Schlachtfeld Deutschland
Zeit: 3.40 Uhr
Die Soldaten der Radarstellung Großenbrode starren auf den Schirm. Seit 72 Stunden herrscht erhöhte Alarmbereitschaft. Der Grund: Im Warschauer Pakt sind Truppen mobilisiert worden. seit zwei Tagen hat die Sowjet-Union ihre Propaganda gegen "westliche Kriegstreiber und Neofaschisten" verstärkt.
Aufmerksam verfolgen die Soldaten Radarsignale. Sie rühren von einem Flugzeugpulk her. Die vierzig Düsenbomber vom Typ Tu-16 nehmen Angriffsformation ein und steuern weit auseinandergezogen im Tiefflug die Ostseeküste an. Ihre Ziele: die Marinehäfen Kiel, Eckernförde, Neustadt und die Brücken über den Nord-Ostsee-Kanal.
Während die Sowjet-Bomber ihre Schächte öffnen, werden die Nato-Flugplätze Jagel, Eggebek, Leck und Wittmund von Mittelstreckenraketen getroffen, konventionelle Sprengköpfe zerstören die Rollbahnen.
Mit dem Bombardement aus dem Osten beginnt ein Bundeswehr-Planspiel, das von einem sowjetischen Überraschungsangriff auf Mitteleuropa ausgeht. Die Generale proben Gegenmaßnahmen, psychologische Auswirkungen von Verlusten bei der Zivilbevölkerung und die Reaktionen ihrer eigenen Truppenführer. Zeit: 3.45 Uhr
Sowjetische Panzer-Regimenter, unterstützt durch ostdeutsche Pioniertruppen und Mot-Schützen der Nationalen Volksarmee (NVA), überschreiten die Elbe und bilden Brückenköpfe bei Lauenburg, Hitzacker und Büchen. Bis 5 Uhr ist Verstärkung eingetroffen: Die erste Staffel der "Küstenfront", gebildet aus zwei in Mecklenburg stationierten Garde-Armeen, bereitet sich auf den weiteren Angriff vor. Zeit 5.15 Uhr
Auf dem Divisionsgefechtsstand der 6. Panzergrenadierdivision in Wahlstedt wird die aktuelle Lage erstellt, Militärs schätzen die ersten Verluste und zeichnen die vermutete Stoßrichtung des Feindes auf großflächigen Karten säuberlich ein.
Allen Stabsoffizieren ist zu diesem Zeitpunkt klar, daß der sowjetische Angriff nicht einem begrenzten Ziel gilt. Meldungen vom I. deutschen Korps in Niedersachsen und der 7. US-Armee in Süddeutschland bestätigen die Vermutung. Warschauer-Pakt-Truppen greifen die Bundesrepublik mit Stoßrichtung Hamburg, Ruhrgebiet und entlang der Linie Deggendorf-München an. Zeit: 5.30 Uhr
Vor Flensburg und an der dänischen Küste werden Fallschirmjäger abgesetzt. Gleichzeitig landen, unter Feuerschutz von Kriegsschiffen, sowjetische und polnische Marine-Infanteriebrigaden mit Luftkissenfahrzeugen und Panzern und besetzen die Küstenstreifen. Ihr Befehl: die dänische Jütland-Division von den Verbänden der 6. Panzergrenadierdivision und des Territorialkommandos in Schleswig-Holstein abzuschneiden. Zeit: 6.30 Uhr
Bei Schwarzenbek und Mölln versuchen Einheiten der Panzergrenadierbrigade 16 den immer stärker nachdrückenden Feind zu stoppen. Hamburg wird, wie in den Nato-Planungen vorgesehen. zur "offenen Stadt" erklärt. Zeit: 7.05 Uhr
Der Kommandeur der 6. Panzergrenadierdivision, Generalmajor Hans Poeppel, meldet dem Nato-Kommando Comlandjut über Richtfunk die Lage und fordert Truppen-Unterstützung an. Die Antwort ist negativ. Auch die dänische Division, mit Abwehrgefechten beschäftigt, kann nicht helfen; außerdem ist in Kopenhagen das Parlament noch nicht zusammengetreten, um die Truppen für den Nato-Einsatz freizugeben.
Das 1. deutsche Korps in Norddeutschland kämpft auf der Linie Alvern-Bergen-Celle mit starken sowjetischen Panzerkräften und wartet auf Entlastung durch britische und belgische Truppen. Die Nato-Partner aber stehen immer noch westlich der Weser. Zeit: 7.10 Uhr
In Schleswig-Holstein spitzt sich die Lage zu. Die ersten Bombardierungen haben sich in der Bevölkerung psychologisch verheerend ausgewirkt. Trotz dauernder Aufrufe über den NDR, zu Hause zu bleiben, setzt eine Massenflucht ein.
Autoschlangen kriechen hinter Lübeck und Kiel in nordwestlicher Richtung zur dänischen Grenze, um die drei eingerichteten Behelfsfähren über den Nord-Ostsee-Kanal zu erreichen. Flüchtende Zivilisten aus dem Raum südlich Lübeck erschweren Truppentransporte über die Bundesautobahn in Richtung Hamburg. Es kommt zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und Zivilisten. Militärkolonnen bleiben im Flüchtlingsstrom stecken. Zeit: 7.15 Uhr
Die Befürchtungen der Nato-Militärs sind eingetreten: Sowjet-Panzer haben die vorbereiteten Feuerstellungen für die Atomartillerie entlang der Grenze überrollt. Eigene taktische Atomsprengköpfe würden jetzt bereits westdeutsches Gebiet treffen.
Abwehr-Planspiel
unter überholten Voraussetzungen.
Trotzdem entschließt sich der Divisionskommandeur, Atomwaffen-Einsatz anzufordern. Er hält dies für die letzte Chance, den Angriff zu stoppen.
Geplantes Ziel des Atomschlages ist die Straßenkreuzung G rande, südlich Trittau (Nato-Koordinaten: NE 924378). Bis zu der voraussichtlichen Freigabe des ersten Atomsprengkopfes durch den US-Präsidenten glaubt General Poeppel mit seiner 6. Panzergrenadier-Division das Gelände westlich der Bundesautobahn Hamburg-Lübeck noch halten zu können.
Immerhin dauert es von der Anforderung (request) bis zur Freigabe durch den US-Präsidenten (release) mindestens 24 Stunden -- so jedenfalls bestimmt es die US-Army-Dienstvorschrift 100/5.
Auch Bundesregierung und Notparlament, im atombombensicheren Eifelbunker zu einer Sondersitzung zusammengetreten, drängen auf eine Entscheidung.
Im Brüsseler Nato-Hauptquartier trägt der deutsche Nato-Botschafter die Auffassung der ausquartierten Bonner vor: Die Warschauer-Pakt-Staaten seien zu einem Großangriff angetreten, der mit konventionellen Mitteln nicht mehr zu stoppen sei. Durch einen atomaren Warnschuß müsse den Sowjets so schnell wie möglich klargemacht werden, daß der Krieg in die atomare Stufe eskaliere, wenn nicht sofort alle Kampfhandlungen eingestellt würden.
Doch die Amerikaner scheuen das Risiko. Erst nach einer längeren Debatte im amerikanischen Nationalen Sicherheitsrat und einem Telephongespräch mit dem deutschen Bundeskanzler stimmt der US-Präsident dem gezielten Atomeinsatz zu.
23 Stunden und fünf Minuten nach der Anforderung erschüttert eine schwere Detonation das Gelände um Trittau. Ein Atomsprengkörper von zehn Kilotonnen (KT) ist gezündet worden. Der Divisionsbericht meldet "hohe Verluste unter der Zivilbevölkerung und schwere Zerstörungen an Gebäuden und Wald in einem Radius von etwa 1200 Metern".
Mit dem Atomschlag bei Trittau endet das Szenario der Bundeswehr. Doch das Planspiel geht von Voraussetzungen aus, die längst überholt sind: Einen derart frühen Einsatz von Atomwaffen lehnen die USA seit Jahren ab. Gleichwohl benutzen die Deutschen in ihren fiktiven Abwehrschlachten immer wieder Waffen, die sie im Ernstfall kaum zur Verfügung haben werden.
Denn die Amerikaner fordern von ihren Verbündeten, einem konventionellen Angriff mit konventionellen Mitteln bis zu drei Monaten zu widerstehen. Senator Sani Nunn, Befürworter einer konventionellen Nato-Aufrüstung, vor dem US-Streitkräfteausschuß: "Kein Mensch besitzt Erfahrung in der Führung eines Atomkrieges, und niemand weiß doch, was im Falle des Ausbruchs eines solchen Krieges wirklich geschehen wird."
Selbst "unter günstigsten Voraussetzungen" würde ein Atomkrieg in Westeuropa und den Ostblock-Staaten nach US-Studien schon in wenigen Tagen bis zu 20 Millionen Menschen das Leben kosten. Das Territorium der Sowjet-Union ist aus den Zielplanungen der Nato für einen taktisch-nuklearen Krieg seit 1962 ohnehin ausgeklammert.
Ziele in der Sowjet-Union legen ausschließlich die amerikanischen Generale des nicht zur Nato gehörenden Strategischen Luftkommandos (SAG) fest: Die Interkontinentalraketen und B-52-Bomber des SAC starten nur bei direkter Bedrohung der USA zu einem Atomschlag.
Was der Einsatz von Nuklearwaffen für Europa bedeutet, hat ein Kenner beschrieben, der 1945 als junger US-Soldat in Hiroschima war: Generalleutnant Arthur Collins, von 1971 bis 1974 Stellvertretender US-Oberbefehlshaber in Europa, wirft seinen Militärkollegen vor, immer nur die Waffenwirkung zu sehen, nicht aber die verheerenden Folgen auf die eigenen Soldaten und die Zivilbevölkerung.
Collins: "Wir werden es mit Verbrennungen, Erblindung, Strahlenkrankheiten und Verletzungen durch Druck und Sog zu tun haben, Tausende von Menschen, Zivilisten und Soldaten. werden in gleicher Weise betroffen sein. Wer wird sie behandeln? Wer wird die Toten begraben?"
Antwerten auf diese Fragen haben bisher weder Politiker noch Militärs gegeben. Nur eines ist sicher: Während die europäischen Nato-Partner, allen voran die Bundesrepublik, ihre Sicherheit auf frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen gründen, möchten die Amerikaner sie erst so spät wie möglich einsetzen wenn überhaupt.
Solange die USA das Atommonopol oder zumindest einen scheinbar uneinholbaren Nuklear-Vorsprung gegenüber den Sowjets besaßen, wirkte allein schon die Drohung mit Atomwaffen als Abschreckung hinreichend.
Seit die Sowjets auf dem Gebiet der taktischen Atomwaffen gleichgezogen und diese Waffen in Europa stationiert haben -- mit größerer Reichweite als die Nato -, ist der Einsatzbefehl aus dem Weißen Haus eher noch unwahrscheinlicher geworden: Die Amerikaner müssen fürchten, daß ein atomarer Krieg in Westeuropa nicht etwa zum Waffenstillstand führt, sondern in eine nicht mehr zu kontrollierende, auch die USA selbst bedrohende Eskalation münden könnte.
Amerikanische Strategen suchen folglich seit Jahren nach neuen Wegen zur Verteidigung Westeuropas mit konventionellen Waffen gegen einen Überraschungsangriff des Warschauer Paktes. Wenn sie überhaupt über ein nukleares Szenario diskutierten, dann eher über die direkte strategische Konfrontation der beiden Supermächte und über die Frage, ob Moskau einen atomaren Überraschungsangriff gegen die USA plane oder erfolgreich führen könne.
Mit dem Dissens -- Atomwaffeneinsatz in Europa möglichst früh, Atomwaffen möglichst gar nicht -- lebt die Nato nun schon seit über zehn Jahren. Doch die strategischen Meinungsverschiedenheiten blieben undiskutiert, solange es nur eben ging: Niemand wollte die Moral der Bevölkerung untergraben, auf deren Territorium eine kriegerische Auseinandersetzung in Europa stattfinden würde -- der 60 Millionen Bundesbürger.
Das Verteidigungskonzept ist wackelig geworden.
"Die Verteidigung Europas", kommentierte Anfang des Jahres das US-Magazin "Newsweck", "ist ein Thema, an das manche Führer der Allianz am liebsten nicht erinnert werden möchten." Wenn. man die Fakten auf den Tisch lege, würde das eine "gewaltige Panik auslösen
Und von der war es nicht mehr weit, als Anfang vorigen Monats die beiden konservativen Journalisten Rowland Evans und Robert Novak in der "Washington Post" enthüllten, die Carter-Administration erwäge ernsthaft, im Falle eines sowjetischen Überraschungsangriffs in Europa lieber das östliche Drittel der Bundesrepublik aufzugeben, als den Einsatz taktischer Atomwaffen zu riskieren.
US-Experten hatten, zur Vorlage für ihren Präsidenten, ein umfangreiches Memorandum über strategische Fragen ausgearbeitet ("Presidential Review Memorandum 10", PRM-10), das Carter als Entscheidungshilfe dienen sollte. Eine der in dem Papier enthaltenen Optionen: Westeuropa solle nicht mehr an der innerdeutschen Grenze verteidigt werden (wie es die seit 1967 gültige Nato-Strategie vorsieht), sondern an einer Linie entlang Weser und Lech.
Die Weser-Lech-Linie war schon einmal, bis 1966, als Verteidigungslinie der Nato konzipiert gewesen, und ähnliche Studien und Überlegungen hatte es durchaus auch schon in der Nixon-Administration gegeben.
Hochgekommen waren die alten Pläne eher durch Zufall. Die Politologin Lynn Sheney hatte dies zum Thema ihrer Dissertation gemacht. Die Arbeit wurde von dem Beraterkreis um Brzezinski diskutiert. Zum Erstaunen aller Beteiligten wurde die Option für die Weser-Lech-Linie -- trotz des Widerstandes der Pentagon-Militärs -- in das Memorandum aufgenommen. Ein Pentagon-Insider: "Der Verteidigungsminister Harold Brown hält große Stücke von Miss Sheney."
Brisanz gewann diese Überlegung jedoch dadurch, daß Evans und Novak aufdeckten, bei einer Diskussion über PRM-10 im "Senior Coordinating Council" des Präsidenten Ende Juni habe sich Carters Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski angeblich die alte Linie zu eigen gemacht.
In Wahrheit hatte Brzezinski noch am Tage der Veröffentlichung Genscher angerufen und beruhigt: Man habe eben, wie schon so oft, verschiedene Optionen durchgespielt.
Vor einem Unterausschuß des Senats dementierte auch Verteidigungsminister Harald Brown: Amerikas Politik sei unverändert, die USA würden jeden sowjetischen Angriff nahe der deutschen Grenze stoppen.
Auf einer Pressekonferenz allerdings wich der Sprecher des Weißen Hauses, Jody Powell, der Frage zunächst aus, ob die Nato nach Meinung der Carter-Regierung gegenwärtig überhaupt in der Lage sei, verlorenes Terrain zurückzugewinnen: Da müsse er an höherer Stelle nachfragen. Erst als ihm Brzezinskis Pressesprecher zunickte, verkündete Powell: "Es ist unsere Politik, jedes Gelände zurückzugewinnen. und wir glauben auch, daß wir dazu derzeit in der Lage sind."
Diese Zuversicht steht freilich in krassern Gegensatz zu den Erkenntnissen, die der pensionierte Generalleutnant James F. Hollingsworth und nach ihm die beiden US-Senatoren Sam Nunn und Dewey F. Bartlett von Studienreisen zu den Nato-Verbänden in Westeuropa mitgebracht hatten.
Der Bereitschaftsgrad der Truppe, so resümierten Nunn und Bartlett in ihrem Bericht über die "Nato und die neue sowjetische Bedrohung", sei so desolat, die strategischen Voraussetzungen für ihren Einsatz seien zum Teil
* Panzerabwehr-Rakete "Milan.
so überholt, daß die Nato-Verbände im Kriegsfall kein ernsthafter Gegner für die Sowjets wären.
Der Ex-General resümierte, unter den gegenwärtigen Umständen könnten die Sowjets pro Tag mehr als 50 Kilometer weit vorstoßen, was sie in sechs Tagen an den Rhein brächte. Nunn und Bartlett forderten daher Verstärkung der entlang der innerdeutschen Grenze stationierten Truppen und Aufstockung von Kriegsgerät und Munition.
Einen Kostenvoranschlag für die Verwirklichung dieser Forderungen präsentierte der demokratische Abgeordnete Les Aspin aus Wisconsin. Die Verbesserungsvorschläge, errechnete er in einer Analyse, würden allein die USA in den nächsten fünf Jahren etwa 46,4 Milliarden Dollar kosten.
Aspin, besorgt über die "Maginot-Linien-Mentalität" der Grenzverteidiger: "Es ist eine unsinnige Strategie und ein grober Mißbrauch von Steuergeldern, mehr als 30 Millionen Dollar für die Verteidigung jedes einzelnen Grashalms gegen einen unwahrscheinlichen Angriff auszugeben."
In der letzten August-Woche kam dann endlich, worauf die Europäer, allen voran die Bonner, schon lange gewartet hatten: das auf den ersten Blick beruhigende Machtwort des Präsidenten. In einer gezielt in die Presse lancierten vertraulichen Verteidigungsdirektive an das Pentagon bekräftigte Carter das Festhalten der USA an der Nato-Strategie der Vorne-Verteidigung.
Das Dokument -- ein echter Carter -- ist je nach Interessenlage interpretierbar: Der Präsident gibt zwar nicht ein Drittel der Bundesrepublik freiwillig preis, er verpflichtet die USA aber auch nicht zu einer Politik, die einen sowjetischen Überraschungsangriff schon in seiner Anfangsphase, an der Grenze also, stoppen würde.
Über den Einsatz von Atomwaffen zur Verteidigung Europas schließlich besagt die Anweisung nur, daß er Bestandteil des strategischen Konzepts sei. Wann jedoch diese Waffen eingesetzt werden sollen, bleibt wie bisher offen, der in die Nato-Strategie eingebaute Dissens weiterhin bestehen.
Die Westdeutschen werden dabei von der Fiktion Abschied nehmen müssen, der große Bruder in Amerika drücke den Auslöser für die Atomwaffen. sobald der erste Ostblockpanzer die Elbe überquert.
Zumindest den führenden deutschen Politikern und Militärs ist der Wunsch Washingtons nach Änderung der Nato-Strategie schon länger bekannt.
Brigadegeneral Horst-Bodo Schuwirth, 1975 stellvertretender Stabsabteilungsleiter Militärpolitik im Verteidigungsministerium, vermerkte schon damals in einem vertraulichen Protokoll: "Die Amerikaner verlangen immer häufiger eine Zurücknahme der rückwärtigen Verteidigungslinie. Damit drückt sich die Absicht der Amerikaner aus, einen konventionellen Verteidigungskrieg bis in die Tiefe des Raumes eindringen zu lassen. Führungsstab Streitkräfte vermutet, daß die beabsichtigten Änderungen mit Pentagon und State Department abgesprochen sein müssen".
Auch auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr 1975 in Wiesbaden klagten, wenn auch in sehr vorsichtiger Form, mehrere Generale, daß die deutschen und amerikanischen Interessen immer weiter auseinanderlaufen.
Schuwirth kritisierte in Wiesbaden, daß die Amerikaner in ihrer Verteidigungsplanung den Einsatz taktischer Nuklearwaffen in zunehmendem Maße ausklammern. Damit aber werde die lückenlose Abschreckung -- vom konventionellen über den taktisch-nuklearen Krieg bis hin zum großen atomaren Schlagabtausch -- ernsthaft gefährdet. Nur diese Eskalationsleiter mache die Abschreckung glaubhaft. Schuwirth: "Wir sind gegen eine Zerlegung der Abschreckung."
Obwohl sich der Trend deutlich abzeichnet, haben deutsche Politiker und
* An Bord der zum fliegenden Gefechtsstand umgebauten Boeing 747 des US-Präsidenten
Militärs hingenommen, daß die Amerikaner die 1967 im Nato-Dokument MC 14/3 niedergelegte Strategie der "flexible response" mehr und mehr in ihrem Sinne einseitig auslegen. Auch der Verteidigungsausschuß des Bundestages konnte sich bisher nicht dazu durchringen, die Konsequenzen aus der veränderten Lage zu ziehen.
Nahezu einmütig Vertrauen Regierung und Opposition immer noch darauf, daß die Abschreckung schon funktionieren und der amerikanische Präsident im richtigen Moment schon das Richtige tun wird.
Vizeadmiral Herbert Trebesch, deutscher Vertreter im Militärausschuß der Nato:" Das nukleare Problem ist eigentlich eine Mischung aus Furcht und Hoffnung, Mißtrauen und Vertrauen, letztlich ein Faktor der Unsicherheit."
Wird ein amerikanischer Präsident die totale Vernichtung New Yorks und Chicagos riskieren, wenn die Sowjets die Elbe überschreiten und Teile der Bundesrepublik besetzen?
US-Präsident Nixon 1973: "Kein amerikanischer Präsident darf in die Lage geraten, in der er einen sowjetischen Angriff nur noch mit dem totalen Atomkrieg beantworten kann." Und Jimmy Carter versprach t 976 in seinem Wahlkampf, er werde den "Einsatz von Atomwaffen als Präsident nur bei Gefährdung der Sicherheit und Existenz der eigenen Nation erlauben".
Folgerichtig gehen die Amerikaner seit Anfang der siebziger Jahre davon aus, daß West-Europa trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit sich auch ohne Atomwaffen verteidigen muß. Sie verstärkten deshalb ihre konventionellen Truppen in der Bundesrepublik um zwei Brigaden, stockten ihre Munitions- und Treibstofflager auf -- die Vorräte der US-Army reichen für 90 Tage, Bundeswehr-Depots für 20 Tage -- und wollen vor und nach Kriegsausbruch mit Schiffen und Flugzeugen Divisionen und Nachschubgüter über den Atlantik transportieren.
Während Washington von seinen Verbündeten ständige größere Anstrengungen verlangt, um einen konventionellen Angriff abzuwehren, versucht die US-Administration gleichzeitig, ihr Nuklearpotential in Europa abzubauen. Seit langem zirkuliert im Pentagon der Plan, die Zahl der in Westeuropa lagernden 7200 Atomsprengköpfe -- ihre Zerstörungskraft entspricht 35 000 Hiroshima-Bomben -- zunächst einmal auf 2000 zu verringern.
Ohne den nuklearen Schild der Amerikaner sind die Europäer jedoch nicht in der Lage, einen konventionellen Angriff zu stoppen.
Allenfalls, so wissen Nato-Verteidigungsplaner und Bundeswehrgenerale, ließe sich die in sowjetischen Führungsvorschriften für den Angriff auf Westeuropa geforderte Marschleistung der Warschauer-Pakt-Truppen von einhundert Kilometer pro Tag auf etwa 50 Kilometer begrenzen.
Truppenübungen in den letzten Jahren demonstrierten denn auch, wie wacklig das Verteidigungskonzept inzwischen geworden ist. Noch ehe US-Verbände eingeflogen und die Bundeswehr-Reservisten bei ihren Einheiten angelangt sind, halten die Sowjets, unterstützt durch DDR-Soldaten, einen Geländestreifen von bis zu 200 Kilometer Tiefe besetzt. Und wenn Nato-Truppen einmal einen Angriff abwehren können, werden sie schnell von der nachgeführten "zweiten strategischen Staffel" niedergewalzt; massives Artilleriefeuer, Flächenbombardements und Raketeneinsätze verwüsten die westdeutschen Ballungsräume.
Ex-General Johannes Steinhoff, bis 1974 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses:" Die Nato-übungen hahen gezeigt, daß die Allianz größere Angriffe des Ostblocks nur eine relativ kurze Zeit aufhalten kann, bevor Forderungen der Nato-Kommandeure nach Einsatz von Nuklearwaffen in Erwägung gezogen werden müssen."
Auch ein konventioneller Krieg bedeutet totale Verwüstung.
Zu einem ähnlichen Resultat kommt das Bonner Verteidigungs-Weißbuch 1975/1976. Längere konventionelle Schlachten in der dichtbesiedelten Bundesrepublik würden "die Substanz dessen zerstören, was verteidigt werden soll". Denn moderne konventionelle Waffensysteme -- Schüttbomben, Napalm und Flächenfeuerwaffen -- erreichen fast schon die Zerstörungswirkungen taktischer Nuklearwaffen.
Bundeswehr-Analytiker kamen unlängst zu dem Ergebnis, daß ein konventionell geführter Krieg von 20 Tagen genausoviel Unheil anrichtet wie ein mit taktischen Atomwaffen geführter von fünf Tagen.
Der Verlierer solcher Schlachten wäre allemal die Bundesrepublik, auch wenn die Amerikaner, wie es ihre Strategie vorsieht, verlorengegangenes Gelände wieder zurückerobern: Ein Krieg, der zweimal über die Menschen hinweggeht und halb zerstörtes Gebiet total verwüstet, würde Millionen Tote fordern und die Bundesrepublik in ein Trümmerfeld verwandeln.
Aus der US-Strategie zog der frühere Verteidigungsminister und heutige Kanzler Helmut Schmidt das Fazit: Die Bundesrepublik sei nur "um den Preis ihrer totalen Zerstörung" zu verteidigen. Die USA hätten die Wahl, den Gegner an ihrer Ostküste oder an der Elbe zu stellen. Die Bundesrepublik habe diese Wahl nicht.
Und als er jüngst gefragt wurde, ob er sich einen längeren konventionellen Krieg in Europa "unterhalb der Atomschwelle" vorstellen könne, antwortete Schmidt knapp, dies sei für ihn "unvorstellbar".
Völlig ungewiß ist zudem, was geschehen soll, wenn die Sowjets West-Berlin in einem militärischen Handstreich besetzen oder nur zu einem begrenzten Angriff auf die Bundesrepublik antreten und als Faustpfand für Verhandlungen Wolfsburg oder den Dannenberger Zipfel nehmen würden.
West-Berlin wäre durch die schwachen Truppen der alliierten Schutzmächte nicht zu halten. Jeder Einsatz von Atomwaffen in Berlin scheidet aus. Die übrigen Nato-Staaten wären zunächst einmal nicht betroffen. Denn West-Berlin ist nur indirekt -- durch die Stationierung amerikanischer, englischer und französischer Soldaten -- mit der atlantischen Allianz verbunden. Krisen- und Kriegsplanungen sind allein Sache der westlichen Alliierten, nicht aber der Nato-Stäbe.
Die Berlin-Garantien haben deshalb zwar immense politische Bedeutung: Sie belegen die Risikobereitschaft des Westens. Einen militärischen Wert haben sie indes nicht.
Auch ein begrenzter sowjetischer Angriff auf westdeutsches Territorium mit anschließendem Waffenstillstandsangebot würde das Bündnis in eine fatale Lage bringen. Wenn die Nato-Staaten ihre Verpflichtungen ernst nehmen, müßten sie das besetzte Gebiet zurückerobern und damit einen großen Krieg in Kauf nehmen.
Ob die Regierungen unserer Verbündeten dazu bereit wären, erscheint fraglich. Täten sie es allerdings nicht und gingen sie auf die Verhandlungsvorschläge der Sowjets ein, wäre die Glaubwürdigkeit des Bündnisses dahin.
Ohne großes Risiko hätten die Sowjets ihr altes Ziel erreicht, Amerika in den Augen seiner westeuropäischen Verbündeten endgültig in Mißkredit zu bringen und eine Neutralisierung Mitteleuropas einzuleiten.
Diese Gefahren vor Augen, betont Verteidigungsminister Georg Leber immer wieder, daß die Abschreckung lückenlos sein müsse. Diese Abschreckung aber könne nur funktionieren, wenn der Angreifer jederzeit mit einem taktischen Nuklearschlag und einer weiteren Eskalation bis hin zur Vernichtung seines eigenen Landes rechnen müsse.
Ohne Atomwaffen und ohne Vorn-Verteidigung werde das Risiko für den Gegner kalkulierbar, wachse die Möglichkeit einer kriegerischen Auseinandersetzung. Leber: "Die Frage ist wichtig, wir dürfen uns nicht daran vorbeipfuschen."
Den Deutschen bleibt nur die vage Hoffnung auf Amerika.
Leber und seine Generale lehnen daher alle Vorschläge ab, die Verteidigung von der Grenze weg nach hinten zu verlagern.
Auch Empfehlungen wie die des Konfliktforschers Horst Afheldt (SPIEGEL 33/1977) und des österreichischen Armeekommandanten Emil Spannocchi, einen sowjetischen Angriff mit einem Netz von Einzelkämpfergruppen (Technokommandos) aufzufangen, stoßen auf den Widerstand der Hardthöhe.
Denn auch sie würden, so die Meinung der Militärstrategen, die gesamte Bundesrepublik zum Schlachtfeld machen. Außerdem entspräche ein nach Partisanenart geführter Abwehrkampf nicht deutscher Mentalität. Leber: "Wir können nicht hinter jede deutsche Eiche einen Soldaten mit einer Waffe stellen."
Was den Deutschen bleibt, ist die vage Hoffnung auf Amerika. Selbst der ehemalige Generalinspekteur Ulrich de Maiziére mußte kürzlich einräumen: "Es gibt keine unzweifelhafte Gewißheit darüber, ob und welche atomaren Entscheidungen der Präsident in einem Verteidigungsfall tatsächlich treffen wird."
Wie berechtigt diese Zweifel sind, erlebten die europäischen Bündnispartner der USA schon vor vier Jahren. Von den sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über ein Abkommen zur Verhinderung eines Atomkrieges erfuhren sie erst, als das Dokument schon unterschriftsreif vorlag.
Das Abkommen, das bei Gefahr eines nuklearen Krieges "sofortige Konsultationen" zwischen Moskau und Washington vorsieht, überlagert nach Meinung von Völkerrechtlern die in Artikel 4 und 5 des Nato-Vertrages festgelegten Beistandsverpflichtungen Amerikas. Europäische Nato-Militärs sehen darin nur einen weiteren Schritt zur nuklearen Abkoppelung der USA von Europa.
Auch beim 1972 abgeschlossenen sowjetisch-amerikanischen Abkommen über die Begrenzung der großen strategischen Atomwaffen (SALT 1) hatten die Supermächte ihre eigenen Sicherheitsinteressen über die ihrer Bündnispartner gesetzt. Ein nicht vermeidbarer Konflikt, so die Argumentation der zwei Atomriesen, dürfte keinesfalls in den für sie selbstmörderischen Nuklear-Bereich eskalieren.
Christoph Bertram, von Helmut Schmidt einst als Militärexperte in den Planungsstab des Verteidigungsministeriums geholt und heute Direktor des Instituts für strategische Studien in London, bilanziert: "Die Neigung der großen Staaten geht dahin, sich nicht festzulegen und sich nicht festlegen zu lassen. Flexibilität und politische Manövrierfähigkeit werden heute höher bewertet als feste Allianzbindungen."
Wie der "atomaren Komplizenschaft" zwischen Washington und Moskau (Ex-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger) begegnet werden kann, wissen weder Politiker und Militärs.
Außer dem Appell an die USA
Kanzler Schmidt: "Der Konsensus über die Strategie ist meiner Ansicht nach von entscheidender Bedeutung für den europäisch-amerikanischen Zusammenhalt" -- hörte man von Regierung und Opposition in Bonn bislang nur Vorschläge geringer Güteklasse, Beispiel: die deutschen Sicherheitsinteressen in vertraulichen Gesprächen mit den USA wieder stärker zur Geltung zu bringen.
Eine Kanzleramtsstudie warnt sogar eindringlich davor, den Dissens zwischen den USA und der Bundesrepublik über die Nato-Strategie und die Rolle der taktischen Nuklearwaffen einschließlich der Neutronenbombe publik zu machen. Begründung: Die weitgehende Unkenntnis der Bevölkerung auf militärstrategischem Gebiet lasse eine eher emotional geführte Diskussion und damit auch negative Auswirkungen auf das deutsch-amerikanische Verhältnis erwarten.
So gilt auch in Hans-Dietrich Genschers Auswärtigem Amt Schweigen als erste Beamtenpflicht, seit der Chef die Parole ausgab, es dürfe kein Wort des Zweifels gegen die USA laut werden. AA-Planungschef und Genscher-Vertreter Ministerialdirektor Klaus Kinkel: "Genscher achtet wahnsinnig darauf, daß nicht der geringste Knüppel in das deutsch-amerikanische Verhältnis geworfen wird."
Die Diplomaten des Vizekanzlers gehen ohnehin gern davon aus, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Sie nehmen die undeutliche Versicherung des US-Präsidenten Carter und seines Sicherheitsberaters Brzezinski für bare Münze, am Konzept der Vorne-Verteidigung habe sich nichts geändert.
Nach der optimistischen Analyse des Auswärtigen Amtes ist das Interesse der Vereinigten Staaten an Westeuropa unverändert stark, ist ein nennenswerter Isolationismus nirgendwo in den USA auszumachen. Stärkster und zuverlässigster Partner Washingtons in Westeuropa aber sei Bonn. Werde die Bundesrepublik aufgegeben, so AA-Logik, dann müsse ganz Westeuropa fallen; das aber könnten die Amerikaner niemals zulassen.
Deshalb auch wiesen die Amerika-Experten in Bonns Adenauerallee jede Vermutung zurück, daß der Bundesrepublik und Westeuropa ein ähnliches Schicksal drohen könne wie Südvietnam oder Südkorea, wo die USA ihr militärisches Engagement abgebaut haben oder stark verringern wollen. Auch Taiwan schreckt sie nicht, das in die weltpolitische Isolierung rutschte, seit die USA auf Ausgleich mit der Volksrepublik China bedacht sind.
Zu keinem dieser Länder, so die Bonner Selbstbeschwörung, hätten die USA so enge Beziehungen unterhalten wie zu Westeuropa. Und nach Herkunft und Geschichte seien die Amerikaner eigentlich ein europäisches Volk.
Hinter den Meldungen aus Washington vermuten die Diplomaten und die Außenpolitiker aus den Koalitionsfraktionen andere Motive. Es sei selbstverständlich, daß eine neue Administration zunächst einmal das politische Erbe der Vorgänger aufarbeiten müßte. SPD-Vorstandsmitglied Horst Ehmke: "Neue Leute schreiben neue Gutachten." Deren Inhalt, so vermutet Ehmke, sei gezielt in die Öffentlichkeit gebracht worden, "um die Länder Westeuropas zu höheren Verteidigungsausgaben zu veranlassen", eine Einschätzung, die in Genschers AA geteilt wird. Gerade Bonn würde sich amerikanischem Drängen nach einem höheren westdeutschen Beitrag an den Verteidigungslasten nur schwer widersetzen können. Denn so zerstritten Koalitions- und Oppositionsparteien sonst sind, daß es in der militärischen Sicherheitspolitik für Bonn keine Alternative zu den USA gibt, halten Rechte wie Linke für ausgemacht. Weder sei die Bundesrepublik alleine in der Lage, ihre Sicherheit zu gewährleisten, noch gebe es andere Partner, die Washingtons Stelle einnehmen könnten.
Als erster war sich 1969 SPD-Kanzler Willy Brandt der möglicherweise fatalen Folgen dieser Abhängigkeit bewußt geworden. Ziel seiner Politik des Ausgleichs und des Gewaltverzichts gegenüber der Sowjet-Union und den Ländern Osteuropas war nicht zuletzt, die Risiken eines Konflikts so gering wie möglich zu halten.
Es kam ihm darauf an, wie er rückblickend erläuterte, "die Konflikte zwischen den grundverschiedenen politischen Ordnungen (und den sie überwölbenden "Blöcken") ... möglicherweise ein(zu)grenzen und unter Kontrolle (zu) bringen, daß der Friede sicherer werde".
Nachfolger Helmut Schmidt -- zunächst mehr daran interessiert, ein Kontrastprogramm zu seinem oft als zu vertrauensselig verdächtigten Genossen Brandt zu bieten -- erkannte spätestens zu Beginn dieses Jahres, wie sehr gerade Bonn an einem guten Verhältnis auch zur östlichen Supermacht gelegen sein muß. Als der neugewählte US-Präsident Jimmy Carter seinen sowjetischen Gegenspieler Leonid Breschnew mit einer Menschenrechts-Kampagne in Schwierigkeiten brachte, wuchs die Gefahr einer Ost-West-Auseinandersetzung.
Mitte Juli versuchte der Kanzler deshalb in Washington, Carter zu verbaler Mäßigung gegenüber Moskau zu überreden, und gewann sein Plazet für Bonner Vorschläge, wie neben der politischen auch die militärische Konfrontation abgebaut werden könnte.
Mit der Neutronenbombe aus dem Verteidigungsdilemma?
Bisher galt die US-Doktrin, Fortschritte bei den Wiener Verhandlungen über einen beiderseitigen Truppenabbau in Mitteleuropa (MBFR) könnten erst erreicht werden, wenn sich Amerikaner und Sowjets zuvor über ein zweites Abkommen zur Begrenzung strategischer Waffen (SALT 11) geeinigt haben. Angesichts der festgefahrenen Salt-Gespräche hob Carter auf Drängen Schmidts das Junktim auf.
Nun will der Kanzler den MBFR-Durchbruch schaffen, wenn am 28. November der Sowjetführer Breschnew zu einem einwöchigen Staatsbesuch in die Bundesrepublik kommt. Sein Vorschlag: in prozentual gleichen Schritten diejenigen Truppen abzubauen, die eine noch festzulegende und annähernd paritätische Höchstmarke übersteigen.
Aus der Entwicklung der letzten Jahre haben die Bonner Regenten gelernt, daß der Abbau der politischen nicht gleichsam automatisch den Abbau der militärischen Konfrontation nach sich zieht. Denn obwohl sich die Spannungen in Europa seit 1970 erheblich verringerten, haben beide Seiten ständig die Kampfkraft ihrer Truppen erhöht.
Einen Ausweg aus dem Verteidigungsdilemma erhoffen sich Nato-Militärs vor der amerikanischen Wunderwaffe Neutronenbombe (SPIEGEL 30/1977), die verhältnismäßig geringen Sachschaden anrichtet, aber durch starke Strahlung Menschen tötet.
Der Einsatz der Neutronenbombe, so das Argument der Militärs, mache die Abschreckungsstrategie der USA glaubwürdiger. Angesichts der problematischen Verteidigung der Bundesrepublik plädieren auch Politiker, trotz moralischer Bedenken, zunehmend für die Neutronenbombe: so vergangenen Donnerstag während der Verteidigungsdebatte in Bonn.
Da aber auch die Neutronenbombe eindeutig dem Atomarsenal zuzurechnen ist, kann auch in diesem Fall nur der US-Präsident die Waffe zum Einsatz freigeben -- der Bundesrepublik bleibt nach wie vor, trotz aller Zweifel. nichts anderes, als auf den Schutz der amerikanischen Militärmacht zu hoffen. Ein AA-Diplomat fatalistisch: "Die Politik, uns darauf zu verlassen, daß uns die Amis verteidigen werden, ist alternativlos."