INDOCHINA / INTERNATIONALES Paukenschlag für Genf
Mit einem Koffer voll strategischer Erkenntnisse und einem Streifschuß am Bein kehrte Pierre de Chevigné, Staatssekretär im französischen Kriegsministerium, von den Fronten Indochinas nach Paris zurück.
Von einem Parlamentarier nach dem System der vietminesischen Taktik, ihren überraschenden Vorstößen und unerklärlichen Rückzügen befragt, meinte der Staatssekretär, daß der Vietmin-General Giap durch Chinesen beraten werde, darunter den langjährigen stellvertretenden Chef des Operationsstabes Mao Tse-tungs während des chinesischen Bürgerkrieges, Generalmajor San Fu-tong.
Der befolge die strategischen und taktischen Erkenntnisse, die sich Mao persönlich aus den "Annalen des Frühjahrs und des Herbstes" von Sun-Wu aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. zu eigen gemacht habe: "Wenn der Gegner angreift, ziehe dich sofort zurück. Wenn er in das Leere hineinstößt, strafe ihn. Wenn er dann zurückgeht, sollst du ihn verfolgen; wenn er ermüdet, ihn überfallen, und wenn er eine große Operation plant, ihn zwingen, sich zu zersplittern."
"Da haben Sie alles", sagte de Chevigné, "was über den Krieg in Indochina zu sagen ist, besser als es eine dicke Akte erklären könnte."
Es scheint jedoch, daß der französische Staatssekretär in diesem Gespräch die britische Tugend der "Untertreibung" (understatement) gepflegt hat. In Paris nimmt man im Gegensatz zu Chevigné an, daß die Taktik der Vietmin nicht bloß aus militärischen Erwägungen, sondern auch aus politischen Überlegungen herzuleiten ist, und daß zum Beispiel die von den Rebellen
in der letzten Woche eröffnete Schlacht gegen die 300 Kilometer westlich von Hanoi gelegene französische Festung Dien-bien-fu, die bisher größte Offensive des Indochina-Krieges, das Ziel verfolgt, den Chinesen für die kommende Asien-Konferenz in Genf am 26. April eine möglichst günstige Verhandlungsbasis zu schaffen. Allein 40 000 Mann seiner Elite-Truppen und stärkste Artillerie- und Flak-Verbände hat General Giap für diese Schlacht zusammengezogen.
Für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Dien-bien-fu und Genf bestehen tatsächlich gewisse Anhaltspunkte. Man kann sie einer vergleichenden Darstellung von Moskauer Politik und Vietmin-Strategie entnehmen:
* Am Heiligen Abend des Jahres 1953 rollte die erste Phase einer neuen roten Offensive in Indochina an. Zwei Tage später, am 26. Dezember 1953, erklärten sich die Sowjets grundsätzlich zu einem Vierer-Gespräch bereit und schlugen als Termin den 25. Januar oder "jeden darauffolgenden Tag als günstigsten Zeitpunkt für eine solche Konferenz" vor.
* Am 25. Januar fand das erste Treffen der vier Außenminister im Berliner Kontrollratsgebäude statt. Zwei Tage später war die zweite Welle des Vietmin-Angriffes mit Stoßrichtung auf Luang-prabang in vollem Gange.
* Am 18. Februar beendeten die Außenminister ihre Gespräche. Bereits in der letzten Konferenz-Woche schwächte sich die Wucht der roten Angriffsoperationen in Laos ab, so daß der damals geschäftsführende amerikanische Außenminister, Bedell Smith. vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats die Vermutung aussprechen konnte, die Vietmin-Offensive habe den Zweck gehabt, anläßlich der Berliner Konferenz im westlichen Lager eine Krisen-Atmosphäre zu schaffen. Der strategische Erfolg der Operation sei gleich Null gewesen.
Die im Falle Berlins so gut gelungene Koordinierung von Diplomatie und Strategie sollte nun offenbar auch jetzt angewendet werden. Die Schlacht um Dienbien-fu wird in der Weltöffentlichkeit allgemein als der Paukenschlag gewertet, mit dem die Sowjet-Union und Rot-China die Genfer Konferenz-Symphonie einleiten wollen.
Inzwischen haben sich jedoch Zweifel gemeldet, ob das nun schon gewohnte Manöver der gelb-roten Allianz diesmal in der gleichen Weise klappen wird. Am Dienstag letzter Woche eröffnete Amerikas Außenminister John Foster Dulles der Weltpresse, daß die Moskauer Vorverhandlungen für die Genfer Konferenz außerordentlich stockend vorankämen. Dulles führte diese Tatsache (die angesichts des hartnäckigen sowjetischen Ringens um das Zustandekommen der Genfer Konferenz
wirklich verwunderlich ist) auf Unstimmigkeiten zurück, die nach seinen Informationen bei dem russisch-chinesischen Versuch aufgetreten seien, eine gemeinsame Verhandlungslinie für Genf festzulegen.
Tatsächlich sind solche Schwierigkeiten durchaus nicht unwahrscheinlich. Der Kreml hat an den Vorgängen in Indochina ein vorwiegend taktisches Interesse. Er hat durch das wechselnde Schüren und Dämpfen des Brandes in Indochina die Möglichkeit, Frankreichs europäische Politik zu regulieren oder zumindest zu beeinflussen: Eine Vietmin-Offensive vor Hanoi oder in Laos verstärkt das französische militärische Engagement in Südostasien und schwächt damit seine Bereitschaft, sich auf einen Rüstungswettstreit mit Westdeutschland innerhalb der Europäischen Verteidigungs-Gemeinschaft und damit überhaupt auf das EVG-Experiment einzulassen.
Dagegen nimmt Peking an dem indochinesischen Kriegsschauplatz ein durchaus vitales Interesse. Man nennt Indochina die Reisschüssel Asiens. Der Besitz Indochinas würde die den rotchinesischen Massen ständig drohende Gefahr von Hungersnöten fühlbar einschränken. Darüber hinaus
wäre der Rote Fluß, dessen Unterlauf und Mündungsgebiet um Hanoi die Franzosen gegen alle Angriffe der Vietmin halten konnten, ein geeigneter Verkehrsweg zur Erschließung der schwer zugänglichen chinesischen Zinnminen von Kunming. Schließlich und endlich ist in Indochina und in den Anrainer-Gebieten Thailands, Malaias und Indonesiens ein riesiges volkschinesisches Kapital investiert. Industrie und Handel dieser Gebiete sind zum großen Teil in den Händen chinesischer Auswanderer.
Der russisch-rotchinesische Zwiespalt dürfte noch einen weiteren Aspekt haben: Die Annahme ist naheliegend, daß der kommunistische Vietmin-Chef Ho Tschimin gegen den chinesischen Imperialismus Schutz in Moskau sucht. Welche Bedeutung dieser Konfliktstoff faktisch hat, war bislang jedoch schwer auszumachen. Die Genfer Konferenz könnte nun dem Westen eine Gelegenheit bieten, in solche internen Zusammenhänge der gelb-roten Allianz Einblick zu gewinnen.
In dem Zwiespalt chinesischer und sowjetrussischer Interessen in Indochina liegt eine Chance der westlichen Diplomatie für
Genf. Es wäre denkbar, daß sich China unter gewissen Voraussetzungen zu einer Beendigung des Konfliktes bereit erklärt. Eine solche Lösung, sofern sie zustande kommt, müßte jedoch Moskau enttäuschen. Der Kreml würde den Schalthebel verlieren, mit dessen Hilfe er die europäische Integrations-Temperatur regulieren kann. Es sei denn, die EVG würde gleich mitgeopfert.
Ob es den Westmächten gelingen wird, auf der Genfer Konferenz zu einem Erfolg zu gelangen, hängt allerdings nicht nur von dem Zwiespalt der russisch-chinesischen Indochina-Politik ab, sondern gleichermaßen von dem Meinungskonflikt in ihren eigenen Reihen.
Der Gegensatz zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten in der Indochina-Frage ist seit langem offensichtlich. Ähnlich wie die Sowjet-Union ist heute auch Frankreich in Indochina vorwiegend taktisch orientiert:
* Eine militärische Niederlage der französischen Streitkräfte in Indochina würde eine Kettenreaktion von Rebellionen in den übrigen Kolonien und Protektoraten der Französischen Union auslösen.
* Indochina ist zur Zeit für Frankreich die Hintertür, durch die es Zugang zum amerikanischen Außenministerium hat. In den außenpolitischen Konzeptionen Washingtons nimmt Asien gegenwärtig einen bevorzugten Platz ein. Das französische Engagement in der asiatischen Auseinandersetzung ist also für den Quai d'Orsay eine ständig ausbeutbare Möglichkeit, die Außenpolitik der Vereinigten Staaten mit zu beeinflussen - selbst in europäischen Angelegenheiten. Der Friede in Indochina würde den Fortfall des wichtigsten französischen Anti-EVG-Arguments bedeuten, nämlich der Behauptung, Frankreich könne nicht zu gleicher Zeit in Indochina Krieg führen und in Europa mit der westdeutschen Aufrüstung Schritt halten.
Im Gegensatz dazu stehen für Amerika in Indochina sehr viel lebenswichtigere Interessen auf dem Spiel. Die USA sehen ihre eigene und die Existenz der gesamten freien Welt bedroht, wenn es Moskau und Peking gelingen sollte, ihre Herrschaft über die Völkermassen und Reichtümer Südostasiens auszudehnen.
Um Indochina als Barriere gegen die rot-gelbe Expansion zu stabilisieren, engagierten sich die Vereinigten Staaten dort mit dem Programm, die Herrschaft der französischen Kolonialpolitik durch ein System freier, wehrhafter, antikommunistischer Staaten auszuwechseln. Eisenhowers unglückliche Parole "Asiaten müssen durch Asiaten bekämpft werden"
gipfelt in Indochina in der paradox erscheinenden Forderung, daß Frankreich, nachdem es die kommunistischen Vietmin besiegt hat, freiwillig abziehen soll.
Das Dilemma der amerikanischen Indochina-Politik ist nur, daß sie mit Rücksicht auf die eigene Innenpolitik selbst nicht die Rolle des Geburtshelfers dieser drei Staaten übernehmen kann und daher bis zu einem endgültigen Sieg über die Roten auf die Entschlossenheit Frankreichs angewiesen ist, in Indochina Blut zu opfern, um dafür in Europa Vorteile einhandeln zu können.
In der jüngsten amerikanisch-französischen Kontroverse über Indochina wurde dieses Dilemma deutlich. Mitte Februar kündigte der amerikanische Generalstab die Entsendung des jetzigen Oberbefehlshabers der amerikanischen Landstreitkräfte im Pazifik, des Generalleutnants John W. O'Daniel, nach Indochina an. Aus den Verlautbarungen des Pentagon war zu entnehmen, daß der bullbeißige O'Daniel die eingeborenen Streitkräfte Vietnams nach dem Muster Südkoreas drillen sollte.
Der französische Oberkommandierende in Indochina, General Henri-Eugène Navarre, antwortete auf diese inoffizielle Verlautbarung brüsk und deutlich, daß ihm von der Entsendung O'Daniels nichts bekannt sei. Er würde keinesfalls die Ausbildung eingeborener Truppen durch den amerikanischen Generalleutnant dulden.
Bisher hat Navarre dafür gesorgt, daß die vietnamesischen Streitkräfte über den
Status von Hilfstruppen der Franzosen nicht herauskamen. Bis zu den mittleren Chargen herab sind alle Offiziersränge mit Franzosen besetzt. Vietnamesischen Offizieren ist die Beteiligung an der generalstäblerischen Planung strategischer Operationen nicht gegönnt. Genau das Gegenteil streben jedoch die Amerikaner an. Ihnen kommt es auf die Schaffung einer zu selbständigen Operationen fähigen Nationalarmee eines souveränen Staates an - wie es ihnen in Südkorea dank einer bewunderungswürdigen militär-pädagogischen Leistung gelungen ist.
In der vorletzten Woche wurde nun die Entsendung O'Daniels nach Indochina offiziell bestätigt. In dem Kommuniqué hieß es zwar, daß der General nur die Verwendung amerikanischer Waffenlieferungen beaufsichtigen werde. Doch in Paris weiß man von der robusten Persönlichkeit des amerikanischen Infanterie-Generals genug, um nicht mit einiger Sorge in die Zukunft zu blicken.
Böswillige Beobachter behaupten sogar, daß zwischen der französischen und der amerikanischen Regierung eine geheime Absprache getroffen worden sei, wonach O'Daniel trotz aller Dementis die Ausbildung des vietnamesischen Offizierskorps in höherer Truppenführung in Angriff nehmen soll.
Das könnte bedeuten, daß die USA ihren Standpunkt durchgesetzt haben und daß sich Frankreich und Amerika für die Genfer Konferenz weitgehend auf eine gemeinsame politische Linie geeinigt haben.
[Grafiktext]
KÖCHE AN INDOCHINAS FEUERN
FRANKREICH
Alibi
für Widerstand
gegen EVG
(Indochina bindet Truppen
in Stärke von
6 europäischen Divisionen)
SOWJETUNION
Hebel der Europa-
und Asienpolitik
CHINA
Flankensicherung
und Tor
zur Expansion
nach Südostasien
USA
Barriere vor Rohstoffkammer
und Manöverfeld für ein freies
antikommunistisches Asien
[GrafiktextEnde]