NEGER / JAZZ Charlie ist tot
Ein großer, dicker Neger, dem der Schweiß in Bächen über Backen und Doppelkinn auf die Brust tropfte, blies auf seinem Saxophon zwanzig Minuten lang dasselbe hohe G, drehte und wand seinen Körper in rhythmischer Ekstase unter dem Beifallsgebrüll des enthemmten Publikums und zog sich dabei noch Jackett, Krawatte und Oberhemd aus. Zum Schluß lag er rücklings mit strampelnden Beinen auf dem Boden und blies immer noch.
Bis zu zwölfmal je Abend erlebte die begeisterte Kundschaft eines Chikagoer Jazzlokals diese "Entkleidungsschau" des Negers McNeely, genannt "Big Jay". Täglich steigt der Prozentsatz am Gesamtumsatz, den ihm geschäftstüchtige Manager anbieten. Der Fall steht nicht vereinzelt da: In kaum einem amerikanischen Jazzlokal kann es ein farbiger Saxophonist heute noch wagen, ohne Verrenkungen seine Musik zu machen.
Den bisher größten Publikumserfolg errang Tenorist McNeely in Minneapolis. Alle neun Jazzlokale der Stadt haben jetzt McNeely-Kopien auf dem Podium. Außerdem haben sich drei weitere Lokale, die bisher Barmusik pflegten, auf die McNeely-Masche umgestellt. Endlich bietet eine Milchbar am Rande der Stadt ihren Gästen pausenlos McNeely-Platten aus der Jukebox*) und dazu halbstündlich den Auftritt von vier weißen Herren mit einer mimischen McNeely-Parodie in bester Broadway-Revue-Präzision.
In den USA wurde diese neue Richtung des Jazz, die unter dem Etikett "r & b" (Rhythmus und Blues) läuft, vor etwa fünf Jahren als Weiterentwicklung des Bebop, des modernen schwarzen Jazz, mit großem Tamtam von interessierten Plattenfirmen offiziell aus der Taufe gehoben. Mitte März zog der bis zuletzt treue Kämpe des Bebop, der berühmte Altsaxophonist Charlie Parker, die Konsequenz aus seiner hoffnungslosen Situation: er beging Selbstmord.
Das kam insofern überraschend, als erst vor wenigen Wochen ein als Bebop-Protektor bekannter Jazzkritiker in allen ihm zur Verfügung stehenden Blättern viel Wind um die bevorstehende Charlie-Parker-Renaissance gemacht hatte. Der Grund: Parker hielt nach vielen Jahren wieder Einzug in die New Yorker Bebop-Hochburg, das "Birdland", das einst seinen Namen nach Parker erhielt (Spitzname: "The Bird" oder "Yardbird" = Nachtigall).
Hier hatte die Nachtigall in den Nachkriegsjahren bis 1948 - ab und zu von Sanatoriumsaufenthalten unterbrochen - mit einem Bebop-Quintett dieser extremen Stilrichtung der "schwarzen Musik" Gehör zu verschaffen gesucht. Am Abend seines Come-back nach fast siebenjähriger Abwesenheit schien es zunächst, als zollte wenigstens die Musikerschaft New Yorks dem Charlie Parker seinen verdienten Tribut für die mühselige Pionierarbeit. Die gesamte Bebop-Elite vergangener Tage war anwesend. Dann setzte Parker sein Instrument an die Lippen und - blies Ketten aneinandergereihter nichtssagender Phrasen, war darüber hinaus technisch miserabel. Das Experiment der Bebop-Renaissance endete, noch ehe es richtig begonnen hatte.
Jetzt untersuchen die Kritiker, die der "Birdland"-Pleite als Augenzeugen beiwohnten, die Fetzen des geplatzten Versuchsballons. Warum mußte es ein Mißerfolg werden? Zweifellos war Parkers mangelhafte Leistung nicht der eigentliche Grund.
Einen Hinweis gibt der Kreischton-Spezialist "Big Jay" McNeely, wenn er sagt: "Die Leute hören sich Parkers Platten an und sagen, das ist großartig. Aber sie verstehen nicht, was da eigentlich vor sich geht." Und die Negersängerin Eartha Kitt (SPIEGEL 5/1955) bemerkt noch heftiger: "Wenn ich mir diesen modernen Jazz anhöre, werde ich gefühlsmäßig äußerst verwirrt. Ich möchte davon loskommen." Das bezeugt, wie wenig selbst die musikalisch Produktiven unter Parkers Rassegenossen mit seinem Bebop anzufangen wissen.
Zuerst war der Bebop (oder Bop), wie der moderne Jazz der Neger genannt wurde, einfach ein Protest gegen das niedrige Niveau der Neger-Musik, den groben Dixieland-Jazz und den wenig prätentiösen Swing. Einige junge Neger, unter ihnen auch Charlie Parker, trafen sich in einer Art inoffizieller Musikerbörse in Manhattan und bemühten sich hier, etwas Neues zu schaffen. Sie hatten keine genaue Vorstellung von dem, was da kommen sollte, und experimentierten daher mit komplizierten Akkorden und Rhythmen. Ein junger indonesischer Multimillionär, der mit seinem Privatflugzeug regelmäßig am Wochenende von seinen javanischen Tee- und Gummiplantagen nach New York kam, machte unzählige Tonband-Aufnahmen und zahlte die Zeche, die die Musiker in der Woche gemacht hatten.
Als die Bebopclique bei Kriegsende in die 52. Straße und auf den Broadway umzog, pries die Kritikerschaft den Saxophonisten Charlie ("Yardbird") Parker und den Trompeter John Birks ("Dizzy") Gillespie als Protagonisten eines neuen Jazz. Das Publikum jedoch bestand die Bewährungsprobe nicht. Anstatt an der Musik, die ihm emotionell fremd blieb, berauschte es sich an den Manierismen der Musiker. Es bekehrte sich mit Charlie Parker zum Islam oder trug wie Gillespie Baskenmütze, Sonnenbrille und Ziegenbart. Heute heißen
in den USA die Sonnenbrillen allgemein "Bopglasses".
Da sich die Masse des Publikums dem neuen Jazz gegenüber derart ablehnend verhielt, hatte sich der Bebop schon 1948 totgelaufen. Charlie Parker ging vorläufig wieder in ein Sanatorium und kurierte seinen seelischen Knacks aus, den er sich beim Bop geholt hatte. Im übrigen degenerierte der Negerjazz zu seiner heutigen Show-Form, dem "Rhythm and Blues".
Zu dieser Zeit eröffnete ein weißer Pianist italienischer Abstammung namens Lennie Tristano (SPIEGEL 38/1953) in Manhattan die erste ernst zu nehmende Jazzschule. Er bildete seine Schüler zwar an Charlie-Parker-Platten aus (um ihnen Improvisations- oder Jazzgefühl zu geben), produzierte aber einen neuen weißen Jazz, dessen Grundlagen die Barockmusik und die musikalische Moderne Europas und Amerikas sind. Er gab seinen Schülern einen guten Rat mit: Spielt einfach, emotionell, klar, verständlich und vor allem melodisch schön!
Die "weiße" Tristano-Schule zog Jahr für Jahr weitere Kreise an. Heute gibt es in den USA wie in Europa kaum einen Jazzmusiker, der nicht - mittelbar oder, wie meistens, unmittelbar - bei Tristano studiert hat. Im sonnigen Kalifornien lehrte darüber hinaus der französische Komponist Darius Milhaud, der den dortigen Jazzleuten noch eine gehörige Portion klangsüßen Impressionismus einimpfte.
Der Erfolg: dem Publikum gefällt dieser neue, stilistisch "weiße" Jazz, es kauft ihn. Ein gerader Weg führt von der Eröffnung der Tristano-Schule zur heutigen Jazzplatten-Hausse (monatlich 40 bis 50 neue Langspiel-Jazzplatten!).
Ein Hauptgrund für die Billigung des Publikums ist: der neue weiße Jazz, der oft mißverständlich "cool jazz" genannt wird, ist im Gegensatz zum Bebop der Neger zumeist in der Lautstärke temperiert, er ist außerdem oft wieder tanzbar.
Als Charlie Parker 1955 das "Birdland"-Podium betrat, setzte er sozusagen den Fuß auf feindliches Territorium: in das "weiße" Reich Lennie Tristanos. Die allenfalls mittelgroße Popularität weniger schwarzer Modernisten kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das schöpferische Element im Jazz heute bei weißen Künstlern liegt, wie dieser neue weiße Jazz eben überhaupt mehr auf der europäischen Musiktradition als auf der bisherigen "schwarzen Musik" basiert. Auch die wenigen farbigen Ausnahmen spielen heute weißen Jazz.
Die Reaktion auf Parkers "Birdland"-Engagement war eine verspätete Absage an den schwarzen Jazz. Wenn Neger heute auf der Bühne erscheinen, erwartet das Publikum entweder die groteske Clownerie Gillespies oder den bekannten Jazz-At-The-Philharmonic-Zirkus oder sogar McNeelys große Entkleidungsmasche, doch keinesfalls Musik irgendwelchen Formats.
Charlie Parker, der letzte Bop-Musiker, liegt, 36jährig, unter der Erde. Der moderne schwarze Jazz ist tot.