Schlachtfeld Deutschland
Im Hauptkontrollraum der Frühwarnstation auf dem Fylingdales Moor in Yorkshire war die Tagwache seit einigen Stunden im Dienst, als um 10.05 Uhr eine merkwürdige Meldung der benachbarten Radarstation durchgegeben wurde: Die Sowjets hätten, so hieß es, ihre Störmaßnahmen gegen die elektronischen Warnsysteme von der See her und aus der Luft plötzlich eingestellt.
Oberstleutnant Warburton trug die Nachricht in sein Logbuch ein und setzte sich sogleich mit seinen Kollegen in den anderen Einsatzzentren in Verbindung, um über die Bedeutung der Meldung zu beraten.
Kurz darauf rief ein amerikanischer Stationsleiter vom Erfassungs- und
c 1978 C. Bertelsmann Verlag, München.
Überwachungszentrum in Colorado Springs an und teilte mit, daß ein US-Warnsatellit über dem Indischen Ozean einen Abschuß erfaßt habe.
Er sei westlich von Baikonur lokalisiert worden, dem Ort also, von dem aus in den vergangenen 16 Tagen immer wieder sowjetische Satelliten gestartet worden waren. Die Amerikaner hätten das neue Objekt noch nicht einordnen können. Im Erfassungsbereich von Fylingdales würde es vorerst noch nicht sichtbar sein, man werde sich wieder melden, sobald weitere Informationen vorlägen.
Die gesamte Wache drängte sich an den Radarschirm, jeder suchte einen günstigen Platz, um dem Beobachter über die Schulter sehen zu können. Die Sekunden vergingen, und der Radarstrahl schien langsamer über den Bildschirm zu wandern als je zuvor.
Plötzlich war es da: Das nächste Abtasten des Radars bestätigte es, und auch der Computer zeigte ganz deutlich die Bedrohung durch einen Flugkörper auf Anflugbahn. Sofort blinkte das Alarmlicht auf.
Der Abschuß einer einzelnen Rakete auf Großbritannien oder die USA erschien den Männern der Royal Air Force trotz der vielen abgehaltenen Notfallübungen als ein völlig unwahrscheinliches Ereignis. Doch die Sicherheit, mit der ihr Computer die Gefahr anzeigte, war alarmierend, und schließlich -- wenn ein Krieg in Europa tobte, konnte alles passieren.
Es war 24 Minuten nach zehn, als die Digitalanzeige die Bedrohung abrupt höher einstufte und das Überwachungsradar die Rakete erfaßte. Der Computer errechnete sofort, daß sie sich auf einer suborbitalen Flugbahn befand und in 353 Sekunden ihr Ziel erreichen werde.
Die Mannschaft im Kontrollraum war irritiert: Wenn dies wirklich ein Atomangriff war, welchen Sinn konnte dann eine einzelne Rakete haben? Die Warnung wurde augenblicklich an alle anderen Einsatzzentren weitergegeben, auch an den Lageraum der Regierung. Sicherheitshalber vergewisserte sich der Kontroll-Offizier Oberstleutnant Warburton, daß die Frühwarnanlage tatsächlich völlig in Ordnung war. "Es wird furchtbar werden in Birmingham."
Da rief ihm einer der Planzeichner zu: "Ziel liegt irgendwo in Großbritannien, Sir", und zugleich druckte der Computer die entsprechenden Daten aus. Die Digitaluhr zeigte noch 317 Sekunden bis zum Einschlag.
Warburton ließ sich direkt mit dem Kontroll-Offizier des Eingreifkommandos in High Wycombe verbinden, der für den Einsatz der 64 "Polaris"-Raketen verantwortlich war, die -- jede mit einem Atomkopf von einer Megatonne Sprengkraft ausgerüstet -- von U-Booten aus jederzeit abgefeuert werden konnten, sobald der US-Präsident und die britische Premierministerin den Befehl gaben.
"Wir verstehen es immer noch nicht", sagte Warburton, als er bestätigte, daß der Computer die Midlands als Zielgebiet errechnet hatte. Die beiden Planzeichner standen über den Ausdrucker gebeugt und warteten auf die nächsten, mathematisch genaueren Zielinformalionen. Noch 227 Sekunden.
Der Kontroll-Offizier im Eingreifkommando der RAF empfing die Nachricht als erster: "Es stimmt. Es stimmt wirklich", meldete er über die Sprechleitung. "Das Lagezentrum der Regierung hat soeben mitgeteilt, daß über den Heißen Draht eine Botschaft eingegangen ist. Und Fylingdales: Gibt es dort bereits genauere Schätzungen über das Ziel?"
Der Ausdrucker sprang wieder an und hatte in Sekunden die Daten geschrieben: Breite/Länge 52°23'N.001° 49'W. Auf der elektronischen Karte der Britischen Inseln erschien zugleich ein leuchtender grüner Kreis mit einem Kreuz in der Mitte, genau über Birmingham. "Es ist Birmingham, ich wiederhole: Birmingham", rief Warburton über die Sprechleitung.
Noch 114 Sekunden. Der stellvertretende Kontroll-Offizier in Fylingdales gab die Daten zu seinem Kollegen im Überwachungszentrum von Colorado Springs durch. Sämtliche Informationen der Raumsatelliten und der Bodenradars wurden sofort zusammen mit den einzelnen Daten aus Fylingdales in den Zentraleomputer von Colorado Springs eingegeben.
Der Amerikaner meldete sich wieder: "Ja -- ja, stimmt alles mit unseren Daten überein", und als die Uhr nur noch 63 Sekunden anzeigte, fügte er mit düsterer Stimme hinzu: "Es wird furchtbar werden in Birmingham."
Sie hatten es also tatsächlich riskiert: Nachdem ihr Überfall auf die Nato an der mitteleuropäischen Front gescheitert war, hatten sich die Sowjets für den Atomkrieg entschieden.
Moskaus Überfall am 4. August 1985 hatte im wesentlichen einen politischen Zweck verfolgt -- die konventionelle Schwäche des Westens auszunutzen, um die USA zu demütigen und die sowjetische Herrschaft über die Satelliten-Staaten in Osteuropa als einzige Garantie gegen Abweichung und Spaltung wiederherzustellen.
Es war nicht gelungen, eine wirkliche politische Einheit in Osteuropa zu begründen. Selbst der wachsende Machtgewinn kommunistischer Parteien im Westen hatte den Einfluß der Sowjet-Union dort nicht vergrößern können; vielmehr erwies sich gerade der Eurokommunismus als Vorbild an Eigenständigkeit für die kommunistischen Länder im Osten.
So wie sie 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei durch militärische Gewalt die politische Situation wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatten, so wollten die Sowjets 1985 durch Ausdehnung ihres Machtbereichs auf Südosteuropa und Westdeutschland die Aufsässigkeit der Regierungen und Völker Osteuropas in den Griff bekommen.
Um dieses Ziel zu erreichen, wäre es erforderlich gewesen, schnelle und entscheidende Siege zu erringen. Der Rückschlag, zu dem es dann aber am 15. August kam, weckte den Widerstand gewaltsam unterdrückter politischer Kräfte.
Die Führer der ehemaligen Satellitenländer und sehr bald auch diejenigen der Sowjet-Union selbst erkannten langsam, daß militärische Macht sich nicht mehr als Mittel eignete, eine abweichende politische Gesinnung zu unterdrücken. Ein militärisches Patt würde es dem Westen nicht nur erlauben, seine größeren potentiellen Reserven zu mobilisieren, es würde auch eine Revolution im Osten begünstigen, wie 1917.
Unter den maßgeblichen sowjetischen Politikern, die sich plötzlich vor der Gefahr einer Aufspaltung des Warschauer Paktes sahen, gab es zwei Gruppen:
Die Falken argumentierten, die konventionelle Schlacht sei zwar nicht ganz nach Plan verlaufen, aber es gebe ja noch das atomare Waffenpotential; sie hielten es für besser, Zerstörungen auf beiden Seiten hinzunehmen, als langsam dem politischen Verfall und einer erzwungenen Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken entgegenzugehen. Gerade die Rückständigkeit großer Gebiete der Sowjet-Union räume ihr nach einem nuklearen Schlagabtausch bessere Überlebenschancen als den USA ein.
Im übrigen -- so argumentierten die Falken weiter -- könne man mit den Vereinigten Staaten verhandeln, bewr es zu größeren Verwüstungen komme. Einige Atomangriffe auf Ziele in Europa würden genügen, um zu zeigen, daß der Kreml es ernst meine; dann würde Moskau einen bilateralen Status quo und die Teilung der Welt in zwei Einflußsphären vorschlagen.
Die politischen Tauben in Moskau plädierten dagegen für die Rückkehr zu Mütterchen Rußland. Und die Berichte aus Osteuropa und den 15 Republiken der Sowjet-Union sprachen in der Tat eher dafür, von den imperialen Vorstellungen Abschied zu nehmen. Wie so oft bereiteten die Polen den Weg. In dem Hexenkessel der Entscheidungsschlacht in Deutschland ließ sich eine polnische Panzereinheit im Norden freiwillig von den heranrückenden Amerikanern überrennen und ermöglichte einen Durchbruch für den westlichen Nachrichtendienst, der bereits Verbindungen zu Widerstandsgruppen unterhielt.
In Polen, aber auch in Ungarn und der Tschechoslowakei hatten die Sowjets nicht nur die Zivilbevölkerung zu überwachen, sondern auch die Armeen dieser Länder, da die Loyalität der Unteroffiziere und Mannschaften dem sowjetischen Kommando von Tag zu Tag zweifelhafter wurde.
Bald war es unmöglich geworden, den Nachschub zwischen der Sowjet-Union und Ostdeutschland durch Polen geordnet aufrechtzuerhalten. Durch Sabotageakte an Eisenbahnstrecken und Straßen wurde der Transport der Verbände der zweiten und dritten Angriffswelle und des gesamten Nachschubs ebenso schwer behindert wie die Lieferungen von Nahrungsmitteln und Industrieerzeugnissen aus Polen in die UdSSR.
Im Lager des Westens erhitzten sich inzwischen die Gemüter an der Frage: einmarschieren oder nicht einmarschieren. Die Verstärkungen aus den USA strömten herein, die Seewege waren mehr oder weniger sicher, die europäischen Nato-Partner hatten sich erholt und neu formiert. Anzeichen eines allgemeinen Durcheinanders bei den Sowjets waren auf Schritt und Tritt spürbar.
Warum also sollte die Nato nicht zur Offensive übergehen und ein für allemal Schluß machen mit der Bedrohung aus Osteuropa? Die DDR und Polen konnten befreit werden, Nato-Truppen vielleicht in die Ukraine bis an den Dnjepr vorstoßen.
Die Verbündeten fürchten ein vereinigtes Deutschland.
Dieser Plan kam hauptsächlich von den einflußreicheren US-Befehlshabern. Er mußte jedoch politische Empfindlichkeiten und Befürchtungen bei den Verbündeten In Europa wecken. Noch immer gab es die Furcht, ein wiedervereinigtes Deutschland könne in Europa den alten tödlichen Kreislauf nationaler Antagonismen erneut in Gang setzen.
Denn: Im ersten Stadium des Vormarsches nach dem Osten würde man zweifellos die DDR von der sowjetischen Herrschaft befreien und sie vor allem mit Truppen der Bundeswehr besetzen. Konnte man wirklich annehmen, fragten sich die französischen, britischen und kleineren Nato-Verbündeten, daß das nicht zur Wiedervereinigung Deutschlands führte?
Jetzt, da der Weg nach Berlin mehr oder weniger frei war, wuchs die Versuchung für die Westdeutschen -- und in noch größerem Maße Angst und Argwohn ihrer Partner.
Tatsächlich gab es in der Bundeswehr Militärs, die sich kaum der Chance entziehen wollten, DDR-Bürger bei einem Aufstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht zu unterstützen und die verhaßte Berliner Mauer ein für allemal niederzureißen. Auch die Führung der Bundeswehr wußte nicht so recht, wie sie ihre Verbände daran hindern konnte, die große Chance zu nutzen.
Andererseits war auch dies klar: Franzosen, Briten, Belgier, Holländer und Norweger lehnten es kategorisch ab, einem Vorstoß der Nato über die Grenze der DDR hinweg zuzustimmen.
Doch sie fürchteten sich nicht nur vor einem vereinigten Deutschland. Gegen die Pläne der US-Militärs wandten sie sich vor allem mit dem Argument, daß ein Vorstoß auf sowjetisches Territorium die Widerstandskraft der Sowjets stärken, ja den Kreml womöglich dazu treiben könnte, von seinem noch vollständig vorhandenen Atomwaffenarsenal Gebrauch zu machen. Amerika würde sich auch dann noch eine Überlebenschance ausrechnen können, die Aussichten für Westeuropa aber waren sehr viel düsterer.
Um die unterschiedlichen Auffassungen zu diskutieren und Übereinstimmung über das weitere Vorgehen zu erzielen, rief der Präsident der Vereinigten Staaten zu einem Gipfeltreffen der Nato-Regierungschefs nach London.
Der Standpunkt der Amerikaner war klar: Dreimal hätten sie nun Europa militärisch gerettet; einen vierten Krieg könne man nur dadurch sicher verhindern, daß man die Sowjet-Union aus Europa hinausdränge. Sie wollten festumrissene Kriegsziele ankündigen und den Russen eine sichere Existenz in ihrem Kernland garantieren, aber deren Herrschaft über andere Völker nicht länger zulassen.
Die westdeutschen Führer, untereinander uneins und ständig unter dem Druck der Bundeswehr, hielten sich in der Diskussion zurück. Die Briten, Franzosen, Skandinavier und die Vertreter der Beneluxländer zeigten sich von den amerikanischen Argumenten unbeeindruckt und wiederholten ihre Warnungen vor einem Atomangriff und einem wiedervereinigten Deutschland. Zudem, meinten sie, sei es viel leichter, die Niederlage der Sowjet-Union durch einen inneren Auflösungsprozeß als durch eine Invasion von außen herbeizuführen.
Die "nukleare" Partei setzt sich im Kreml durch.
Schon erwogen die Amerikaner und die Falken in der Bundeswehr, im Ostblock allein einzumarschieren, da spitzte sich die Situation in Moskau dramatisch zu und enthob die Nato einer Entscheidung.
Die "nukleare" Partei der Kreml-Hierarchie, die erkannte, daß die Zeit gegen sie arbeitete, veranstaltete ein Geheimtreffen mit dem Generalsekretär der KPdSU Worotnikow, von dem ihre Widersacher gewaltsam ausgeschlossen wurden. Sie bestand darauf, unverzüglich mit einem Atomschlag die Entschlossenheit der Sowjet-Union zu demonstrieren. Worotnikow blieb keine andere Wahl, als zuzustimmen.
Man mußte zwar mit einem Vergeltungsschlag rechnen, doch wenn die Signale verstanden wurden, dürfte er sich auf einen mehr oder weniger vergleichbaren Angriff beschränken.
Der Plan wurde in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Das Frühwarnsystem für ballistische Raketen würde eine Vorwarnung von nur wenigen Minuten geben können, unmittelbar vor dem Einschlag der Rakete mußte der amerikanische Präsident erfahren, daß nur ein einziger Flugkörper unterwegs war und welches Ziel er hatte. Für Gegenmaßnahmen durfte dann keine Zeit mehr bleiben.
Die Sowjets schickten dem US-Präsidenten am 19. August via Washington eine dringende Botschaft nach London: Worotnikow wolle ihn am nächsten Tag um 10.20 Uhr über den Heißen Draht sprechen.
Die Experten in Washington und London rätselten fieberhaft über den Sinn dieser Ankündigung. Eines schien ihnen ziemlich klar und brachte auch eine gewisse Erleichterung: Eine nukleare Offensive konnte schwerlich bevorstehen, denn bei einer solchen Aktion spielte die Überraschung eine entscheidende Rolle.
Sie hatten sich getäuscht. Um 10.30 Uhr am 20. August, nur wenige Minuten nach dem Gespräch über den Heißen Draht, explodierte der Atomsprengkopf einer sowjetischen SS-17-Rakete in 3500 Meter Höhe über dem Winson-Green-Gefängnis von Birmingham.
Im Bruchteil einer Sekunde dehnte sich der Feuerball, in dem fast Sonnentemperatur herrschte, auf über zwei Kilometer Durchmesser aus und erreichte das darunterliegende Zentrum der Stadt. Der unglaublich grelle Blitz, der die Detonation begleitete, war noch in London zu sehen.
Segler auf dem Chasewater, etwa 19 Kilometer von Winson Green entfernt, spürten ein Brennen auf der Haut, als die Hitzewelle des Feuerballs sie erreichte. Wer nicht geistesgegenwärtig ins Wasser sprang, zog sich schwere Verbrennungen zu. Nylonseile schmolzen, Zeitungen fingen Feuer.
300 000 Menschen sterben innerhalb weniger Minuten.
Näher bei Winson Green verdorrten die Blätter wie in einem plötzlichen Herbst. Kleinere Büsche schwelten. Heuschober brannten, und der Lack an den Häusern und auf Fahrzeugen schlug Blasen. In größerer Nähe des Feuerballs wurde die Hitze immer stärker, so daß fast alle leichteren Materialien zu brennen begannen.
Kleidung bot keinen Schutz mehr, die Menschen im Freien erlitten so schwere Verbrennungen, daß ihre Überlebenschancen selbst bei bester ärztlicher Versorgung gering waren. Im Umkreis von drei oder vier Kilometern von Winson Green wütete eine einzige Feuersbrunst.
Nur Sekunden nach der Hitzewelle folgte der ungeheure Detonationsdruck. Die Druckwelle brachte im Stadtzentrum von Birmingham augenblicklich alle Häuser zum Einsturz, so daß nur ein eingeebneter Trümmerberg übrigblieb. Tosend bahnte sich die Druckwelle ihren vernichtenden Weg vom Zentrum nach außen und zerstörte alles, was ihr im Weg stand.
Die von den schlimmsten Wirkungen der Hitzewelle getroffenen Menschen fanden einen barmherzigen Tod durch die Druckwelle. Wer sich in den Häusern aufgehalten hatte, wurde unter Bergen von Schutt begraben. In einem Umkreis von drei oder vier Kilometern um Winson Green überlebte kaum jemand die unmittelbaren Folgen der Explosion.
Die Druckwelle erreichte noch in vier Kilometer Entfernung Geschwindigkeiten bis zu 500 Kilometer pro Stunde und wirbelte in ihren Orkanwogen Trümmer wie Konfetti vor sich her. Menschen im Freien wurden in die Hohe gerissen, durch die Luft geworfen und zerschmettert.
Nach einer Minute war die unmittelbare zerstörerische Gewalt der Explosion abgeklungen. Der riesige Rauchpilz über dem völlig verwüsteten Zentrum von Birmingham hatte eine Höhe von 15 und einen Durchmesser von etwa 20 Kilometern. Er warf seinen Schatten auf eine Szenerie unermeßlicher Zerstörung. Außer dem Krachen fallender Steine und dem Knistern zahlloser Brände war nichts zu hören. Im Umkreis von fünf Kilometern um Winson Green schien alles in Flammen zu stehen.
Die Zahl der Opfer war erschreckend hoch. Die Menschen waren an diesem sonnigen Morgen sommerlich gekleidet und daher besonders anfällig für Brandwunden. Die Innenstadt wimmelte von Kauflustigen, nur die Schulen waren glücklicherweise geschlossen. Etwa zwei Millionen Menschen in Birmingham und den umliegenden Ortschaften wurden von der Katastrophe getroffen.
Ungefähr 300 000 Menschen kamen innerhalb weniger Minuten durch die Hitze und die Druckwelle um oder starben, weil ihnen nicht schnell genug geholfen werden konnte. Weitere 250 000 erlitten sehr schwere Brandwunden oder andere Verletzungen, die einer sofortigen Behandlung im Krankenhaus bedurften.
Die medizinischen Einrichtungen, die dieses Riesenheer von Opfern versorgen sollten, waren selbst schwer beschädigt. Die Hälfte der Krankenhäuser des Gebietes lag entweder völlig in Trümmern oder konnte nicht mehr benutzt werden; die noch intakten wurden derart stark beansprucht, daß sie kaum Hilfe bieten konnten. Hinzu kam, daß auch unter den Ärzten und dem Pflegepersonal hohe Verluste entstanden waren.
Die Behörden in der Innenstadt Birminghams existierten nicht mehr. Das Telephonnetz, das Polizei, Feuerwachen, Krankenhäuser und örtliche Verwaltung miteinander verband, war völlig zerstört. Es dauerte einige Zeit, bevor ein Rundfunknotdienst einspringen konnte.
Der nukleare Sprengkopf war freilich in so großer Höhe explodiert, daß er keine außergewöhnlich hohe Strahlung über dem Gebiet verursacht hatte. So konnten die Rettungsmannschaften ohne Furcht vor Strahlenschäden arbeiten.
Die Regierung in London hatte inzwischen erste Maßnahmen ergriffen. Zivil- und Militärstäbe begannen, sofort die Pläne für den Fall weiterer Atomangriffe in die Tat umzusetzen. Am Mittag wandte sich die Premierministerin über Radio und Fernsehen an die Nation. Viele Teile des Landes waren bereits von schweren konventionellen Luftangriffen heimgesucht worden;
* Hiroshima 1945.
insbesondere Häfen, Kraftwerke und Fernmeldezentren. In der Bevölkerung lief die Angst vor weiteren Atomschlägen um.
In ihrer Ansprache erklärte die Premierministerin, der Feind habe einen atomaren Gegenschlag hinnehmen müssen, der noch stärker gewesen sei als der auf Brimingham. Das war der erste offizielle Hinweis auf die Zerstörung der sowjetischen Stadt Minsk.
Wenige Minuten nach der Detonation über Birmingham, als Millionen Menschen auf den Britischen Inseln voller Entsetzen und mit ohnmächtigem Zorn die Fernseh- und Rundfunkberichte hörten, hatte sich der Präsident der Vereinigten Staaten mit der britischen Premierministerin in Verbindung gesetzt.
Das Grauen von Birmingham wiederholt sich in Minsk.
Die Regierungschefin stimmte einem sofortigen Vergeltungsschlag zu -- und sei es auch nur, um einen verhängnisvollen Verfall der öffentlichen und militärischen Moral zu verhindern. Der französische Präsident erklärte sich ebenfalls ohne Zögern einverstanden.
Als die übrigen Nato-Partner unterrichtet wurden, waren die Einsatzbefehle bereits unterwegs. Von einem amerikanischen und einem britischen U-Boot sollten je zwei nukleare Flugkörper auf Minsk abgefeuert werden. Die beiden U-Boote meldeten den Abschuß exakt zur vorgesehenen Zeit; die Mehrfachsprengköpfe der vier Flugkörper, die für diesen Einsatz genau vorprogrammiert waren, detonierten kurz hintereinander im Ziel.
Das Grauen von Birmingham wiederholte sich, nur um ein Vielfaches gesteigert. Kein Fernsehen oder Rundfunk berichtete über den Angriff. Trotzdem verbreitete sich die Nachricht sofort auf der ganzen Welt. Über den Heißen Draht wurde der Kreml unterrichtet, daß es sich um einen Einzelangriff handele, der als unumgänglicher Vergeltungsschlag angeordnet worden sei.
Dieser atomare Schlagabtausch erwies sich später als die Initialzündung für die Explosion der schwelenden nationalistischen Unruhe im Ostblock.
Unzufriedenheit und Widerstand hatten rapide zugenommen, seitdem die sowjetischen Truppen in Europa offenkundig Rückschläge hinnehmen mußten. Den letzten Anstoß gab die Erkenntnis, daß Rußlands nuklearer Angriff schreckliche Folgen für alle Teilrepubliken und die europäischen Satelliten haben könnte, wenn sie sich nicht sofort von der Herrschaft des Kreml befreiten.
Der Ministerrat der Sowjetrepublik Kasachstan brachte den Stein ins Rollen: Sein örtlicher Oberster Sowjet proklamierte die Trennung von der Sowjet-Union. China erkannte das neue Regime sofort an und veranstaltete demonstrativ Militärmanöver an der Grenze.
Die Sowjetregierung in Moskau, mit den hektischen Vorbereitungen für einen Atomkrieg beschäftigt und zudem intern zerstritten, reagierte nicht. Die Unabhängigkeitserklärungen gingen ebenso erfolgreich in den anderen Republiken vor sich, die an chinesisches Territorium grenzten.
Die Vernichtung von Minsk beschleunigte auch die Entwicklung an den Westgrenzen der Sowjet-Union. Polen und die Ukraine zogen die logische Schlußfolgerung, daß sie als nächste das Ziel atomarer Schläge sein könnten, wenn sie nicht versuchten, den Lauf der Geschichte zu ändern.
Das polnische Verteidigungsministerium hatte sich auf eine solche Möglichkeit vorbereitet und insgeheim neben dem von den Sowjets kontrollierten Fernmeldenetz des Warschauer Paktes direkte Verbindungen zu seinen Kommandeuren hergestellt. Diese Verbindungen wurden jetzt in Betrieb genommen.
Alle polnischen Verbände erhielten den Befehl, unbedingt in ihren Stellungen zu bleiben und sich jedem anderen Befehl zu widersetzen, woher er auch kommen mochte. Gleichzeitig nahm die polnische Führung Kontakt zum Untergrund auf und ließ über einen Geheimsender der Untergrundorganisation Botschaften nach London übermitteln.
Die Polen berichteten, daß sie sich von Moskau lossagen wollten, und baten die Alliierten, keine polnischen Stellungen anzugreifen, sondern vielmehr die Untergrundorganisation durch den Abwurf von Grundnahrungsmitteln und Fernmeldegerät zu unterstützen. Die polnische Regierung erhielt ermutigende Antwort. In aller Stille bereitete sie nun die Loslösung aus dem Warschauer Pakt und die Isolation der noch auf polnischem Territorium stehenden russischen Verbände vor.
Der entscheidende Schlag fällt in der Ukraine.
Der wirklich entscheidende Schlag fiel aber in einem völlig unerwarteten Gebiet: in der Ukraine.
Mehr als jede andere Republik hatte die Ukraine nach der Revolution unter den Aktionen des Sowjetstaates gelitten. Immer wieder -- zuletzt durch die Prozesse gegen die Befürworter einer Trennung von der Sowjet-Union in Kiew 1966 -- war das Nationalgefühl der Ukrainer gewaltsam unterdrückt worden.
Die ukrainischen Freiheitskämpfer wurden dadurch jedoch nur in die gefährlichen Kanäle des Untergrunds getrieben. Sie begriffen schnell, daß eine erfolgreiche Revolution an der Spitze beginnen müsse. Am ehesten würden sie ihr Ziel erreichen, wenn einzelne von ihnen Machtpositionen im zentralen Apparat der Sowjet-Union erlangten.
Es hatte schon früher einige erfolgreiche ukrainische Generäle gegeben; jetzt tarnte sich der Wortführer der ukrainischen Nationalisten, Wasyl Duglenko, als Geheimpolizist.
Nach dem Besuch der Polizeiakademie in Kiew hatten ihn einflußreiche Freunde in die Zentrale des KGB in Moskau lanciert. Nach und nach stieg Duglenko auf der gefährlichen Leiter des Erfolges bis zum stellvertretenden Chef auf, der besonders für die Sicherheit des Kreml verantwortlich war.
Machtwechsel im Kreml nach einem "Auto-Unfall".
Die engen Verbindungen zu den nationalistischen Zellen in der kommunistischen Partei der Ukraine hatte er beibehalten und natürlich eine Reihe ukrainischer Kameraden in wichtigen KGB-Stellungen untergebracht, vor allem in der Kreml-Abteilung.
im politischen Zentrum konnten sie ihre Kräfte mit denen der Kreml-Tauben vereinen, deren Einfluß seit der Verschlechterung der militärischen Lage in Europa sogar bei einzelnen Kommandos der Streitkräfte gestiegen war. Eine kleine verschwörerische Gruppe in der Armee war schon vor dem Angriff auf Birmingham der Mei-
* Unruhen in Stettin 1970.
nung gewesen, die Sowjet-Union werde mit einem Atomkrieg weder ihre Ziele im Westen erreichen noch die Ordnung im Osten wiederherstellen.
Das Politbüro sollte am 22. August zusammentreten, um darüber zu beraten, was zu tun sei, falls die Amerikaner nicht über die Aufrechterhaltung des Status quo verhandeln wollten.
Am Morgen der schicksalhaften Zusammenkunft kam Duglenkos Vorgesetzter, der Chef des KGB, bei einem "Autounfall" auf dem Weg nach Moskau ums Leben. Duglenko war schon im Kreml und konnte jetzt mit Sicherheit an der Sitzung des Politbüros teilnehmen.
Als sich alle Sitzungsteilnehmer versammelt hatten und Duglenko aufgefordert wurde, über den Unfall seines Chefs zu berichten, zog er aus seiner Tasche nicht ein Bündel Papiere, sondern eine Pistole, und schoß Worotnikow nieder. Auf dieses Signal hin stürzten seine vor der Tür bereitstehenden Mitverschwörer herein und verhafteten die übrigen Politbüromitglieder.
Duglenko verkündete, er selbst übernehme das Amt des Staatsoberhauptes und Generalsekretärs. Er ordnete an, die führenden Mitglieder der Falken abzuführen, und nahm die Ergebenheitsbekundungen der übrigen entgegen, denen angesichts der auf sie gerichteten Waffen keine andere Wahl blieb.
Duglenko ließ sich über den Heißen Draht mit dem US-Präsidenten verbinden, um ihm zu versichern, daß keine weiteren Atomwaffen eingesetzt würden. Er bat ihn, seinerseits entsprechende Anweisungen zu geben, und schlug eine Feuereinstellung innerhalb von zwölf Stunden vor. So schnell wie möglich müsse dann eine Konferenz in Helsinki zum Aushandeln der Friedensbedingungen einberufen werden.
Selbst erfahrene westliche Kreml-Experten waren überrascht. In der Hektik der nächsten Stunden, in denen die amerikanische Antwort vorbereitet wurde, meldeten sich Experten, die Duglenkos Anruf für einen Trick hielten. Sollte es aber wirklich einen Umsturz in Moskau gegeben haben, sei jetzt die Zeit gekommen, vorzustoßen und die Russen zu erledigen.
Der Wahrheit näher kamen jene westlichen Politiker, die nur mit
einem Wandel der russischen Taktik rechneten. Ein stärker dezentralisierter Kommunismus in dem früher festgefügten Ostblock, so argumentierten sie, könnte sich für den Westen auf lange Sicht als gefährlicher erweisen als das bisherige System mit seinem brutalen und kulturfeindlichen Verhalten. Deshalb gelte es nun, auf der Hut zu bleiben und keinerlei voreilige Zugeständnisse zu machen.
Man einigte sich schließlich aber doch darauf, den angebotenen Waffenstillstand anzunehmen und sich mit aller Vorsicht auf eine Konferenz vorzubereiten.
Duglenko mußte weit schwierigere Entscheidungen fällen: Es ging um die Zukunft der Sowjet-Union. Auf einer eilig einberufenen Zusammenkunft von Repräsentanten aller 15 Republiken mußte schließlich anerkannt werden, daß die Union sich aufzulösen begann.
Die Ukraine erklärte jetzt öffentlich die völlige Unabhängigkeit als ihr endgültiges Ziel. Die Russen mußten notgedrungen einsehen, daß sie allein standen. Man einigte sich immerhin, eine gemeinsame Delegation zur Konferenz nach Helsinki zu entsenden und gleichzeitig die Trennungsmodalitäten zu erarbeiten.
Die Konferenz von Helsinki führte wie üblich -- zu vielen weiteren Konferenzen, von denen einige jahrelang tagten. Der Zusammenbruch der UdSSR in den letzten Tagen des August 1985 brachte keineswegs den endgültigen Frieden in die Welt, doch er beendete den Krieg in Europa. Ende