DDR/SKAT Auf Weltniveau
Einmal die Woche, Mittwoch abends halb sieben, sitzen in der Gaststätte "Grand" zu Altenburg sechs aufrechte SED-Genossen zu Gericht -- nach altdeutscher Sitte und auf gesamtdeutsche Art.
Souverän und ohne die Partei zu fragen, gestützt auf die in Ost wie West noch immer gültige Skatordnung von 1927 und auf die unumstrittene Autorität bei drei Millionen Skatbrüdern und -schwestern in der Ost-Republik, befinden sie bei Bier, Korn und Eierlikör über die Schicksalsfragen der Spielernation: wie ein Grand mit Vieren berechnet wird, wann ein Spieler wegen Unsportlichkeit vom Preisskat auszuschließen ist und ob Hinterhand auch dann gewonnen hat, wenn er zu früh die Karten schmiß.
Eifersüchtig wachen die sechs Skatweisen in der ehemaligen sächsischen Residenzstadt, in der Deutschlands älteste und Ost-Deutschlands einzige Spielkartenfabrik steht, über moralische Sauberkeit und Einhaltung alldeutscher Regeln, wettern gegen verbotene Kontra, Re und Ramsch.
"Unsere Entscheidungen", so versichert Rudi Gerth, 67, Direktor der staatlichen Handelsorganisation (HO) im Ruhestand und Vorsitzender des Altenburger Skatgerichts, "werden widerspruchsloser akzeptiert als die Urteile ordentlicher Gerichte."
Kein Wunder, daß die SED ein wachsames Auge auf die Skatjuristen hat: Die Mitglieder des Gerichts werden vom Altenburger Rat ernannt, und Oberrichter Gerth sitzt, wenn auch ohne Stimme, sogar in der Stadtverordnetenversammlung. Das Rüstzeug für sein hohes Amt erwarb er sich nach eigenem Bekunden in sieben Jahren als SED-Sekretär seines Betriebes: "Meine Partei hat mich gelehrt, ein Kollektiv zu führen."
Ohnehin waren die puritanischen Einheitssozialisten dem kleinbürgerlichen Kartenspiel in Kneipen und um Geld zunächst nicht wohl gesonnen. Anfang der fünfziger Jahre, in der Steinzeit des SED-Staates, erwogen die Parteioberlehrer sogar ein generelles Skatverbot in ihrem Machtbereich.
Daß es so weit nicht kam, verdanken die DDR-Skater der außenpolitischen Isolation ihres Regimes -- und einem findigen HO-Chef im thüringischen Städtchen Apolda. Als seine Firma Anfang der sechziger Jahre mit dem Plan in Verzug geriet und ein kräftiges Defizit drohte, setzte der clevere Kaufmann kurzentschlossen ein Skatturnier an. Jeder Teilnehmer mußte ein Startgeld entrichten, aus dem die ausgesetzten Preise finanziert wurden: Waren aus der örtlichen HO.
In der DDR-Presse erschien über den ersten ostdeutschen Preisskat eine kurze Notiz; die landesweite Zustimmung verunsicherte die ohnehin seit längerem irritierten Parteioberen.
Denn seit Jahren schon häufte sich in Altenburg, wo um 1881 das deutsche Nationalspiel erfunden wurde und bis 1943 das vom Deutschen Skatverband berufene
reichsweite Skatgericht tagte, unzustellbare Post aus dem Ausland. Die Briefschreiber begehrten Auskunft über umstrittene Regeln und verbindliche Entscheidungen in kniffligen Streitfällen.
Das Echo auf Apolda und die Briefflut nach Altenburg veranlaßte die Reinheitsapostel der SED, mehr noch auf internationale Anerkennung als auf innere Sauberkeit bedacht, zum taktischen Kurswechsel. 1962 wurde -- auf Initiative des Volkskammerpräsidenten Johannes Dieckmann, selbst ein leidenschaftlicher Spieler -- das Altenburger Skatgericht aus der sozialistischen Versenkung geholt und als quasistaatliche Institution der Kommune unterstellt.
Telegraphisch erteilte Dieckmann Kartenspielern der DDR-Nation bedingte Generalabsolution vom sozialistischen Bann. "Sofern dieses die Kombinationsfähigkeit entwickelnde und die Phantasie anregende Skatspiel", so kabelte der Parlamentspräsident ans Skatgericht, "als Mittel der Entspannung zu sinnvoller Freizeitgestaltung genutzt wird, kann man mit bestem Gewissen Skatfreund sein."
Seither wird der Entspannungs-Skat -- streng nach der ostdeutschen Staatsideologie, daß die Freizeit am schönsten, wo das Kollektiv am größten ist -- als Massenbewegung geführt. Beim jährlichen Preisskat in Altenburg, Ost-Berlin oder Karl-Marx-Stadt zählen die Aktiven stets nach Tausenden. und als Preise winken saftige Gewinne in der Größenordnung einer mittleren Wohltätigkeits-Tombola.
Vergangenen Oktober etwa, beim mit 6059 Teilnehmern "größten Turnier in unserer Republik" (so die Frauenzeitschrift "Für Dich") in Karl-Marx-Stadt, gewann die Siegerin Hanna Günter einen Kleinwagen Marke Trabant 601.
Die Autorität der Altenburger Regelrichter hat inzwischen Weltniveau. Aus insgesamt 33 Ländern, die Bundesrepublik und West-Berlin eingeschlossen, kommen rund 500 Anfragen jährlich -- meist von Deutschen, die sich irgendwo in West- oder Osteuropa, in Amerika, Australien oder Asien nach heimischer Sitte zu dritt oder viert die Langeweile vertreiben. "Für die sorgfältige und gewissenhafte Arbeit des Altenburger Skatgerichts"" lobte das SED-Blatt "Neues Deutschland" die Skatgenossen, "spricht allein schon die Tatsache, daß in den vergangenen fünfzehn Jahren keine Entscheidung angefochten wurde."
Sogar gesamtdeutsches Gemauschel konnten sich die Altenburger jahrelang erlauben -- mit Billigung der SED.
Deutsch-deutsche Spieler-Kontakte gab es schon in der Gründerzeit der DDR. Als 1950 in Bielefeld der Deutsche Skatverband samt Skatgericht wiedergegründet wurde, wählten die Delegierten einen Altenburger zum ersten Vorsitzenden: Erich Fuchs, der diesen Posten bereits vor dem Kriege verwaltet hatte. Drei Jahre später emigrierte Skatfreund Fuchs nach Westen" doch die Kontakte blieben.
Mitte 1963 erhielten die Bielefelder unerwartet auch offizielle Post aus Altenburg: eine Einladung des Rates, zum nächsten Skatturnier mit einer Delegation zu erscheinen. Dort einigten sich die Skatrichter aus Ost und West darauf, auch künftig nach gesamtdeutschen Einheitsregeln Recht zu sprechen.
Die Vereinbarung, darauf legt Ost-Richter Gerth besonderen Wert, gilt bis heute: "Falls wir einschneidende Änderungen vornehmen, würden wir den BRD-Verband auf jeden Fall benachrichtigen."
Ansonsten freilich läuft im deutsch-deutschen Skat offiziell derzeit nichts mehr: Als die Bundesdeutschen 1968 wegen der Invasion der CSSR kurzfristig absagten, kappte die SED den Draht. Seither blüht die gesamtdeutsche Skatfreundschaft nur noch im verborgenen.
Bei privatem Besuch aus dem Westen brechen die Altenburger sogar mit einer geheiligten Tradition" um ihre Gastfreundschaft zu beweisen: Sie verzichten aufs altdeutsche Wenzelblatt und kramen ansonsten am Ort verpönte französische Bauern heraus.
Vorerst, so steht zu befürchten, wird sich an der deutsch-deutschen Skatmisere wenig ändern. Denn, so hat der pensionierte SED-Sekretär Gerth erkannt, da ist noch immer hohe Politik im Spiel: "Unsere beiden Staaten haben noch kein Kulturabkommen. Daran hängt das."
Bis sich das ändert, können auch nach Meinung von Berufsoptimisten wie dem Bonner Vertreter in Ost-Berlin, Günter Gaus, selbst ein mäßig begabter Skatspieler, noch Jahre vergehen.