HAMBURG / Theater Komplizierte Keuschheit
Amen!" röchelt die Kupplerin Barbette in den fallenden Vorhang, gebeugt über den Leichnam der ebenso schönen wie keuschen Madame Lucile Blanchard. Damit war es denn auch für Hamburg so weit: zwei Drittel des Publikums, darunter Backfischrudel in aparten Flanellkleidchen, erklatschten im Deutschen Schauspielhaus für das nachgelassene Drama von Jean Giraudoux "Um Lucretia" die dritte Station des bundesdeutschen Erfolgsweges. Zu Beifall im Parkett und Balance-Akten der Kritiker-Elite hatte dieses Stück von "den Leiden der Reinheit und den Lektionen der Untugend" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung") bereits in Stuttgart und Düsseldorf gereizt.
Hamburgs moralisch gefestigtes Publikum, freilich seit langem Giraudoux-fromm erzogen, war ein Prüfstein. Denn das "Amen!" der Kupplerin Barbette galt zwar im allgemeinen der weiblichen Reinheit, im besonderen aber einem Schwur aller Huren, die Keuschheits-Vertreterin zu rächen und "den Männern keine Ruhe zu gönnen, weder im Geschäft (also im Freudenhaus), noch wann immer es sich sonst ergibt, nicht den Schönen, die die Häßlichkeit in Person sind, noch den Häßlichen, die sich immer an schnellsten ausziehen; nicht an ihrer Gesundheit, nicht an ihrem Geldbeutel, nicht an ihrer Familie und nicht an ihrem Mark... Um dich zu rächen, mein Engelchen... Um dich zu rächen, ewige Verdammnis zu befördern"!
Dieses Huren-Gelöbnis zum Dienst an der Keuschheit ist nicht das einzige, aber das wirksamste Paradoxon eines Stückes, das sich wieselflink über das Dreiecks- und Schlafzimmer-Schema der französischen Dutzendposse zur dramatisch-philosophischen Plauderei auf der Bühne emporentwickelt.
Als Giraudoux, wie Paul Claudel Schriftsteller und Diplomat, im Januar 1944 starb, hinterließ er angeblich nur den Einakter "Der Apoll von Bellac" und die später so erfolgreiche "Irre von Chaillot". Erst 1950 gab seine Witwe den Startschuß für ein internationales Intendanten-Wettrennen um die Ehre der letzten Giraudoux-Premiere mit dem Hinweis auf das nun wirklich allerletzte Werk "Um Lucretia". Ihr Verzögerungsgrund: "Solange noch etwas für mich zu tun bleibt, ist mir, als sei Jean noch nicht von mir gegangen." Giraudoux-Stammregisseur Louis Jouvet starb über den Vorbereitungen. 1953 riskierte Jean Louis Barrault mit Ewige Feuillère die Pariser Uraufführung.
Die Lucretia heißt bei Giraudoux Lucile und lebt Anno 1868 in Aix-en-Provence. Von der Ur-Lucretia erzählte der Geschichtsschreiber Livius vor 1970 Jahren in seiner Römischen Geschichte "Ab urbe condita", sie sei von Sextus Tarquinius mit dem Schwert bedroht und zum Ehebruch gezwungen worden. Darauf habe sie ihren Gatten gerufen und ihm berichtet: "Von der Sünde zwar spreche ich mich frei, doch von der Strafe löse ich mich nicht. Keine Unkeusche soll zukünftig leben und sich auf Lucretia berufen." Sie stürzte sich in den Dolch, und ihr Mann zog auf Rache aus.
Schon der Kirchenlehrer Augustinus fand um 400 n. Chr. ein Haar in dieser Geschichte: warum wird diese Selbstmörderin gerühmt? "Entschuldigt man den Selbstmord, so bestätigt man den Ehebruch; leugnet man den Ehebruch, so belastet man um so mehr den Selbstmord. Man findet überhaupt keinen Ausweg aus dem Dilemma:
War sie ehebrecherisch, warum rühmt man sie? War sie keusch, warum tötete sie sich?"
Solche Augustinischen Bedenken dürfte auch Giraudoux gehabt haben. Er entzog sich ihnen, indem er einen absonderlichen Tugendfall konstruierte. Seine Lucretia-Lucile Blanchard, Gattin eines Kaiserlichen Staatsanwaltes, wird in den Glauben versetzt, geschändet zu sein, ist aber in Wirklichkeit unberührt geblieben.
Das komplizierte Täuschungs-Manöver ersinnen Feinde Luciles, die ihren Keuschheits-Hochmut brechen möchten. Lucile hat die Gefühle vieler verletzt, denn sie kann jedem amourösen Sünder sein Vergehen ansehen.
Dieser Scharfblick dehnt sich auch auf die betrogenen Ehemänner der "Sünderinnen" aus. Lucile verachtet diese Ehemänner und spricht grundsätzlich nicht mit ihnen. Als sie auf so enthüllende Weise auch Armand, dem Gatten der schönen, sündigen und klugen Paola, gegenüber schweigt, nimmt das Unheil seinen Lauf. Armand erkennt an dem Schweigen Luciles die Sünden seiner Frau. Armands Gattin, Paola, darob sehr ärgerlich, nimmt ebenso gründliche wie subtile Rache. Sie betäubt die reine Lucile, läßt sie in die Absteige der Kupplerin Barbette schaffen und so herrichten, als habe sich der stadtbekannte Wüstling Graf Marcellus an Lucile vergangen.
Lucile glaubt leider daran. Ihre Reaktion ist konsequent, wenn auch scheinbar absonderlich. Sie geht zu Marcellus, der von Paola eingeweiht wurde und bereitwillig den Schänder gespielt hat. Sie verlangt von ihm, "daß keine Spur von seiner Missetat an ihr zurückbleibt". Marcellus sei nun sozusagen ihr Ehemann geworden. Aber "nur in einer längst verschollenen Vergangenheit darf ich Sie gelten lassen. Sie müssen sterben. Um diesen Preis werde ich den Namen Marcellus ohne Ekel aussprechen können".
Marcellus leuchtet diese überspitzte Reinheits-Logik schließlich ein. Allerdings verlangt er, Lucile müsse sich ihm zuvor noch einmal im Wachen hingeben. Lucile ist dazu nicht bereit, auch wird ihr die Entscheidung abgenommen, denn Paola-Gatte Armand, nunmehr ein leidenschaftlicher Verfechter der Reinheit Luciles, fordert Marcellus zum Duell und tötet ihn.
Luciles Zusammenbruch kommt, als ihr hölzerner Staatsanwalts-Gatte Lionel Blanchard sie verdammt und Paola ihr danach ins Gesicht schreit, daß die scheinbare Schändung Theater war.
Paola wiederholt ihre Forderung, Lucile solle ihren Keuschheits-Hochmut ablegen: "Sie werden einer Freundin, die sich zum Stelldichein begibt, die Hand reichen - auch wenn ihre Augen voll Begierde sind. Sie werden einer anderen, die vom Stelldichein kommt, danken, wenn sie Ihnen zulächelt - auch wenn man ihr die tödliche Müdigkeit ansieht. Sie werden dem betrogenen Ehemann zulächeln und mit ihm sprechen. Sie werden sich bei allem, was Sie tun, davor hüten, daß durch Sie ein Mann in den Stand gesetzt wird, Scharfsinn, Zorn oder Verbrechen vorzuspielen!"
Diesen Gefallen tut der Paola die reine Lucile nicht. Für sie ist jetzt erst die Schändung wirklich vollzogen. Sie ordnet sich der "Gemeinschaft der Frauen" insofern ein, als sie ihrem Gatten Lionel nicht verrät, daß alles nicht wahr gewesen ist. Aber dann nimmt sie Gift und stirbt - und triumphiert.
Man war sich einig darüber, daß diese bonmot-gespickte Geschichte sehr kompliziert ist. "Die Aufführung bietet für deutsche Schauspieler fast unüberwindliche Schwierigkeiten", urteilte Chefkritiker Willy Haas in der "Welt". "Jeder der Hauptspieler hat ein tadellos stilisiertes, scharf formuliertes Essay herunter zu sprechen, um dann für längere Zeit den Mund zu halten... Gehemmt sind sie alle durch die deutsche Übertragung, die kaum ohne Schwierigkeit auf dem Papier zu lesen, aber ganz gewiß nicht auf der Bühne zu sprechen ist." Dennoch: "Nicht zutiefst bühnenfremd!"
So negativ formuliertes Lob wird das Stück nicht aufhalten. Es interessiert allgemein, was Giraudoux über eheliche und uneheliche Privatsachen zu sagen weiß.
Gustaf Gründgens, dem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" für seine Düsseldorfer Inszenierung "Glanz, Kraft, Deutlichkeit, aber auch eine merkwürdig starre Härte" bescheinigte, wird nun allerdings mit diesem Giraudoux an der Alster nicht mehr paradieren können. Intendant Lippert hatte "Um Lucretia" ähnlich wie die "Räuber", in denen Gründgens seinen Düsseldorfer Erfolg als Franz Moor hätte wiederholen können, noch rechtzeitig vor seinem Scheiden auf den Spielplan gesetzt. Er sprang auch als Regisseur für den krankgeschriebenen Dramaturgen Benninghoff ein. Allerdings schwört man in Hamburgs Kirchenallee Stein und Bein, man habe sich "Um Lucretia" schon lange vor dem Senats-Diktat, die Intendanten zu wechseln, gesichert.