„Das können nur die Deutschen sein“
Eine komplette Crew der spanischen Chartergesellschaft Trabajos Aéreos y Enlaces (TAE) befand sich an Bord der entführten Lufthansa-Maschine. Sie sollte in Frankfurt eine TAE-Maschine mit Touristen übernehmen und nach Palma de Mallorca bringen. Flugkapitän Alberto Cerezo berichtet dem SPIEGEL:
Ich saß, zusammen mit meinem Kopiloten Jaime Deyá, dem Bordingenieur Alberto López und den Stewardessen Pilar Diaz Moroto und Elisa van der Elst, im hinteren Teil der Lufthansa-Maschine, in der Sitzreihe Nummer 16. Vor dem Abflug hatte es eine normale Zoll- und Körperkontrolle gegeben. Wir waren alle in Zivil.
Nach dem Essen, nach etwa einer Dreiviertelstunde Flug, hörte ich hinten im Flugzeug Stimmen, und vier Leute rannten nach vorne. Sie waren alle bewaffnet, und ich wußte sofort, daß es eine Entführung war. Mein Kopilot Jaime sagte: "Jetzt machen wir auch diese Erfahrung, nicht im eigenen Cockpit, sondern als Passagiere."
Drei Personen bedrohten uns, ein Mann und zwei Frauen. Der vierte stand in der Pilotenkanzel und sagte über Bordlautsprecher in schlechtem Englisch: "Dies ist eine Entführung, ab sofort bin ich der Kapitän der Maschine. Befolgen sie meine Befehle. Halten sie die Hände über den Kopf, es ist verboten zu rauchen und zu sprechen. Wir fliegen nach Rom. Wenn unsere Befehle nicht ausgeführt werden, sprengen wir das Flugzeug mit allen Passagieren in die Luft."
Ich überlegte mir, was der Pilot in dieser Situation machen könnte. Sturzflug oder gar Looping schien mir ausgeschlossen, die Sicherheit der Passagiere wäre dadurch in Gefahr geraten. Auch nahm ich die Entführung zu diesem Zeitpunkt nicht allzu tragisch. Erst als ich hörte, daß es um den Austausch von politischen Gefangenen ging, wußte ich, daß es ernst war.
Das Entführungskommando schien gut vorbereitet zu sein. Wir mußten alle harten Gegenstände, Messer, Feuerzeug, selbst Kämme, in den Mittelgang werfen und alle unsere Dokumente abgeben. Dann mußten wir uns hinten im Flugzeug aufstellen. Das war für die Balance des Flugzeuges nicht gefährlich, der Auto-Pilot war eingestellt.
Die Frauen überwachten uns -- beide hielten eine Handgranate in der Hand. Der dritte Entführer durchsuchte uns, dann mußten wir uns getrennt hinsetzen, jeder auf einen anderen Platz. Sie hatten gut beobachtet und bemerkt, daß wir Spanier eine Gruppe waren. Wir mußten uns daraufhin alle getrennt setzen. Im allgemeinen haben sie uns Spanier besser behandelt als die Deutschen.
Die Körperdurchsuchung durch die Entführer dauerte mehr als zwei Stunden. Inzwischen waren wir schon in Rom gelandet. Unterwegs hatte ich durchs Fenster drei italienische Jagdflugzeuge gesehen.
Vor der Landung in Rom mußten wir die Rollos der Fenster schließen, so daß wir nichts sehen konnten. Wir haben auch nichts von den Verhandlungen mitbekommen. Nach dem Start in Rom durften wir die Rollos wieder aufmachen, "um den Sonnenuntergang anzuschauen", so sagte der Chef der Entführer durch Bordlautsprecher.
Wir wußten nicht, wohin wir flogen. Nach dem Sonnenstand schloß ich auf Tripolis, nach der Flugdauer auf Äthiopien. Dann aber machte die Maschine einen Bogen und landete. Die Fenster waren wieder zu, wir wußten nicht, wo wir waren. Auf dem Flughafen mußten wir die längste Zeit die Hände über dem Kopf halten.
Dann flogen wir weiter, und wieder wußten wir nicht, wohin. Da ich den Typ der Lufthansa-Maschine nicht kannte, konnte ich mir nicht ausrechnen, wieviel Sprit wir noch hatten. Die zwei Frauen und der dritte Entführer sagten kein einziges Wort, sie bedrohten uns nur mit den Handgranaten. Untereinander sprachen sie, glaube ich, arabisch. Einmal wurde gefragt, ob ein Arzt im Flugzeug sei, aber es war keiner da. Immer wieder drohte der Chef: "Wer unsere Befehle nicht ausführt, wird hingerichtet."
Wir landeten wieder. Erst später hörte ich, daß wir in Bahrein waren. Da hat Flugkapitän Schumann zum ersten Male die Pilotenkanzel verlassen. Im Gang machte er Gymnastik mit den Armen. Zum ersten Male durften wir essen und danach rauchen.
In Dubai schließlich durften wir zum ersten Male auf die Toilette. Der Chef der Bande erlaubte uns, wieder miteinander zu sprechen. Nur mit dem Flugkapitän durfte noch niemand reden. Zufällig setzte sich Kapitän Schumann in Dubai kurz auf den Sitz neben mir. Ich teilte ihm mit, daß auch ich Pilot sei, und er schien sehr froh darüber zu sein. Er sagte mir, daß er sehr über die Situation besorgt sei und sich von Lufthansa ein bißchen allein gelassen fühle. Dann erklärte er mir die bisherige Route und sagte, er habe auch Landungen in Damaskus und Bagdad versucht.
* Links der spanische Kopilot Deyá.
Wir kommen überein, niemandem zu sagen, daß ich Pilot und eine komplette zweite Crew an Bord sei -- ich habe nur Angst, daß die Entführer in meinem Paß die Angabe "Zivilpilot" lesen könnten.
In Dubai war die Situation anfangs ganz erträglich. Zweimal am Tag gab es zu essen, ein bißchen Hühnchen und Salat. Auf dem Einwickelpapier stand auf arabisch und englisch: "International Airport Dubai", so daß wir endlich wußten, wo wir waren.
Zwar wurden die Triebwerke in Dubai abgestellt, durch die lange Wartezeit ging aber auch der kleine Motor fürs Stromaggregat aus. Der Sprit war alle, und die Klimaanlage fiel aus.
Ich hörte, wie der Pilot wieder versuchte, den Hilfsmotor anzuwerfen, doch der würgte nur, da er kein Benzin hatte. Da verloren die Entführer zum ersten Male die Nerven. Sie glaubten an Verrat, holten die Piloten aus der Kanzel und bedrohten sie vor unseren Augen. Die Piloten blieben ganz ruhig. Sie versicherten, daß von Verrat keine Rede sein könne.
Abends, als wir schon halb erstickt waren, erlaubten die Entführer, die hintere rechte Nottür zu öffnen. Die Passagiere durften jeder einzeln für ein paar Minuten dort Luft schnappen. Später wurden Spielsachen für die Kinder und frische Kleidung an Bord gebracht.
Schließlich erlauben die Entführer. daß vom Flughafen ein Kabel zur Stromversorgung angeschlossen wird Doch sie verlangen, daß das Kabel links angeschlossen wird, weil sie die Operation vom Flugzeugfenster aus überwachen wollen. Die Techniker bestehen darauf, daß rechts angeschlossen werden muß, Es gibt einen Streit. Der Chef der Entführer kündigt uns an, daß er gleich schießen werde, niemand solle erschrecken. Ein Schuß fällt, der einzige bis dahin. Dann darf der Kopilot das Kabel rechts anschließen.
Bis Dubai hatten die Entführer nie geschlafen. Ihre Aufmerksamkeit ließ daher allmählich nach. Ich überlegte, was man für unsere Rettung tun könnte, und fand keine Lösung. Noch hatten wir keine Angst, denn von einem Ultimatum hatten wir nichts gehört, und alle waren ziemlich ruhig.
Kapitän Schumann hat in jedem Augenblick gezeigt, daß er ein ausgezeichneter Berufspilot war. Er hat uns durch seine Ruhe Vertrauen gegeben, er war wie ein Vater. Er sprach über Funk so laut er konnte, damit wir alle ihn verstehen konnten, wenn er um Erleichterung bat, wie Wasser oder Kleidung. Von den anderen Verhandlungen erfuhren wir nichts.
Am zweiten Tag in Dubai feierten wir den Geburtstag von Annemarie, einer der Lufthansa-Stewardessen. Der Entführer kündigte voll Stolz über Bordlautsprecher an: "Verehrte Passagiere, heute hat die Lufthansa-Stewardeß Annemarie Geburtstag, und wir haben Torte für sie bestellt. Wer will Sekt?" Alle wollten, da sagte er: "Ah, es reicht nicht für alle, wir werden teilen müssen." Der Sekt war sogar eisgekühlt. Dann wurde die Torte durchs Flugzeug getragen, und alle klatschten Beifall. Annemarie hatte ein arabisches Gewand angezogen.
Wir hatten schon bald erkannt, daß der Chef der Entführer ziemlich eitel war, und taten alles, um es ihm recht zu machen und ihn bei guter Laune zu halten, Es hat ihm gefallen, wenn wir Beifall klatschten.
Doch dann schlug die Stimmung um, wohl wegen des Ultimatums, von dem wir freilich nichts wußten.
Bis zum Flug nach Aden waren wir sicher, daß alles gut ausgehen werde. Unterwegs kündigte der Flugkapitän an, daß er eine Notlandung in Aden machen müsse. Der Kapitän sagte aber, daß uns dort eine gute Nachricht erwarte.
Die Stewardessen bereiteten die Notlandung vor. Wir von der spanischen Crew baten die Entführer, uns an die Notausgänge setzen zu dürfen. Beim Anflug auf Aden sah ich die Lastwagen und Feuerwehrfahrzeuge auf der Piste.
Die Notlandung war eine Meisterleistung, unglaublich, wie weich Schumann die Maschine mit viel Mut neben der Piste auf den Sandboden aufsetzte. Der Kapitän bat die Entführer, die Maschine von außen untersuchen zu dürfen. Ich sah ihn durch das Fenster unten am Flugzeug.
Dann kamen Soldaten und umstellten die Maschine mit Panzerwagen. Die Entführer wurden nervös und drohten, das Flugzeug zu sprengen. Die Soldaten zogen sich daraufhin ein bißchen zurück. Der Kapitän kam in die Kanzel zurück und rief von dort aus auf englisch zum Tower hinüber: "Ich bin Kapitän Schumann von der Lufthansa. Ist da ein Vertreter der Bundesrepublik?"
Er rief es zehnmal, wir hörten keine Antwort. Schumann stieg wieder aus, kam zurück und stieg wieder aus, offensichtlich versuchte er, Kontakt aufzunehmen. Dann kam er wieder ins Flugzeug, ging in die erste Klasse, und dort hörten wir den Schuß, mit dem die Entführer ihn töteten. Dies war ein entsetzlicher Schlag für uns alle.
Bis dahin war ich ganz ruhig und sicher gewesen, aber nun brach auch ich innerlich zusammen. Viele weinten. Jetzt sah ich, daß wir schutzlos vor den Entführern standen. Erstmals wurden wir uns der Situation wirklich bewußt und hatten keine Hoffnung mehr. Schumann hatte uns Vertrauen gegeben, er überblickte die Lage. Jetzt waren wir allein.
Ich konnte mir kein Bild machen, wie schwer die Maschine durch die Notlandung beschädigt war. Sie wurde auf die Piste gezogen, der Kopilot startete die Triebwerke, er prüfte lange, untersuchte alles genau und beruhigte uns dann, alles sei in Ordnung. Ich aber glaubte, daß es fast unmöglich sei, so zu starten.
Als wir dann zum Start rollten, fragte ich Gabi, die Stewardeß, ob es nicht besser sei, wenn ich als Kopilot helfen würde. Doch Gabi sagte, unter keinen Umständen. Nach dem Tod von Schumann war Gabi immer mit den Entführern zusammen, sie wußte also, was am besten war.
Nach dem Start von Aden wiederholte der Chef der Entführer noch zweimal, daß jeder, der seine Befehle nicht befolge, erschossen werde. Wir zweifelten nicht mehr daran. Der Leichnam von Schumann wurde an allen Passagieren vorbei in den hinteren Teil des Flugzeuges gezogen und in einen ausgeräumten Schrank gesteckt. Der Kopilot landete mit eiserner Ruhe in Somalia. Erleichtert klatschten alle Passagiere Beifall.
Die Entführer sagten uns, jetzt käme bald das deutsche Flugzeug mit den freigepreßten Baader-Leuten. Auch Gabi hatte im Funk gehört, daß zwei Flugzeuge unterwegs seien. Wir hatten bis dahin nicht gemerkt, daß uns irgendein Flugzeug gefolgt wäre. Jetzt waren wir sicher, daß alles ein glückliches Ende nähme. Die Entführer glaubten das auch.
Doch dann, um drei Uhr nachmittags, haben uns die Entführer plötzlich gefesselt. Die Frauen mußten ihre Strümpfe ausziehen, damit wurden unsere Hände verschränkt auf den Rücken gebunden. Dann montierten sie schweigend den Sprengstoff, zerschlugen alle Whiskyflaschen und schütteten den Inhalt auf den Boden. Die Luft war zum Ersticken. Da habe ich von meiner Familie und von der Welt Abschied genommen. Ich gab Elisa an meiner Seite einen Kuß. Ich glaubte, es sei alles vorbei.
Um vier Uhr sagte der Entführer-Chef: "Es bleibt uns eine Stunde, dann werden wir uns wohl in einer anderen Welt wiedersehen." Wir sahen, daß sie
* Oben: im Türrahmen der Lufthansa-Maschine in Dubai; unten: auf der Empfangsfeier im Frankfurter Flughafen.
sogar mit einem gewissen Stolz zum Sterben bereit waren.
Gabi fragte eine der Entführerinnen, ob sie keine Angst vor dem Sterben habe. Sie antwortete, daß sie schon lange vorher gestorben sei.
Mit Kapitän Schumann und mit den Stewardessen hatten wir Spanier einzeln und heimlich lange zuvor Notmaßnahmen besprochen. Jetzt saßen wir, die spanische Crew, alle an den strategisch wichtigen Punkten. Ich am rechten Notausgang über der Tragfläche, Jaime an der rechten hinteren Nottür. In Gedanken hatte ich immer wieder die Notsituation
geübt: mit zwei Handgriffen Nottür öffnen, Leute packen und rausschmeißen auf die Tragfläche. Ich hatte mir sogar den Winkel ausgerechnet, in dem ich vom Flugzeug wegrennen mußte, damit sie mich nicht erschießen konnten.
Jetzt aber sitze ich gefesselt, und der Entführer beginnt zu zählen: Es bleiben uns noch 15 Minuten, noch zehn Minuten, noch fünf. Ich überlege, wie ich gefesselt die Tür dennoch aufbringen kann und bin sicher, daß ich es schaffen werde.
Plötzlich aber habe ich den Eindruck, daß der zweite Mann der Entführer auch nicht mit dem Sterben einverstanden ist. Und plötzlich ruft Gabi aus: "We are free, we are free .." Der Kopilot und der Chef der Entführer schauen auf eine Karte und zählen: "3000 Meilen, das macht zehn Stunden Flug."
In letzter Minute ist über Funk die Nachricht gekommen, daß das Flugzeug mit den Baader-Leuten tatsächlich in Deutschland abgeflogen sei und in zehn Stunden ankommen werde. Da bricht ein unglaublicher Jubel los. Die Fesseln werden gelöst. Alle sind erleichtert und voller neuer Hoffnungen.
Um 20 Minuten vor zwölf Uhr mußten wir uns alle die Sicherheitsgurte anlegen. In den Tagen der Entführung hatte ich insgesamt vielleicht sieben Stunden geschlafen. Jetzt plötzlich wurde ich schläfrig.
Niemand von uns hatte bemerkt, wie das Flugzeug mit dem Befreiungskommando und wie die Männer der GSG 9 auf die Tragflächen kamen. Plötzlich fiel die Nottür auf mich. Darauf stand ein Mann und schrie: "Wo sind sie, wo sind sie?" Und die Passagiere riefen: "Da vorne, da vorne." Ich dachte gleich an Entebbe.
Jaime hatte den komischen Gedanken: "Jetzt kommen die Neger aus Somalia und machen Scheiß."
Die Männer standen plötzlich gleichzeitig in allen Türen, die sie von außen geöffnet hatten. Die Türen wurden nicht gesprengt. Die Männer schienen überhaupt keine Nerven zu haben und handelten kühl und unglaublich sicher. Sie müssen gut vorbereitet gewesen sein. Ich dachte mir gleich: Das können nur die Deutschen sein.
Derjenige, der durch meine Tür reingestürmt war und jetzt auf mir stand, begann, gleich nach vorn, in Richtung Erste Klasse, zu schießen. Dann war sofort alles voller Rauch. Die Entführer habe ich nicht mehr gesehen, auch nicht gehört, ob sie zurückgeschossen haben. Ich dachte nur: Die Gabi ist mit da vorn.
Der Sicherheitsgurt nahm mir die Luft. Ich lag halb quer, die Tür über mir und darauf der Deutsche. Ich schrie und Elisa schrie: "Lebst du noch?" Dann sagte sie: "Du mußt nicht weinen, nicht weinen", sonst habe ich nichts mehr gesehen und nichts gehört.
Ein anderer Deutscher hat mich raus auf die Tragfläche gezogen, wieder ein anderer nahm mich unten auf dem Boden auf. Alles schien mir so unglaublich geordnet und fast ruhig. Von Explosionen im Flugzeug habe ich nichts gehört.
In den Dünen haben wir uns dann alle wiedergefunden. Da standen auch viele Somalis mit Maschinenpistolen. Als ersten sah ich Jaime. "Hombre, ist alles klar", fragte er mich, "ist niemand tot?" Nur Alberto López klagte: Er war barfuß aus dem Flugzeug gesprungen und in den Dünen auf Disteln getreten.