ZEITGESCHICHTE Falsche Freunde
Die Stimmung der drei Männer auf dem kleinen Flugplatz Watton bei Cambridge war angespannt. Die beiden Deutschen nahmen noch einen großen Schluck Brandy aus dem Flachmann ihres amerikanischen Führungsoffiziers, ehe sie bewaffnet und mit Helm in den schwarz gestrichenen A-26-Bomber stiegen. Es war, wie der US-Geheimdienstler später berichtete, ein aufwühlender Augenblick.
Der nun beginnende Einsatz von Anton Ruh, 33, und Paul Lindner, 34, zählte zu den gefährlichsten Missionen, die deutsche Emigranten für die Alliierten im Zweiten Weltkrieg übernommen haben. Mit Fallschirmen sprangen sie im Morgengrauen des 2. März 1945 einige Kilometer nordwestlich Berlins ab, um in der Reichshauptstadt Hitler-Gegner zu kontaktieren und Informationen für alliierte Bomber zu sammeln.
Acht Wochen versteckten sich Ruh, ein gelernter Steindrucker, und Lindner, von Haus aus Dreher, in einer Laubensiedlung in Berlin-Britz. Sie teilten der Londoner Außenstelle des amerikanischen Geheimdienstes OSS die Lage von Munitionsfabriken mit, informierten darüber, dass das Kraftwerk Klingenberg noch in Betrieb war, und legten nahe, die Berliner S-Bahn zu bombardieren.
Von großer Bedeutung war keine dieser Informationen, doch nur wenigen der 38 Teams, die das OSS in der Endphase des Zweiten Weltkriegs über Deutschland absetzte, gelang es, überhaupt Kontakt zu London herzustellen. Nach dem Sieg der Alliierten sollten Ruh und Lindner für ihren Mut ausgezeichnet werden. Die Ehrung kam aus unbekannten Gründen nie zu Stande.
Das will jetzt, knapp 60 Jahre später, die Regierung von US-Präsident George W. Bush nachholen. Den beiden längst verstorbenen Hitler-Gegnern ist postum der "Silver Star" verliehen worden, eine hohe militärische Auszeichnung. Es ist das erste Mal, dass Deutschen, die auf Seiten der Amerikaner kämpften, eine solche Anerkennung zuteil wird.
Bedanken können sich die Familien der Geehrten dafür bei dem New Yorker Rechtsanwalt Jonathan Gould und der US-Senatorin Hillary Clinton. Advokat Gould, dessen Vater einst die beiden Widerstandskämpfer das Agentenwesen lehrte, hatte bei Recherchen zur Familiengeschichte herausgefunden, dass Ruh und Lindner nach 1945 leer ausgegangen waren. Er wandte sich deshalb an die prominente Politikerin, die den Bundesstaat New York im Senat vertritt. Hillary Clinton bat ihrerseits die konservative Bush-Regierung um Prüfung - mit Erfolg.
Vergangene Woche traf der Bescheid bei ihr ein. Obwohl Ruh während des Kalten Krieges in der DDR zum Botschafter aufstieg und auch Lindner in der SED Karriere machte, hatte das zuständige US-Verteidigungsministerium offenbar keine Bedenken.
Was freilich weder Clinton noch Gould oder die Militärs wussten: Die beiden für die Ehrung vorgeschlagenen Deutschen kämpften nicht nur im Namen der Freiheit gegen Hitler, sie kundschafteten zugleich im Auftrag Moskaus den amerikanischen Bündnispartner aus.
Dass Ruh und Lindner auf zwei Schultern trugen, reklamierten die ostdeutschen Kommunisten schon in den siebziger Jahren als Erfolg im Kampf gegen die Nazis für sich. Doch Zweifel schienen angebracht, denn Übertreibung und Irreführung gehörten zum Handwerkszeug der Machthaber jenseits der Mauer. Dem SPIEGEL vorliegende SED-Dokumente liefern nun aber die Gewissheit: Ruh und Lindner spionierten tatsächlich für die sowjetischen Genossen.
Beide Kommunisten mussten 1953 vor der Zentralen Parteikontrollkommission der SED aussagen. DDR-Diktator Walter Ulbricht misstraute der ideologischen Standfestigkeit jener Genossen, die vor Hitler in westliche Länder geflohen waren, und ließ sie überprüfen. Lindner und Ruh wurden nach ihrem Einsatz für das OSS befragt. Da berichteten sie von dem Doppelspiel.
Schon Anfang der dreißiger Jahre hatten die beiden Berliner für den Geheimdienst der KPD gearbeitet. Kurz vor ihrer Dienstverpflichtung auf amerikanischer Seite schwor sie der amtierende KPD-Verbindungsmann
zu den Sowjets ein: "Ab jetzt musst du dich so betrachten, dass du für unsere sowjetischen Freunde arbeitest, und behandele die Fragen so, dass du unter Befehlsgewalt der Roten Armee stehst."
Der militärische Nachrichtendienst Moskaus wollte vor allem die Methoden ausspähen, mit denen die amerikanische Konkurrenz Agenten trainierte. Lindner informierte bereitwillig über das Ausbildungsprogramm: montags Taktikschulung, mittwochs Umgang mit SS-Patrouillen, freitags Studium von Landkarten.
Die beiden Kommunisten hatten sich im Spätsommer 1944 vom OSS anwerben lassen, als die Amerikaner verzweifelt deutschsprachige Agenten suchten, um sie hinter der Front abzusetzen. US-Truppen näherten sich der Grenze des Dritten Reiches, doch Washington führte in Hitlers Imperium nur eine Hand voll Spione, weil US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower davon ausgegangen war, dass der Krieg schon auf französischem Boden siegreich enden würde.
US-Leutnant Joseph Gould - vor dem Krieg Gewerkschaftsfunktionär in der Filmbranche - erhielt den Auftrag, sich auf der Suche nach Kandidaten unter deutschen Emigranten in London umzutun. Dass deren Herz oft links schlug, war bekannt, aber das OSS hatte keine Alternative.
Als gewiefter Großstädter beschloss der 29-jährige New Yorker Gould, zuerst Londoner Buchläden anzulaufen. Ein Händler in der New Bond Street vermittelte ihm schließlich einen Kontakt. Gould geriet an den deutschen Sowjetagenten Erich Henschke alias Karl Castro, der sofort seine Führungsleute informierte. Die waren, so Henschke laut SED-Unterlagen, "begeistert".
Bald konnte der Mann Moskaus dem Amerikaner eine Kandidatenliste vorlegen. Die Lebensläufe waren sorgfältig frisiert - angeblich alles Sozialdemokraten oder Gewerkschafter, sozusagen Kollegen Goulds; von KPD-Mitgliedschaft kein Wort.
Gould suchte sieben Männer aus, darunter auch Lindner und Ruh. Für das damals üppige Gehalt von 331 Dollar im Monat und eine satte Lebensversicherung heuerten sie beim Klassenfeind an.
Im November 1944 begann die Ausbildung. Die Doppelagenten trainierten Fallschirmspringen und lernten im OSS-Lager in Ruislip bei London, wie man Papiere fälscht und Menschen lautlos tötet. Sie bekamen Schießunterricht und übten das Dechiffrieren codierter Botschaften, die später die BBC senden sollte. Vor allem an den dafür notwendigen Schlüsseln waren die Sowjets interessiert; Lindner gab das Wissen weiter.
Ob Ausbilder Gould ahnte, wen er vor sich hatte, lässt sich nicht mit Sicherheit beurteilen. Lindner gewann den Eindruck, dass der OSS-Mann insgeheim mit dem Kommunismus sympathisierte: "Man hätte annehmen können, dass er ein amerikanischer Genosse ist." Unter ihrem Kriegspräsidenten Franklin D. Roosevelt hatten die Amerikaner kaum Berührungsängste. Um Hitler zu bezwingen, erklärte OSS-Chef William Donovan einmal, würde er auch den sowjetischen Diktator Josef Stalin "auf die Lohnliste setzen".
Im Januar 1945 schickte der Geheimdienst die Emigranten, die nie gedient hatten, in Landseruniformen für einige Tage in ein Kriegsgefangenenlager - ein Test. Als die Männer unter den Wehrmachtsoldaten nicht auffielen, konnte die Operation mit dem Codenamen Hammer beginnen.
Von den Amerikanern bekamen Ruh und Lindner 14 000 Reichsmark, zwei Diamanten und rund hundert Kilogramm Kaffee für den Schwarzmarkt mit auf den Weg; von den Sowjets erhielten sie nur die Order, in Berlin Kontakt zu einem Verbindungsmann aufzunehmen und dessen Anweisungen zu folgen.
Doch der sowjetische Kontaktmann erschien nicht; und an die Amerikaner konnten Ruh und Linder ihre Beobachtungen in Berlin auch nicht wie gewünscht durchgeben. Zwar hatte sie das OSS mit der neuesten technischen Errungenschaft versorgt, dem Joan/Eleanor-Funkgerät, benannt nach den Freundinnen der beiden Erfinder. Der Handy-Vorläufer ermöglichte es, mit der Besatzung eines Flugzeugs in zehn Kilometer Höhe zu sprechen.
Aber nur einmal kam eine brauchbare Verbindung zu Stande, und der Großteil des Gesprächs drehte sich um Nachschubwünsche der beiden Agenten, denen der Proviant auszugehen drohte. Es habe eben eine Weile gedauert, ehe sie sich eingerichtet hatten, sagte Lindner 1953 im SED-Verhör und räumte ein: "Als wir zur Entfaltung kommen konnten, war der Krieg vorbei."
Am 24. April marschierte die Rote Armee in Neukölln ein. Ruh und Lindner gaben sich sofort als Freunde der Sowjetmacht zu erkennen, was ihnen die Russen vor Ort allerdings nicht glaubten. Sie durften die Einheit nicht verlassen und wurden als US-Agenten Mitte Juni 1945 den Amerikanern bei Leipzig übergeben. Diese schafften ihre Schützlinge in die OSS-Dependance nach Paris und ließen sich dort berichten, wie der Einsatz gelaufen war. Dann wurden Ruh und Lindner entlassen, sie kehrten für einige Monate nach England zurück und zogen schließlich in den Ostteil Berlins. DDR-Botschafter Ruh erlag 1964 einem Herzanfall in Bukarest, Lindner starb 1969 in seiner Heimatstadt.
Ganz wohl war einigen Amerikanern freilich nicht gewesen, als sie die beiden ziehen ließen. Sie ahnten bereits, dass der neue Feind im Osten stand, und fürchteten, dem Waffenbruder von einst könne das hochmoderne Joane/Eleanor-Funkgerät in die Hände fallen.
Eine überflüssige Sorge. Ruh und Lindner hatten den Apparat zwar kurz vor Kriegsende vergraben, weil sie eine Verhaftung fürchteten. Als aber Sowjetagent Henschke 1947 von ihnen verlangte, das Gerät wieder auszugraben, mühten sich die Spione vergebens. Sie fanden die Stelle nicht mehr. KLAUS WIEGREFE