MEDIZIN Entdecker in der Welt der Töne
Malte Masurenko war schon über ein Jahr alt, als er sein erstes Geräusch hörte. "Wir riefen seinen Namen, da drehte er sich plötzlich zu uns um", erinnert sich seine Mutter.
Was für andere Eltern etwas ganz Normales ist, bedeutet den Masurenkos ungeheuer viel: Malte ist taub. Eine Virusinfektion während der Schwangerschaft hat die Sinneszellen in seinem Innenohr zerstört.
Heute ist Malte drei Jahre alt, sitzt mit Mutter Daniela und Cousin Henri in der Küche im niedersächsischen Altenmarhorst und will unbedingt noch am Tisch seine Arbeitshandschuhe anziehen. Die Familie hat neu gebaut, die Jungs spielen gern Bauarbeiter. Als das Telefon klingelt, schnappt der Kleine sich den Hörer und sagt seinem Großvater, dass er mitfahren will, wenn Oma und Opa Henri nachher wieder abholen.
Er presst den Hörer fest ans rechte Ohr. Dort sitzt das Gerät, das ihm das Sprechenlernen und Telefonieren ermöglicht: Malte trägt ein Cochlea-Implantat (CI), eine Innenohrprothese, die seinen Hörnerv anstelle der geschädigten Haarzellen mit Sinneseindrücken versorgt. Ein Hörgerät würde Malte nichts nützen: Sein Innenohr kann Schall nicht in elektrische Impulse übersetzen - selbst dann nicht, wenn er ihm um ein Vielfaches verstärkt in den Gehörgang dröhnt.
Der hauchdünne Silikonfaden, den ein Chirurg vor zwei Jahren in die Windungen von Maltes Hörschnecke, der Cochlea, geschoben hat, ist von außen nicht zu sehen. Auffällig sind nur das Mikrofon hinterm Ohr, das den Schall aufnimmt, und die Sendespule schräg darüber, die Informationen an das Implantat schickt (siehe Grafik).
"Malte versteht inzwischen alles, ohne von den Lippen abzusehen", sagt Vater Christian. "Dass er dennoch immer hörbehindert sein wird, merken wir, wenn das Implantat mal ausfällt, etwa wenn ein Kabel kaputtgeht." Wenn es dann wieder still wird um ihn, wird der Dreijährige schweigsam und traurig - oder er drängt seine Eltern, mit ihm ins Schwimmbad zu gehen. "Da kann er das CI sowieso nicht benutzen", erklärt seine Mutter, "im Moment findet er nur baden noch besser als hören."
Das künstliche Innenohr ist die einzige Neuroprothese, die es bislang zur Serienreife gebracht hat: In ihrem Bemühen, Blinden mit Seh-Chips zu neuem Augenlicht zu verhelfen oder die Nervenbahnen Querschnittsgelähmter künstlich zu verknüpfen, stecken Forscher noch immer in der Experimentierphase. Ein Cochlea-Implantat hingegen tragen weltweit etwa 75 000 Menschen, allein in Deutschland sind es mehr als 7000. Vor allem bei gehörlosen Kindern steigt die Zahl der Implantationen rasant; seit einigen Jahren werden viele schon im ersten Lebensjahr oder kurz danach operiert.
An der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), einem der weltweit größten CI-Zentren, setzen die Mediziner um Chefarzt Thomas Lenarz jedes Jahr rund 220 Implantate ein, 60 Prozent davon bei Kindern. Im vergangenen Jahr haben die MHH-Ärzte ein erst vier Monate altes Baby operiert, das nach einer Hirnhautentzündung ertaubt war. Auch die Würzburger Uni-Klinik ist auf sehr junge CI-Empfänger spezialisiert. Dort waren die Mediziner weltweit die Ersten, die eine beidseitige Versorgung mit den Hörhilfen erprobten.
Etwa eins von 1000 Neugeborenen kommt gehörlos zur Welt. Bei vielen wird die Behinderung heute schon kurz nach der Geburt erkannt, denn große Kliniken bieten inzwischen Hörtests für Säuglinge an. Thomas Lenarz möchte erreichen, dass ein solches Hörscreening bundesweit durchgeführt wird. "Ohne den Test wird eine Schwerhörigkeit im Schnitt erst mit 27 Monaten diagnostiziert", so Lenarz - was ein Kind dann in seiner Sprachentwicklung verpasst hat, ist kaum noch aufzuholen.
Je länger ein Kleinkind von der Welt der Töne abgeschnitten ist, umso mehr stellt sich sein Gehirn auf das Fehlen dieses Sinns ein; die Großhirnrinde organisiert sich anders als bei Hörenden. Jene Bereiche, die normalerweise für die Verarbeitung von Sprache und Geräuschen zuständig sind, übernehmen dann andere Aufgaben - etwa die Analyse visueller Reize. Spätestens mit sieben Jahren, schätzen Experten, schließt sich das Sprachfenster für immer. "In Untersuchungen zum Spracherwerb von CI-Kindern schneiden die Frühimplantierten immer besser ab als diejenigen,
Doch während normal hörende Babys gleichsam nebenbei sprechen lernen, müssen CI-Empfänger erst trainieren, was die neuen Sinneseindrücke bedeuten. Die 22 Elektroden der modernen Implantate können die höchst komplexen Leistungen der mehreren tausend Haarzellen im gesunden Ohr nur unvollständig ersetzen.
"Zuerst klang alles ziemlich metallisch, wie eine sehr schlechte Übertragung mit einem Blechbüchsentelefon", erzählt Ralf Janowsky, der sein Gehör im Alter von 30 Jahren verlor und nun mit seinem CI wieder Sprache verstehen kann. Doch Janowsky konnte die künstlichen Geräusche mit seinen Erinnerungen abgleichen. Taub geborene Kinder kennen nur den synthetischen Sound.
Anfangs kamen ausschließlich ertaubte Erwachsene für die Implantate in Frage. Kinder werden erst seit Ende der acht- ziger Jahre operiert, das erste Baby unter einem Jahr bekam sein CI 1998. Viele der früh versorgten CI-Kinder können später mit ihren hörenden Altersgenossen zur Schule gehen. "Diese Kinder sind die erste Generation der vor dem Spracherwerb implantierten Gehörlosen", sagt Annette Leonhardt, Professorin für Gehörlosenpädagogik an der Uni München, "darauf müssen sich die Schulen erst noch einstellen."
Denn in lärmenden Klassenzimmern oder auf dem Pausenhof kann es schwierig werden: CI-Trägern fällt es schwer, Sprache aus störendem Hintergrundlärm herauszufiltern. Im Unterricht müssen die Lehrer daher häufig ein Mikrofon tragen, das das Gesprochene per Funk an die Hörhilfe sendet. "Auch mit CI sind diese Kinder hochgradig schwerhörig", sagt Klaus Mangold, Pädagoge an der Staatlichen Internatsschule für Hörgeschädigte in Schleswig. "Wenn manche Ärzte und Audiologen versprechen, dass Kinder damit ganz normal hören können, ist das fahrlässig und irreführend."
Für Mangold ist die Hörhilfe denn auch kein Wundermittel. "Ich kenne Kinder, die mit dem CI gut sprechen lernen", so der Pädagoge, "bei anderen hat es fast keinen Nutzen." Manche dieser Kinder, hat Mangold beobachtet, fühlen sich weder in die hörende Welt integriert noch in die Gemeinschaft der Gehörlosen - auch deswegen, weil viele Gehörlose die Neuroprothese für überflüssig halten und vehement ablehnen.
Forscherin Leonhardt hat gehörlose Eltern befragt, die ihre tauben Kinder operieren ließen. "Einige berichteten, dass ihnen andere Gehörlose wegen ihres Entschlusses Vorwürfe machten", erzählt sie.
Der Siegeszug der Hightech-Hörhilfen hat einen Streit unter Gehörlosen und Pädagogen entfacht: Sollen taube Kinder auch in Gebärdensprache unterrichtet werden?
Für die rund 80 000 Gehörlosen in Deutschland ist die Deutsche Gebärdensprache (DGS) das natürliche Kommunikationssystem: In ihrer Gemeinschaft scheint ihre Behinderung zu verschwinden; Gebärden und Mimik bilden die Vokabeln einer ganz eigenen Sprache, die sich über Jahrhunderte entwickelt hat. Erst seit wenigen Jahren ist die DGS in Deutschland als vollwertige Sprache anerkannt.
"Gehörlose brauchen diese Gemeinschaft", sagt der Hamburger Erziehungswissenschaftler Helmut Vogel, "mit dem CI sollen die Kinder stattdessen der Mehrheitsgesellschaft angepasst werden." Vogel, selbst gehörlos, bemängelt, dass den Eltern tauber Kinder die Lautsprache als einzige Möglichkeit geboten werde und Mediziner von den Gebärden oftmals sogar abrieten.
Vor die Wahl gestellt, fürchten manche Ärzte, könnten die Kinder die Gebärdensprache bevorzugen, weil sie sich ihnen zunächst weniger mühevoll erschließt. "CI-Kinder werden ausschließlich an ihrer lautsprachlichen Kompetenz gemessen", kritisiert Vogel, "was ist aber, wenn sie später doch nicht mit den Hörenden mithalten können?"
Der elfjährige Lukas aus Hamburg zum Beispiel bekam sein Implantat mit zwei Jahren, als damals jüngstes Kind in der Hansestadt. "Zu Anfang reagierte er auf die neuen Geräusche", erinnert sich sein Vater Rainer Rieckhoff, "doch nach etwa einem Jahr hat er sich total verschlossen."
Die Familie litt vor allem darunter, keine gemeinsame Sprache zu haben. "Uns war ja empfohlen worden, keine Gebärden zu verwenden", erzählt Rieckhoff. Doch Lukas fing auch nicht an zu sprechen und hatte, wie sein Vater sagt, "jahrelang gar keine Kommunikationsmöglichkeit". Inzwischen geht er zur Schule für Hörgeschädigte und spricht Gebärdensprache. Sein CI trägt er nicht mehr.
Auch für Joel, sieben, der mit drei Jahren ein CI bekam, ist jedes neue Wort ein harter Kampf. "Wenn er mit Bekannten spricht und ungefähr weiß, worum es geht, kann er schon folgen", sagt seine Mutter Anne Schmidt, "aber sobald es um kompliziertere Dinge geht, braucht er auch die Gebärdensprache." Joel besucht eine Hörgeschädigtenschule in Kassel; an den Wochenenden legt er sein CI meist ab.
Ob ein Kind mit der Neuroprothese ähnlich gut sprechen lernen wird wie der kleine Malte, können die Ärzte nicht voraussagen. Im Mai wird ein MHH-Team dem Jungen ein zweites CI einsetzen; die Stereo-Versorgung soll ihm das Verstehen auch in einer lauten Umgebung erleichtern.
Die Masurenkos möchten auf die Hörhilfe nicht mehr verzichten. "Malte entdeckt die Welt jetzt ein zweites Mal", sagt sein Vater, "diesmal mit Ton." JULIA KOCH