04.01.1947
Mit Wodka, ohne Politik
Die Stadt des größten Elends in der Welt und doch die bedeutendste Stadt Deutschlands" nannte Oberst Frank L. Howley, der Direktor der USA-Militärregierung, Berlin, als er einen verfrühten Neujahrsbesuch bei Oberbürgermeister Otto Ostrowski machte und damit dem Berliner Stadtoberhaupt zuvorkam, um ihm seine "Auffassung von Demokratie zu zeigen".
Dr. Ostrowski packte die Gelegenheit beim Schopfe und legte dem Amerikaner seine Ansichten über die Lebensmittelverteilung dar, die nicht nach Sektoren sondern für ganz Berlin einheitlich geregelt werden müsse. Alle Berliner sollten die gleichen Annehmlichkeiten und die gleichen Entbehrungen zu teilen haben, wie es beispielsweise bei den Weihnachtszuteilungen gemacht worden war.
Die von den Russen zur Verfügung gestellten 900 000 Flaschen Wodka, die eigentlich zu Weihnachten gedacht waren, wurden um Silvester herum verteilt, und alle Berliner Männer mit den Kartengruppen I, II und III (IV sind die Kinder) konnten einen Einheitsschluck tun. Die "Sonstigen", also die Leute mit der Karte V - der "Friedhofskarte" - und alle Frauen hatten das Nachsehen. Für sie gab es nichts.
Die von den Franzosen zum Fest versprochenen 100 000 Flaschen Sekt und 3000 hl Wein lassen noch auf sich warten. Transportschwierigkeiten haben die rechtzeitige Lieferung verhindert.
Kommunalpolitisch herrschte zum Jahreswechsel Ruhe. Die Debatten in der Stadtverordnetenversammlung über die Sozialisierung werden erst nach Neujahr wieder aufgenommen, auch die Bezirksparlamente machen bis dahin Ferien.
Die politischen Parteien haben die üblichen Neujahrsaufrufe erlassen, in denen Bekanntes noch einmal festgestellt und für das neue Jahr das Bestmögliche versprochen wird. "Vereinigt Euch!" ruft Wilhelm Pieck allen Sozialdemokraten und Kommunisten im übrigen Deutschland zu. Das sei die wichtigste Aufgabe der Arbeiterschaft für 1947.
In der SED scheint es aber auch Leute zu geben, die keine Sozialisten sind. In einem Aufruf des Zentralsekretariats der SED wird festgestellt, daß die Partei nur zu einem schlagkräftigen Instrument der Arbeiterklasse werden könne, wenn im neuen Jahr "aus den Mitgliedern Sozialisten werden".
In der Haltung der Sowjetbehörden den bürgerlichen Parteien der Sowjetzone gegenüber vollzieht sich eine allmähliche Wandlung. Die bürgerliche Presse erhält größere Papierzuteilungen, die Zensur ist gemildert und Kritik an der SED, die früher beanstandet wurde, kann jetzt veröffentlicht werden. Auch die Einschränkung der Tätigkeit für nichtmarxistische Organisationen ist gelockert.
Die Berliner Feuerwehr aber hat alle Hände voll zu tun. Die braven Männer, von denen rund 50 Prozent in Holzschuhen laufen müssen, weil kein anderes Schuhwerk für sie da ist, und von denen 75 Prozent ohne Uebermantel arbeiten, werden im Durchschnitt 60mal täglich alarmiert (gegenüber nur 25 Alarmen im letzten Friedensjahr). In den Weihnachtstagen häuften sich die Gasvergiftungen (es waren über ein Dutzend). War das ein Zufall oder liegen hier tiefere Zusammenhänge zugrunde? fragt der unabhängige und unzensurierte "Abend" im amerikanischen Sektor.
DER SPIEGEL 1/1947
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