TV-DOKUMENTATION Resultat gleich Null
"Der Ärzteprozeß -- Nürnberg 1946/47" TV-Dokumentation aus der Reihe "Spuren" von Jost von Morr. ARD. Donnerstag, 24. August, 20.15 Uhr.
Als Marcel Ophüls in den Jahren 1973/74 eine Dokumentation über die Nürnberger Prozesse und ihre Folgen drehte, wurde ein fast fünfstündiger Film daraus. Aber in "The Memory of Justice" (deutscher Titel: "Nicht schuldig?") waren außer den leicht ramponierten Filmen der unmittelbaren Nachkriegszeit eine Fülle aktueller Interviews zu sehen.
Ophüls hatte nicht nur Ankläger und Angeklagte der Nürnberger Prozesse befragt. Wer zu diesem Thema etwas zu sagen hatte, den brachte Ophüls vor seiner Kamera zum Reden.
Jost von Morr, Dokumentarist auch er, hat sich die Sache leichter gemacht. Er förderte bislang unbekannte Filme von dem Nürnberger Ärzteprozeß (1946/47) zutage, schnippelte sie auf 43 Minuten zusammen, steuerte ein paar verbindende Worte dazu bei, fertig. Er hätte wissen müssen, daß sich eine derartig komplexe und schwierige Materie nicht in eine Dreiviertelstunden-Sendung pressen läßt.
Dieser Prozeß, den ein ausschließlich von amerikanischen Juristen besetztes Gericht gleich nach dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß mit bemerkenswerter Objektivität abhielt, galt dem düsteren Kapitel der deutschen Medizingeschichte: Ärzte hatten Geisteskranke vergast und Gesunde zu tödlichen oder verstümmelnden Experimenten benutzt.
22 Männer und eine Frau saßen auf der Anklagebank. Nach 139 Verhandlungstagen wurden sieben Angeklagte zum Tode verurteilt (und gehängt), sieben wurden freigesprochen. Den Übrigen wurden Haftstrafen auferlegt, von zehn Jahren bis zu lebenslänglich.
Der Morr-Film schildert ihren Prozeß, von Anfang bis Ende. Sie werden einzeln aufgerufen und sagen "Hier", sie werden vernommen, sie sprechen ihr Schlußwort und vernehmen ihr Urteil.
Um der staubtrockenen Gerichtsatmosphäre zu entgehen, führt der Autor andere Filmfunde vor: Amerikanische Soldaten erreichen das Konzentrationslager Dachau. Auf der Erde liegen tote Häftlinge, befreite Häftlinge winken. Es sind mittlerweile vertraute Bilder geworden, fast keine Dokumentation aus der NS-Zeit kommt ohne ähnliche KZ-Sequenzen aus.
Dann schwenkt die Kamera über einen Tisch, und der Sprecher erläutert: "Hier fanden sie medizinische Präparate. Neben Stücken tätowierter Haut und sogar Lampenschirmen aus Menschenhaut, fanden sie konservierte menschliche Organe, die auf die Arbeit medizinischer Laboratorien schließen ließen."
Und daraus schließt das Publikum, muß es schließen, daß die angeklagten Ärzte ihren Opfern die Haut abgezogen hätten, um Zimmerschmuck daraus zu fertigen. Doch dergleichen haben nicht einmal die Ankläger den Medizinern zur Last gelegt. Der Dokumentator von Morr will das wohl auch nicht. Er hat nur geschludert.
Wie auch im weiteren Film-Verlauf. Der Anklage-Komplex der Euthanasie fehlt gänzlich. Mit keinem Wort wird auch nur erwähnt, daß Ärzte mit Hitlers Erlaubnis rund 50 000 Insassen von Heilanstalten mit Gas und Injektionen ermordet haben.
Den Mord wiesen sie empört zurück. Sie klammerten sich an Hitlers Diktion: Sie hatten den "Gnadentod gewährt". Diese Aktion mußte gestoppt werden, weil sie weithin bekannt geworden war und Protestwellen ausgelöst hatte.
Gerade dieser Euthanasie-Komplex durfte in dieser Dokumentation nicht fehlen, denn der staatlich verordnete "Gnadentod" erfüllte eine Schlüsselfunktion. Das "Ausmerzen unerwünschten Volkstums", das noch im ersten Kriegsjahr begann, zerfranste die ärztliche Ethik so, daß sogar angesehene Mediziner nun nichts mehr dabei fanden, mit Menschen zu experimentieren, als seien es Ratten.
Undifferenziert ist auch das Bild, das der Morr-Film von den Meuchel-Medizinern vermittelt. Es wird nicht erklärt, wie es möglich werden konnte, daß bislang unbescholtene Ärzte hemmungslos mit Menschen herumexperimentierten, obgleich sie niemand dazu gezwungen hatte und das wissenschaftliche Resultat gleich Null war. "Wo kommen die Angeklagten her?" fragt Morr und antwortet: "Es sind durchweg gutbürgerliche Lebensläufe ..."
Aber da sitzen so zwielichtige Gestalten wie der gelernte Buchhändler Sievers, der unter Himmler der "Gesellschaft Ahnenerbe" präsidierte, neben einem Scharlatan und Schmalspurdoktor wie dem Buchenwalder SS-Arzt Hoven. Da sitzt aber auch der SS-Arzt Fritz Fischer, ein irregeleiteter Idealist. Da sitzt Hitlers Begleitarzt Karl Brandt, ein geschniegelter Ehrgeizling. Und da sitzt schließlich Professor Gerhard Rose, Generalarzt d. R., Chef der Abteilung für Tropische Medizin am Robert-Koch-Institut, Beratender Hygieniker und Tropenmediziner beim Chef des Sanitätswesens der Luftwaffe; eine weltweit bekannte und anerkannte Koryphäe.
An niemandem ließe sich besser Glanz und Elend deutscher Heilkunst exemplifizieren. Doch in der Dokumentation erscheint der Professor Rose nur am Rande.
Dieser Professor aber war es, der noch im Mai 1943 bei einem Ärzte-Kongreß lautstark und heftig protestierte, als der Buchenwalder KZ-Arzt Dr. Ding-Schuler über seine Fleckfieber-Versuche an Menschen referierte. Damals hielt Rose Humanversuche noch für sittenwidrig: "Ich gab meiner Ansicht Ausdruck, daß diese Planung gegen die Überlieferung bei der Prüfung von Impfverfahren verstößt. Ich hielt auch bei Fleckfieber die Tierversuche für ausreichend. Ich bemerkte noch unwillig, wenn dieses Verfahren Schule mache, könnten wir ja die ganze Immunitätslehre an den Scharfrichter abtreten.
Jedoch bereits sieben Monate später veranlaßte eben jener Professor Rose eine Versuchsreihe in Buchenwald, die mit sechs Fleckfieber-Toten abgeschlossen wurde.
Was war geschehen? Die Morr-Dokumentation schweigt sich darüber aus. Im Prozeß hatte der Professor schier endlose Verteidigungsreden gehalten. Bei Versuchen mit möglicherweise tödlichem Ausgang, so der Professor damals, halte er es sogar dann für "unsittlich, wenn man einen Freiwilligen dafür nimmt. Die seelische Belastung für den den Versuch ausführenden Arzt ist in solchen Fällen undenkbar. Er hat nicht das Recht, das Angebot zum Selbstmord anzunehmen."
Aber dann bekam der Professor die Kurve. Er dozierte vor den US-Richtern: "Derartige Versuche sind nach meinem Empfinden nur zulässig, wenn der Träger der Staatssouveränität die Personen dazu bestimmt."
Und da hatten sie es mit Hitler nicht schwer. Kaum gefragt, ob "terminale Versuche" mit zum Tode Verurteilten gemacht werden dürften, bejahte er unbedenklich. Und Himmler verfügte noch, daß jene, die das Experiment lebend überstehen sollten, zu begnadigen seien zu lebenslangem Konzentrationslager. Kein Wort davon in der Morr-Dokumentation.
Dem Prozeß wohnte damals der junge Dozent Alexander Mitscherlich als Beobachter der westdeutschen Ärzteschaft bei. Er hatte Einblick in alle Akten und veröffentlichte gleich nach dem Prozeß eine Dokumentation "Medizin ohne Menschlichkeit".
Kein Zeitgenosse weiß mehr über die Hintergründe des Prozesses und die Abgründe ärztlichen Versagens, die sich dabei auftaten. Dokumentarist von Morr verzichtete jedoch leichtherzig darauf, Mitscherlich zu interviewen.
Auch der Publizist Eugen Kogon. seinerzeit Stationsschreiber bei dem Buchenwalder Experimentierer Dr. Ding-Schuler, ist ein wichtiger Zeuge. Er hatte die Versuche mit ansehen müssen und Buch darüber geführt.
Auch mit Kogon wußte Morr nichts anzufangen: "Was sollen Mitscherlich und Kogon schon sagen?"
Wer also wissen will. um was es im Nürnberger Ärzteprozeß ging, der besorge sich das Taschenbuch "Medizin ohne Menschlichkeit".
Jörgen Pötschke