Pfiff im Wald
Aus der Konkursmasse des Reiches, aus der schon die Bundesrepublik und die DDR notgeboren wurden, soll jetzt der dritte deutsche Teilstaat entstehen: Seit knapp einem Monat ist Walter Ulbricht, der sowjetische Landpfleger in Mitteldeutschland, mit der Gründung der "Freien Stadt Berlin" beschäftigt. An der Spree werden - behutsam noch, aber zielstrebig - die Grenzen eines neuen Danzig abgesteckt.
Bei seinem Schöpfungsakt, der nicht von heute auf morgen vollendet werden kann und zu dem Moskau Ulbricht den Atem einhaucht, hat der Spitzbart bisher so viel Fingerspitzengefühl gezeigt, daß die Politiker in Bonn und Westberlin in der vergangenen Woche ihre größte Sorge noch nicht in konkreten Abwehrmaßnahmen sahen, sondern darin, der Öffentlichkeit die Berliner Vorgänge erst einmal verständlich zu machen.
Die empörten Kommentare der bundesrepublikanischen Zeitungen über Ulbrichts Berlin-Politik - Passierscheinzwang für westdeutsche Ostberlin-Besucher - reichten nicht aus, um überall im befreundeten Ausland die Überzeugung zu wecken, daß es sich bei den verschiedenen SED-Maßnahmen um mehr handelt als um innerdeutsche Reiseschwierigkeiten.
Aushilfskanzler Ludwig Erhard ließ daher nach einer Kabinettssitzung die westliche Welt eindringlich warnen: Die jüngsten Anweisungen Ulbrichts über den Berliner Sektorenverkehr seien "ein weiteres Teilstück des weltumfassenden sowjetischen Kampfes gegen die freie Welt ... Berlin (ist) nur einer der Schauplätze dieses Kampfes, durch den die ganze freie Welt bedroht ist".
Auch der Regierende Bürgermeister Brandt, der besorgt ist, ein isolierter Berlin-Streit könnte in der Weltöffentlichkeit schließlich wie das Gezänk "deutscher Lumumbas" wirken, hob den Zeigefinger: "Wir würden falsch reagieren, wenn wir nur auf das Brandenburger Tor und den Potsdamer Platz sehen und den gesamtpolitischen Zusammenhang aus den Augen verlieren würden. Wir sind im Augenblick nur der Exerzierplatz einer Teilaktion. In Wahrheit erleben wir den Beginn einer neuen kommunistischen Gesamtoffensive."
So gerechtfertigt diese Lagebeurteilung ist, so geschickt hat aber auch Walter Ulbricht es bisher vermieden, die öffentliche Meinung der Westmächte massiv gegen sich aufzubringen: Keine der neuen SED-Bestimmungen über den Verkehr von und nach Berlin und innerhalb der Viersektorenstadt hat die Rechte der Alliierten berührt.
Vorsorglich ließ außerdem auch noch der sowjetische Stadtkommandant, General Sacharow, Ende letzter Woche gegenüber einem seiner westlichen Kollegen durchblicken, daß die SED-Genossen, was die Sicherheit der Westalliierten in Berlin angeht, an Moskaus Kette liegen: Auf diesem Gebiet behalte sich die Sowjet-Union alle Schritte vor.
Bonns Verbündete waren unter diesen Umständen in der vergangenen Woche nicht geneigt, schon jetzt mit aller Schärfe auf die Pankower Manipulationen am Berlin-Status zu reagieren: Sie wollen ihr Pulver trockenhalten, um sich gegen Aktionen zur Wehr setzen zu können, die direkt gegen die Berliner Besatzungstruppen gerichtet sind.
Als solche müßten nach alliierter Ansicht angesehen werden:
> Eingriffe in die westlichen Luftkorridore nach Berlin; in einem solchen Falle wollen die Alliierten nur noch mit Militärmaschinen, eventuell mit "starkem und stärkstem" Jagdschutz fliegen.
> Eine Behinderung des freien Warenverkehrs mit der alten Reichshauptstadt.
Die Westmächte beschränkten sich denn auch darauf, die Ausgabe von Reisedokumenten durch das Allied Travel Board in Berlin, mit denen DDRBewohner bisher ins westliche Ausland reisen konnten, stark zu kürzen.
Daß durch die Verringerung der Visa (bisher monatlich 850 Stück) die Propaganda-Tourneen sowjetzonaler Funktionäre in den Westen unterbunden werden können, erscheint selbst den Angestellten des Allied Travel Board als zweifelhaft: Gelegentlich sind hohe Staatsdiener der DDR bereits früher mit tschechischen Pässen ins Ausland gereist, eine Übung, an der bisher nur Norwegen Anstoß genommen hat. Die Schweiz, Österreich und Schweden haben ihre Einreisevisa auch in DDR-Pässe gestempelt, und sogar Großbritannien ließ DDR-Bürger mit volkseigenen Pässen einreisen.
Mit der Bundesregierung kamen die Alliierten überein, "engen Kontakt" wegen etwaiger wirtschaftlicher Sanktionen gegen die Sowjetzone zu halten. Ein schneller konkreter Beschluß konnte auf diesem Gebiet nicht gefaßt werden, weil sich die Nato-Partner erst einmal gegenseitig in die Hand geloben müssen, den gemeinsamen Opfersinn über den Krämergeist schnöden Konkurrierens um die DDR-Abnehmer zu stellen: ein Punkt, der auch den westdeutschen Fabrikanten und Handelsherren am Herzen lag, die gegenüber Ludwig Erhard namens der bundesrepublikanischen Wirtschaft die vorerst noch unverbindliche Erklärung abgaben, kein deutscher Kaufmann werde sich "zum Handlanger der Interessen der Zonenmachthaber herabwürdigen Lassen".
Kommentierte "Christ und Welt" die erste Woche des Bonner Kampfes für die Westberliner Brüder: "Der Bundeskanzler blieb in Cadenabbia und der Außenminister in Südamerika ... Zwar flog Erhard nach Berlin, zeigte sich aber wenig vorbereitet, und seine polternde Rhetorik verbarg kaum die Konzeptionslosigkeit des amtierenden Regierungschefs. Als dann endlich . . . das Bundeskabinett zusammentrat, einigte man sich auf ein paar Nadelstiche, die Ulbricht wenig und den Sowjets schon gar nicht weh tun."
Ähnlichen Kummer äußerte nach Erhards Berlin-Besuch auch Willy Brandt im kleinen Kreis: Der Vizekanzler habe nicht so recht eine politische Linie erkennen lassen, sondern sei bei ihrem Gespräch sehr bald zu wirtschaftlichen Fragen, etwa über die Bedeutung des Interzonenhandels, abgeschweift.
Daraus auf das mangelnde politische Talent Ludwig Erhards zu schließen, ist in der vergangenen Woche selbst im Bonner Auswärtigen Amt als ungerecht zurückgewiesen worden, obwohl die Bundesdiplomaten einigermaßen betreten waren über des Wirtschaftsministers öffentliche Behauptung in Berlin: "Ob Herr Ulbricht will oder nicht, ich befinde mich hier auf dem Boden der Bundesrepublik."
Erhard hatte damit gerade jene Position rhetorisch erschüttert, die in der vergangenen Woche von den Westmächten entschieden verteidigt werden mußte, wenn sie nicht die kommunistischen Maßnahmen widerspruchslos hinnehmen wollten: den Sonderstatus von Berlin, der in mehreren Ost-West-Protokollen aus den Jahren 1944 und 1945 festgelegt worden ist und der heute einerseits die Aufnahme Westberlins als Bundesland in die Bundesrepublik ausschließt und andererseits die Rechtsgrundlage für den Verbleib westlicher Truppen an der Spree abgibt.
Im Auswärtigen Amt galt bisher als sicher, daß sich der Minister bei seiner Bemerkung nichts weiter gedacht hat.
Die Absage Erhards an die einzige völkerrechtliche Stütze der Alliierten in Westberlin konnte in der Tat nur als die arglose Aufwallung bundesdeutschen Staatsgefühls verstanden werden und nicht als der Ausfluß irgendeiner amtlichen Bonner Konzeption: Seit der vergangenen Woche ist es offenkundig, daß die Bundesregierung nicht weiß, was sie außer gutgemeinten Deklamationen in der Berlin-Frage tun kann. Der Bonner Appell an die "moralische Solidarität des Westens" (Erhard-Berater Hohmann) gleicht dem Pfeifen von Kindern im dunklen Walde.
Walter Ulbricht eröffnete sein Spiel Ende August mit der auf fünf Tage befristeten Sperre des Ostsektors für Bundesdeutsche. Die Maßnahme wurde mit einem Heimkehrer- und einem Vertriebenentreffen in Westberlin begründet - in den Augen westlicher Zeitungsleser, die wenige Tage zuvor Berichte über Ludwig Erhards Rede vor Oberschlesiern in Düsseldorf gelesen hatten, mindestens keine ganz unlogische Reaktion Pankows.
Am 8. September verordnete die DDR-Regierung unbefristet, daß Bewohner der Bundesrepublik künftig für das Betreten des Berliner Ostsektors eine Aufenthaltsgenehmigung einholen müssen.
Da solche Genehmigungen bisher ohne Anstände an der Sektorengrenze ausgegeben wurden, rief auch diese Änderung keine weithin hallende Empörung im westlichen Ausland wach. Die ohnehin für Ausländer schwer zu übersehenden Verkehrsverhältnisse im geteilten Deutschland schienen nur um eine weitere, rein innerdeutsche Formalität zusätzlich kompliziert worden zu sein.
Nicht nur die Rechte der Alliierten blieben damit vorläufig von den SED-Verordnungen ausgespart. Ulbricht ließ auch die Westberliner ungeschoren, für die sich im Verkehr mit dem östlichen Teil ihrer Stadt nichts änderte.
Der nächste Ulbricht-Erlaß, der erste für die Westberliner, mußte zwangsläufig verkündet werden, wenn das von Chruschtschow 1958 gesetzte Ziel einer sogenannten Freien Stadt konsequent angesteuert werden sollte:
Mit Wirkung vom 15. September erkannte die DDR-Regierung bundesrepublikanische Pässe nicht mehr als Ausweispapier Westberliner Bürger an. Bei der Durchreise durch die Zone müssen die Westberliner seitdem ihren Berliner Personalausweis vorlegen, der - wenn sie nicht nur ins Bundesgebiet, sondern ins Ausland fahren wollen - mit einer Art DDR-Transitvisum versehen wird eine Erhöhung des Personalausweises zur Vorstufe eines eigenen Freistadt-Passes.
Der Transitschein wird gratis abgegeben, während ein Visum im Paß bisher drei Mark kostete: Ulbricht will die Westberliner mit dem Gedanken vertraut machen, daß eine "Freie Stadt" nicht nur Nachteile mit sich bringt.
Als mögliche Repressalien gegen Ulbrichts nächste Versuche, auf einer - vergleichsweise - weichen und im westlichen Ausland kaum wahrgenommenen Welle seinem Ziel entgegenzureiten, haben sich die Westmächte ausgedacht:
> ein Handels-Embargo der Nato gegen die DDR,
> das Verbot des Transitverkehrs von DDR-Gütern durch die Nato-Staaten;
> die Sperrung aller Häfen der Nato-Staaten für DDR-Schiffe. Pankows Frachter müssen in Holland oder England nachtanken, wenn sie ihre Ladekapazität - zum Beispiel im aktuellen Handel mit Fidel Castros Kuba - voll ausnutzen wollen. Die westlichen Planspieler erkannten jedoch bald, daß die Verwirklichung dieses Katalogs der beste Vorwand für den Ostblock wäre, vor der Uno gegen die Behinderung des DDR-Handels zu protestieren - und damit das Berlin-Thema vor jenem Forum aufzuwerfen, das Walter Ulbricht zielstrebig ansteuert.
Die Ungewißheit, wie die Uno-Mehrheit sich nach allmählicher Gewöhnung an den Gedanken einer Freistadt Berlin dann entscheiden würde, lähmte die Freude der westlichen Diplomaten an ihrem - bisher geheimgehaltenen - Sanktionskatalog.
Zu seiner Einführung in der Kreis der Vereinten Nationen hat der SED-Chef in der vorvergangenen Woche bereits einen Brief an Uno-Generalsekretär Hammarskjöld geschrieben. Ulbricht bat um eine Einladung zur Abrüstungsdebatte, um einen in drei Etappen unterteilten gesamtdeutschen Entwaffnungsplan der DDR-Regierung vortragen zu können.
Kernstück der ersten Etappe nach Ulbrichts Intentionen: "Der Abschluß eines Friedensvertrages mit beiden deutschen Staaten und die Umwandlung Westberlins in eine entmilitarisierte Freie Stadt."