EXPEDITION / ANTARKTIS Unternehmen Tiefkühler
Es war eine schlichte Zeremonie. Auf der schier endlosen Eisfläche des antarktischen Kontinents, sechs Kilometer südlich der Bucht von Kainan, waren Anfang des Monats in ihren gelben Polar-Uniformen ein paar Dutzend amerikanische Marinepioniere vor einem Fahnenmast angetreten. Der Nebel hatte sich gehoben, die Sonne brach durch die Dunstschwaden und bescherte den Soldaten eine "antarktische Hitzewelle" von minus 21 Grad Celsius. Die Männer schwitzten in ihren Spezialuniformen, die auf eine Temperatur von minus 33 Grad zugeschnitten sind.
Nachdem der 67jährige amerikanische Polarforscher Admiral Richard E. Byrd eine kurze Ansprache gehalten hatte, ging am Mast das Sternenbanner hoch: "Klein-Amerika V" war eingeweiht. Der Stützpunkt bestand vorerst nur aus drei kleinen Zelten und einigen orangefarbenen Raupenschleppern. "Er sah aus wie der letzte winzige Vorposten der Zivilisation in einer weißen Unendlichkeit", funkte der Sonderberichterstatter der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press nach New York.
Aber schon in den nächsten beiden Monaten werden die Marinepioniere ein kleines modernes Dorf von 17 Gebäuden errichten. Es soll als Hauptstützpunkt für das "Unternehmen Tiefkühler" dienen, eines der abenteuerlichsten, ehrgeizigsten und geheimnisvollsten Unternehmen in der Geschichte der Antarktis-Forschung.
"Unternehmen Tiefkühler" ("Operation Deepfreeze") ist die Code-Bezeichnung für eine Expedition der amerikanischen Marine, die vier Jahre dauern (Kosten: zehn Millionen Dollar) und große Teile des von einem breiten Packeis-Gürtel umschlossenen antarktischen Kontinents gründlich erforschen soll. Offiziell ist die 1600 Mann starke Expedition der Beitrag der Vereinigten Staaten zum "Internationalen Geophysikalischen Jahr" (1957/58), in dem vierzig Nationen ihre wissenschaftlichen Kräfte vereinen werden, um den Planeten Erde vom Nord- bis zum Südpol einer peinlich genauen Generaluntersuchung zu unterziehen. Elf Nationen werden zu diesem Zweck auch rund drei Dutzend Beobachtungsstationen im Antarktis-Gebiet errichten und damit dem unwirtlichen "sechsten Kontinent" das geschäftigste und menschenreichste Jahr seiner Geschichte bescheren.
Bei der Bestimmung des Bauplatzes für den amerikanischen Hauptstützpunkt "Klein-Amerika" berücksichtigte Expeditionschef Byrd, daß man von dort aus im Norden die Bucht von Kainan erblicken kann, was auf die Marinepioniere der Station eine "günstige psychologische Wirkung" haben soll. Nach allen anderen Himmelsrichtungen bietet sich ein bedrückender Anblick: Die weite, weiße Ebene des mit Eis und Schnee bedeckten Ross-Meeres.
Bis zum April werden die Marinesoldaten den Blick nach Norden genießen können. Dann aber, nachdem sich das Gros der amerikanischen Expedition zurückgezogen hat, wird sich die Finsternis des antarktischen Winters monatelang auf den
winzigen Außenposten und seine Bewohner senken. 150 Freiwillige werden zurückbleiben und den Winter auf dem kältesten Kontinent der Erde verbringen. Bald nach Sonnenuntergang werden die Bewohner von "Klein-Amerika" und eines zweiten amerikanischen Stützpunktes am McMurdo-Sund in ihren Spezialhäusern unter Schneemassen begraben werden und nur durch vorher angelegte Tunnel von Haus zu Haus verkehren können.
Indes, die Marinesoldaten werden die modernsten Höhlenbewohner der Geschichte sein. Ihre Wellblechbehausungen sind mit Kurzwellen-Empfängern, Filmprojektoren und Plattenspielern ausgestattet. Kisten mit den neuesten Hollywood-Filmen, den letzten Schlagerplatten und Hunderten von Büchern sind schon eingelagert worden, um den Bewohnern der Eiswüste eine kurzweilige antarktische Nacht zu garantieren. Insgesamt wird die amerikanische Expeditionsflotte, die aus zwei Eisbrechern und fünf Versorgungsschiffen besteht, dreißig Tonnen Nachschubmaterial für jeden einzelnen Expeditionsteilnehmer heranschaffen*. Weitere Versorgungsgüter sollen über eine Luftbrücke herangeflogen werden, die den antarktischen Kontinent - zum erstenmal in seiner Geschichte - mit einer anderen Landmasse (Neuseeland) verbinden wird.
Schon am 20. Dezember sind vier Marineflugzeuge, nach einem Non-stop-Flug vom 3800 Kilometer entfernten Neuseeland, auf einer zweieinhalb Kilometer langen Piste aus plattgewalzten Schneemassen gelandet, die amerikanische Pioniere am McMurdo-Sund gebaut hatten. Anfang dieses Monats haben die amerikanischen Marinepiloten begonnen, den 15 Millionen Quadratkilometer großen Kontinent - er ist fast so groß wie Europa und Australien zusammen - aus der Luft zu erforschen.
H-Bomben am Südpol?
Am 28. Dezember ließ sich Admiral Byrd in einem Hubschrauber von seinem Flaggschiff, dem Eisbrecher "Glacier", zu den Überresten einiger Antarktis-Stützpunkte übersetzen, die er bei den Expeditionen 1928-30,1933-35, 1939-41 und 1946-47 errichtet hatte. "Ich wollte diesen Ort gern einmal wiedersehen; denn ich bin ja schließlich der Bürgermeister dieses Fleckchens", sagte er, als er mit ein paar alten Kämpen seiner früheren Expeditionen die Spitzen von Antennenmasten besichtigte, die aus dem Boden ragten. Es waren die unter Eis und Schnee begrabenen Reste seiner früheren Antarktis-Stationen "Klein-Amerika I" und "Klein-Amerika II".
Während die Amerikaner ihre neuen Stützpunkte ausbauten und die Errichtung von vier weiteren Stationen vorbereiteten, kämpften sich auch schon die Expeditionen anderer Länder durch die Packeisbarrieren an den "tückischsten Kontinent der Welt" heran. In der ersten Januarwoche nagte sich der riesige, 12 500 Tonnen große sowjetische Eisbrecher "Ob" durch die Eisfelder der Farrbucht. Eine Vorhut der sowjetischen Expedition ist schon auf dem Kontinent gelandet und hat begonnen, Flugzeuge für erste Erkundungsvorstöße zusammenzusetzen und 18 Spezialhäuser aus dem widerstandsfähigen Kunststoff "Stalinit" zusammenzubauen. Ebenso wie die Amerikaner wollen auch die Russen im Verlaufe des "Geophysikalischen Jahres" mehrere "Forschungsstädte" im Inneren des Kontinents errichten.
Die russische Expedition ist größer als die amerikanische - sie umfaßt 2480 Mann - und mindestens ebensogut ausgerüstet. Ihre Schiffe - zwei Eisbrecher und ein halbes Dutzend Versorgungs- und Begleitschiffe - sind mit modernsten mikrobiologischen, hydrologischen, geologischen und meteorologischen Laboratorien ausgestattet.
Anfang dieses Monats zwängte auch der kleine Robbenfänger "Theron" der britischen Expedition seinen stumpfen Bug durch die Eismassen des Weddell-Meeres. An Bord war Sir Edmund Hillary, der Bezwinger des Mount Everest, der mit einem Vortrupp von 19 Männern, Raupenfahrzeugen und Flugzeugen an Land gehen ,will. Durch Erkundungsvorstöße und den Bau von Stützpunkten will die englische Vorhut die Voraussetzungen für das ehrgeizige Ziel der britischen Forscher schaffen: die Durchquerung des Kontinents mit Raupenfahrzeugen und Hundeschlitten - direkt über den Südpol, wo sie amerikanischen Wissenschaftlern, die dort eine Beobachtungsstation errichten wollen, die Hand schütteln werden.
Während des Marsches wollen die Engländer in kurzen Abständen akustische Tiefenlotungen vornehmen, um zu erkunden, ob sich unter der kilometerdicken Eisdecke wirklich die Landmassen eines Kontinents verbergen oder nur eine Anzahl Inselgruppen, die durch die Umklammerung des Eises zu einem Kontinent verschmolzen worden sind.
Eine vierte, französische Antarktis-Expedition steuert zur Zeit das Südpolargebiet mit dem gecharterten norwegischen Eisbrecher "Norsel" an. Die Neunzehn-Mann-Gruppe will auf Adelieland landen, wo eine kleine Mannschaft in einem Spezialhaus bis zum Februar 1957 überwintern soll. Die Franzosen werden noch mehr von der Außenwelt abgeschnitten sein als die anderen Expeditionen; denn wegen der notorisch stürmischen Winde des Adelielandes können Flugzeuge dort nicht landen.
Da sich Anfang des Monats auch eine australische Expedition auf einem gecharterten dänischen Eisbrecher reisefertig machte und auch in Argentinien, Chile, Japan, Norwegen, Neuseeland und Belgien Antarktis-Expeditionen vorbereitet wurden*, prägten amerikanische Wissenschaftler in den letzten Wochen den Slogan vom "Wettrennen um die Antarktis".
Dieses Wettrennen hat eigentlich schon im vergangenen Sommer begonnen, als sich die am Südpolargebiet interessierten Nationen auf der "Vorbereitenden Konferenz für das Internationale Geophysikalische Jahr 1957/58" in Paris um die besten und wichtigsten Beobachtungsplätze in der Antarktis rauften. Zwar verlief das Meeting nach den Regeln der akademischen Etikette, aber die Argumente der Wissenschaftler vermochten über die geopolitischen, strategischen und wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Länder nicht hinwegzutäuschen.
Wenige Monate später erwähnte Admiral Byrd denn auch offen strategische Gesichtspunkte: "Die Antarktis ist wichtiger, als viele Leute
glauben. Zum Beispiel: Wenn der Panamakanal zerstört wird, müssen die freien Nationen das Gebiet zwischen der Spitze Südamerikas und dem antarktischen Kontinent beherrschen, um den Seeweg zwischen Atlantik und Pazifik offenzuhalten."
Im amerikanischen Verteidigungsministerium fürchtet man, daß die Russen im Kriegsfall heimlich Luftstützpunkte auf dem antarktischen Kontinent errichten könnten. Ein solcher Brückenkopf im äußersten Süden wäre schwer zu erobern, da die Küste des Südpolkontinents aus scharfen, unzugänglichen Eisklippen besteht, die einen natürlichen Schutzwall bilden, und weil Flugzeuge nur in wenigen Gebieten landen können.
Das ist eine Erkenntnis, die der amerikanische Eisbrecher "Atka" im vergangenen Jahr von einer langen Expeditionsreise heimbrachte.
Offiziell war die Fahrt der "Atka" ein Teil der Vorbereitungen für das "Unternehmen Tiefkühler". Die angesehene amerikanische Zeitschrift "Fortune" behauptete jedoch, die Expedition sei "der nach Umfang und Dauer größte Detektivjob, der jemals unternommen wurde". Das Blatt weist darauf hin, daß die "Atka" -Reise auf Beschluß des Nationalen Sicherheitsrates - der höchsten und wichtigsten beratenden Körperschaft der US-Regierung
- mit Unterstützung der Spionageabwehrorganisation CIA und der Atomenergiekommission durchgeführt wurde. "In höchsten Regierungskreisen", berichtete "Fortune", "beschäftigt man sich ernsthaft mit der melodramatisch anmutenden Theorie, daß die Sowjet-Union Gebiete der Antarktis als Versuchsplätze für Atomwaffen und ferngelenkte Geschosse benutzt oder benutzt hat. Dieser Verdacht entspringt dem ungewöhnlichen Interesse, das die Sowjet-Union seit dem zweiten Weltkrieg für die Antarktis zeigt, und auch den unwahrscheinlich günstigen Bedingungen, die in diesen Gebieten für die Erprobung von Massenzerstörungswaffen bestehen."
Das amerikanische Verteidigungsministerium und der Kapitän des Eisbrechers dementierten geduldig alle Artikel, die auf militärische Ziele der "Atka"-Reise anspielten. In seinem Expeditionsbericht schrieb der "Atka"-Kapitän: "Die Vereinigten Staaten haben keine militärischen Angriffspläne in der Antarktis. Da jedoch die Antarktis weitgehend Ähnlichkeit mit der Arktis hat, die für uns die lebenswichtige Barriere im Norden ist, werden selbstverständlich wissenschaftliche Informationen, die wir durch unsere Teilnahme am Geophysikalischen Jahr' gewinnen, auch zusätzlich Daten abwerfen, die für die Bedürfnisse unserer nationalen Verteidigung von Wert sein könnten."
Nach dem offiziellen Forschungsprogramm wollen die Expeditionen im "Geophysikalischen Jahr" versuchen, dem Kontinent - der weniger erforscht ist als die der Erde zugewandte Seite des Mondes - mehrere Geheimnisse zu entlocken. Sie wollen - neben einer langen Reihe von anderen Forschungsfragen - untersuchen, ob das Südpolargebiet, "der größte natürliche Kühlschrank der Erde", das irdische Klima entscheidend beeinflußt. Denn nach einer wissenschaftlichen Theorie wandern die von der unterkühlten Antarktis ausgehenden Luftdruckwellen nach Norden über den Äquator und bewirken Wetterveränderungen auf der ganzen Erde. Außerdem wollen die Polarforscher erkunden, ob zwischen den Verhältnissen in der Antarktis und der Verminderung des Packeises im russischen Sektor des Nordpolgebietes irgendein Zusammenhang besteht. Sie wollen untersuchen, ob die Bodenschätze des Kontinents erschlossen werden können. Und sie wollen in der Antarktis die kosmischen Strahlen erforschen, die aus dem Weltraum auf die Erde niederregnen; denn wegen der Beschaffenheit des erdmagnetischen Feldes ist der Strahleneinfall in Polnähe besonders groß.
Mit dem Beginn der Wissenschaftler-Invasion in der Antarktis erwachte in den einzelnen Ländern auch wieder das Interesse an den territorialen Ansprüchen, die periodisch erhoben wurden, deren Wert oder Rechtsgültigkeit aber bisher umstritten blieb. Die Ansprüche mancher Länder überschneiden sich oder decken sich sogar, was wiederholt - wie 1947 zwischen England, Argentinien und Chile - zu internationalen Spannungen führte. Die Regierung der Vereinigten Staaten, die bisher weder territoriale Ansprüche auf antarktische Gebiete erhoben noch die territorialen Ansprüche anderer Nationen anerkannt hat, schlug 1948 vor, der antarktische Kontinent solle von allen interessierten Nationen gemeinsam verwaltet werden.
Der amerikanische Vorschlag wurde niemals ernsthaft diskutiert. Im US-Kongreß legte der Republikaner Thor Tollefson dem Außenpolitischen Ausschuß des Repräsentantenhauses kürzlich eine Resolution vor, in der die Regierung der Vereinigten Staaten aufgefordert wird, "ihre Souveränitätsrechte über den antarktischen Kontinent zu proklamieren und sich Anspruchsrechte auf alle weiteren Gebiete vorzubehalten, die von Bürgern der Vereinigten Staaten entdeckt, erforscht oder für die USA beansprucht worden sind".
Wenn die amerikanische Regierung einen territorialen Anspruch erheben würde, könnte sie sich auf Tausende von Aluminiumkanistern stützen, die Admiral Byrd und andere amerikanische Marineflieger im Verlaufe der vier amerikanischen Südpol-Expeditionen über vielen Punkten der Antarktis abgeworfen haben. Jeder Kanister enthält eine amerikanische Flagge und ein Dokument mit dem Besitzanspruch auf das Gebiet, auf das der Kanister gefallen ist.
In Washington sagte der Kongreß-Abgeordnete Tollefson: "Die Antarktis gehört mit Recht den Vereinigten Staaten, und im Interesse der nationalen Verteidigung sollten wir unseren gerechten Anteil an dem Reichtum dieses Kontinents sicherstellen."
Das war zugleich ein deutlicher Hinweis auf die ausgedehnten Kohlenlager, auf die vielen Kupfer-, Magnesium- und Molybdän-Vorkommen, die in der Antarktis bereits entdeckt wurden, und auf die Öl- und Uranvorkommen, für deren Vorhandensein es deutliche Anzeichen gibt.
So ist der antarktische Kontinent für die nächsten Jahre nicht nur das Ziel wissenschaftlicher Expeditionen, sondern auch das Objekt strategischer, wirtschaftlicher und politischer Pläne. "Von jetzt an", so sagte Admiral Byrd bei der Einweihung von "Klein-Amerika V", "werden sich hier eine ganze Menge Menschen herumtreiben. Die Antarktis wird nicht länger den Pinguinen überlassen bleiben."
* Im zweiten Weltkrieg wurden für jeden, amerikanischen Soldaten sieben Tonnen Nachschub verschifft.
* Eine offizielle deutsche Expedition ist nicht geplant; lediglich der Leiter der Nanga-Parbat-Expedition, der Münchner Arzt Dr. Karl Herrligkoffer, verkündete im Sommer des vergangenen Jahres, er beabsichtige eine deutsche Antarktis-Expedition aufzustellen (SPIEGEL 34/1955).