniescheibe raus und schmeiße sie in den Mülleimer."
Doch Heinrich vertraut stur auf sein Beraterteam von ausgefallenen Experten: Geparde, Wölfe, Geier, Hummeln, Hausschaben und eine Vielzahl weiterer Kreaturen. Jahrelang hat der Biologieprofessor die Geheimnisse von Tieren erforscht, die durch Ausdauer überleben. So wird der Wettlauf für den vielfach preisgekrönten Autor zu einem biologischen Selbstexperiment, das er in einer gelungenen Mischform aus Biografie und Lehrbuch erzählt*.
Heinrich wurde bei Danzig geboren. Als er vier Jahre alt war, flohen seine Eltern mit ihm nach Westen, wo sie jahrelang in ärmlichsten Verhältnissen in einer Wald-
hütte bei Hamburg lebten. So habe er einen guten Start ins Leben erhalten, schreibt Heinrich: "Weil ich gelernt hatte, was wichtig ist - die Lebenszyklen von Schmetterlingen, das Verhalten einer Jungkrähe und die Lust, auf bloßen, mit harter Hornhaut bewehrten Füßen durch warmen Sand hinter Tigerkäfern herzulaufen."
Seine erste Lektion: Während die Käfer morgens träge taumeln, sausen sie mittags flink umher. Fazit: Muskelleistung ist temperaturabhängig; Insekten werden bei Kälte träge, bei schneller Bewegung droht ihnen Überhitzung. Der Homo sapiens dagegen ist dank seiner über zwei Millionen Schweißdrüsen ein Meister der Verdunstungskälte. Die körpereigene Klimaanlage machte ihn in heißen Gegenden zu einem gefürchteten "Ausdauerräuber", so Heinrich. Einige Stämme in Amerika, Afrika und Australien jagten früher nicht mit Bogen oder Speer, sondern einzig mit ihrer tödlichen Ausdauer bewaffnet, indem sie ihre Beutetieren so lange hetzten, bis diese zusammenbrachen - und zwar nicht nur Känguru, Zebra und Hirsch, sondern sogar Antilopen, die in Sprints bis zu 100 Stundenkilometer erreichen.
Für Heinrich wird das Laufen zum Ankerpunkt seines Lebens. 1951 wandern seine Eltern mit ihm in die USA aus, wo sie ihn bald in ein Waisenhaus stecken, um selbst jahrelang als Tierexperten in Mexiko oder Afrika auf Expedition zu gehen. Der elternlose Junge bezieht sein Selbstbewusstsein aus dem Laufen und knurrt zur Motivation: "Halt durch - sei ein Tier."
Seine Rennerfolge ermöglichen ihm auch ohne High-School-Abschluss die Zulassung zum Biologiestudium. Tiere sind seine Vorbilder. Kamele etwa, die ihre Wüstenwanderungen so ruhig angehen, um Energie und Wasser zu sparen. Die Höcker sind entgegen der landläufigen Meinung keine Wasser-, sondern Energiespeicher, die obendrein noch Sonnenschutz gewähren. Laut Heinrich erfüllt das menschliche Haupthaar eine ähnliche Funktion.
An Hunden sieht er, dass ihre Laufbewegung die Lunge wie einen Blasebalg unterstützt. Auch er synchronisiert daher beim Laufen Atmung und Armbewegung. Die Laubfrösche bringen ihm bei, wie sich die Schwerstarbeit nächtlichen Quakens durch Tempowechsel erleichtern lässt. Auch Heinrich variiert bei Wettkämpfen seine Schrittlänge, um nicht zu ermüden.
Von Vögeln schließlich lernt er das Überfressen ("Hyperphagie"): Der Knutt, ein arktischer Vogel, schlägt sich vor seiner 12 000 Kilometer weiten Weltreise im Herbst so lange den Wanst voll, bis er das Doppelte wiegt - ein Brennstoffvorrat, der für 7500 Kilometer Non-Stop-Flug reicht. Heinrich legt als Rennvorbereitung durch "Carbo-Loading" über zwei Kilogramm zu.
Ursprünglich kann er sich als Mittelstreckenläufer nicht vorstellen, einen Marathon zu schaffen - bis ihm der legendäre Soziobiologe Edward O. Wilson vorrechnet, dass er den Boston-Marathon in weniger als zweieinhalb Stunden zurücklegen könnte. Heinrich wagt das Experiment - und unterbietet Wilsons Prognose sogar noch um fünf Minuten. Seitdem verfolgt er seine ganz eigene Einheit des Wissens: die Fusion aus Tierkunde und Sport.
Als Trainingsratgeber allerdings taugt Heinrichs Lebens-Lauf kaum, denn seine Selbstversuche sind gnadenlos: Als Aufbaunahrung setzt er auf Schweinekotelett und Kaffee; als Wettkampfgetränk testet er drei Sixpacks Bier oder knapp einen Liter Honig; probeweise läuft er barfuß, bis seine Füße wie "rohe Hamburger" aussehen. Und Dehnungsübungen lehnt er als Schnickschnack ab - obwohl sich nicht nur Sportwissenschaftler, sondern auch Hunde gern zur Leistungssteigerung räkeln.
Aber genau dieser Eigensinn macht den Charme des Buches aus. Und er verhalf Heinrich beim 100-Kilometer-Lauf zum Sieg: Der Favorit Klecker hielt seinen antilopenhaften Sprint nicht durch, stattdessen ging das Rennkamel Heinrich nach 6 Stunden und 38 Minuten über die Ziellinie, um dreieinhalb Kilogramm Körpermasse leichter und eine Weltbestzeit reicher. Eine tierische Leistung. HILMAR SCHMUNDT