Comic-Oper mit Gotteswort und Minus-Frau
Am offenen Grab der Oper heucheln die Hinterbliebenen noch ungenierter als bei landläufigen Leichenfeiern. Mit Naserümpfen umstehen die zeitgenössischen Komponisten das Musiktheater, das sie erst zu Tode verteufelt haben und an dessen Kadaver sie nun ihr schöpferisches Mütchen kühlen.
Der Kulturbetrieb kennt keine feinere Form von Masochismus. "Auch der strengste Avantgardist, der Musik als tönende Struktur und nichts sonst begreift", urteilt der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus, "fühlt sich irgendwann von der Oper hinterrücks angezogen." Hinten hui, vorne pfui.
Diesem Spuk, ja, dem ganzen suspekten Genre, wollten Pierre Boulez und Mauricio Kagel den Garaus machen. "Sprengt die Opernhäuser in die Luft!", forderte der Franzose und floh nach Bayreuth. Kagel nahm in seinem "Staatstheater" das Sing-Gewerbe gewitzt auf die Schippe. Die Institution Oper schloß Frieden mit beiden, die Komponisten verschossen ihr Pulver weiter in Niemandsland, das gemeine Publikum hielt sich weiter an Puccinis "eiskaltem Händchen" fest.
György Ligeti, 54, gebürtiger Ungar, österreichischer Staatsbürger, Hamburger Musik-Professor und weltweit geschätzter Neutöner, ist unter den Markenartiklern der Branche einer der letzten, die von der Oper lange die Finger ließen. Als dramaturgisch gerundetes Singspiel hielt auch er sie für tot (siehe Interview Seite 238).
Am vergangenen Mittwoch nun kam in Stockholm "Le Grand Macabre" zur Welt, Ligetis lang erwarteter Bühnenerstling, zwei Akte, vier Bilder, gut abendfüllend. Der mehrfach verschobenen, in schwedisch gesungenen Uraufführung des deutsch geschriebenen Stücks waren Insider-Wispern und Presse-Lärm lange vorausgeeilt.
Trotz seiner Todeserklärung für die Oper hatte sich Ligeti nämlich seit über zehn Jahren mit ihr befaßt. Er könne, hoffte die Zunft, der Oper endgültig aus der Patsche helfen oder sie endgültig in dieser beisetzen.
Erste Probenberichte aus Schweden verstärkten die Erwartungen. Das Ensemble weigerte sich, "Ficken", "Vögeln" und anderen Schweinkram zu besingen, die Sopranistin Barbro Ericson wollte weder das Wort "Schwanz' in den Mund nehmen noch sich den Hintern küssen lassen. Das Gerücht einer Porno-Oper war in der Welt. Entsprechender Zulauf bei der Premiere.
Ligeti hatte "das Gegenteil der Literatur-Oper" versprochen, ein Kontrastprogramm zur schalen Illustration von Bildungstheater. Er wollte "direkt, unpsychologisch und verblüffend" rangehen. "La Balade du Grand Macabre", 1934 von dem flämischen Dichter Michel de Ghelderode (1898 bis 1962) verfaßt, schien ihm "für meine musikalisch-dramatischen Vorstellungen wie geschaffen": absurdes Theater und Kasperei, Parabel, Parodie und Phantasmagorie, ein naiv-bizarrer Comic von der Welten Lauf.
Der große Makabre entsteigt einem Grab und verheißt Jüngstes Gericht, die Bewohner in "Breughelland", dem imaginären Schauplatz, zittern in apokalyptischen Schauern, am Ende aber stirbt nur der Sensenmann selbst. Moral laut Ligeti: "Der Tod und die ganze dunkle Zukunft sind uns egal, es gibt nur "hier und jetzt."
High Drive auf der Bühne, ein Fressen fürs Auge. Der Makabre namens Nekrotzar -- Zorro, Vampir und Lederkerl in einem -- hält schaurige Reden, seine Sense über die Sterblichen und sich einen gurkenlangen Plastik-Pimmel zwischen die Beine. Noch schärfer vom Leder zieht Mescalina, die Minus-Frau. In einer pittoresken Bruchbude treibt sie als Sado-Vamp -- Brüste prall geschnürt, Kette zwischen den Schenkeln -- ihren mit Gummi-Busen behängten Mann peitschend vor sich her, läßt sich die Füße lecken, geilt nach "gut bestückten" Kerlen.
Das Liebespaar Clitoria und Spermando steigt zum Bumsen in Nekrotzars leere Gruft. Die Venus schwebt in einer Muschel nackt vom Bühnenhimmel. "Breughelland"-Fürst Go-Go, eine mit Watte und Kissen zum Fett-Gnom geplusterte Sopranistin, lutscht auf dem Thron am Schnuller, wippt auf dem Schaukelpferd und frißt auf dem Souffleurkasten.
Des Fürsten Schwarzer und Weißer Minister staksen als puppenartige Überlängsel mit Mini-Köpfen umher -- Wagners Riesen Fafner und Fasolt als Pop-Kameraden. Ferner liefen zu Fuß, mit Rollschuhen, auf Stelzen: Liliputaner, als Super-Vögel verkleidete Henkersknechte, "höllisches Gefolge".
Zu solchem Spektakel voll von (häufig gesprochenen) Banal-Texten, "fehlerhaftem Latein", "falschen Zitaten aus der Offenbarung des Johannes", "ganz unbeholfenen Versen und Reimen" -- laut Ligeti alles mit Vorsatz verfaßt "eine Art Pseudo-Rokoko" zu komponieren, Musik "in einer ganz süßlichen Art" -- das konnte schlimm danebengehen.
Wenn Ligeti, wie er wissen ließ, während der vierjährigen Niederschrift tatsächlich "keinen fremden Anzug angezogen" hat, dann muß er gelegentlich nackt ins Wechselbad der Stile gestiegen sein: Denn angesichts der von ihm erwarteten präzisen Kleinarbeit und klugen Gesamt-Disnosition bedeckt er mit orffschen Nachklängen, Strawinski-Parodien, Zitaten von Rameau, Mozart und Beethoven Blößen, die er sich nicht zu geben brauchte.
Doch diese modisch-abgegriffenen Accessoires sind nur Schönheitsfehler in einer vitalen, vielfarbigen, kurzweiligen Partitur ohne intellektuelle Spröde. Von satinweichen Schmeichelklängen über virtuosen Flattersatz bis zu Brutalo-Rhythmen hat er die Mittel im Griff. Selbst wenn das Klanggefüge mit Klecksern und Tupfern mal bedrohlich dünn wird, bricht das Werk nicht ein.
Die Ciesangssolisten dürfen durchweg wieder Stimme tragen, sogar in echten Ensembles. Den 15 Streichern und 25 Bläsern steht ein monströser Schlagapparat gegenüber. Doch das exotische Aufgebot mit Triller-, Kuckucks-" Signal- und Dampfschiffpfeifen, mit Knackfrosch, Windmaschine, Kochtopf, Tablett voll Geschirr, Entengequake und zwölf mechanischen Autohupen -- macht nie, wie gehabt und durchlitten, nur Lärm um nichts.
Daß der Makabre einmal vom Rang herabdröhnt" Choristen sich und ihre Stimme aus dem Parkett erheben und vier Blechbläser in der Prunkloge tröten, lockert das Ritual.
Hamburgs Staatsopernchef Christoph von Dohnányi inspizierte das Stuck in Stockholm für den Hausgebrauch. Am 15. Oktober will er die deutsche Erstaufführung richten. Zum Leichenschmaus braucht er dabei nicht zu laden. Klaus Umbach