ATOMREAKTOREN Gewisse Routine
Helfen Sie uns, wir haben Angst" stand in der Resolution, die zwei Brunsbütteler Bürger eigenhändig auf das Gelände des Kernkraftwerks brachten. "Angst um die Zukunft unserer Kinder". Der Pförtner nahm das Schriftstück ("gegen Empfangsbescheinigung") entgegen.
Gerichtet war der Aufruf an die Mitglieder der "Reaktorsicherheitskommission (RSK), die an diesem Tage. dem 1. Juli. im Kraftwerk Brunsbüttel tagte.
Die unabhängige Experten-Kommission wollte vor Ort die Hintergründe des schwerwiegenden Reaktorzwischenfalls von 18. Juni aufklären: Drei Stunden lang war damals radioaktiver Dampf ausgeströmt -- absichtlich hatte die Bedienungsmannschaft eine automatische Sicherheitsabschaltung des Atomreaktors außer Kraft gesetzt.
Der Bericht der Sicherheitskommission, der dem SPIEGEL vorliegt, bringt ans Licht, was die gezielte Desinformationspolitik der Hamburgischen Elektrizitäts-Werke (HEW) über Wochen hin zu verschleiern suchte. Er bestätigt, "daß der Mensch immer noch das schwächste Glied in allen Regelsystemen darstellt", wie die Hamburger "Zeit" schrieb. Und er läßt erkennen, (laß die Reaktorbetriebsmannschaft offenbar einigem Druck von der Geschäftsleitung ausgesetzt war: lieber etwas weniger Sicherheit, aber keinesfalls weniger Stromproduktion.
Eine erste Reaktion auf den RSK-Report gab es letzte Woche bei den HEW. Der stellvertretende Kraftwerksleiter von Brunsbüttel und der zur Zeit des Unfalls tätige Schichtleiter wurden mit sofortiger Wirkung "von ihren Aufgaben entbunden" und auf weniger heiße Arbeitsplätze umgesetzt.
Insgesamt waren die RSK-Experten zu dem Schluß gekommen, daß den Verantwortlichen in Brunsbüttel "sowohl die Fachkunde als auch die erforderliche Zuverlässigkeit fehlt, um ein Kernkraftwerk dieser Größe in der von dem Gesetz geforderten Art und Weise zu fahren".
Am schwerwiegendsten, neben allen technischen Fehleinschätzungen, war der Entschluß der Bedienungsmannschaft. jene Automatik außer Betrieb zu setzen, die bei einem Dampfausbruch (und dem entsprechenden Überdruck) im Maschinenhaus den Reaktor abschaltet.
Fünf Tage nach dem Zwischenfall hatte HEW-Hauptabteilungsleiter Heinz Mika noch die Version verbreitet, der Schichtleiter habe nur "den Ansprechwert (der auf Überdruck reagierenden Meßfühler) leicht verändert.
Aus dem RSK-Bericht jedoch wird nun deutlich, wie zielstrebig die Betriebsmannschaft dabei vorging: Das betreffende, dreifach ausgelegte "Teilschutzsystem" wurde auf "allen drei Kanälen ... überbrückt" -- eine strikt vorschriftswidrige Maßnahme, die noch dazu wie am Schnürchen ablief.
"Die für diesen Eingriff notwendigen Schalterstellungen", so der RSK-Report, "mußten in drei verschiedenen verschlossenen Räumen und innerhalb dieser in verschlossenen Schränken. die erst geöffnet werden mußten, vorgenommen werden.
Zulässig war allenfalls, zu Prüfzwecken, das Überbrücken von jeweils einer der drei Sicherheitsschaltungen. Und obwohl sich im Schichtbuch keinerlei Eintragungen darüber finden (sondern nur in einem ominösen "Simulationsbuch"), gehen die RSK-Fachleute davon aus, daß die Brunsbütteler den Schalttrick nicht zum erstenmal angewandt hatten.
RSK-Bericht: "Die Tatsache, daß die Entscheidung und die Durchführung binnen drei Minuten nach Störfallbeginn abgeschlossen waren, läßt auf eine gewisse Routine und Vorbereitung schließen."
Die Experten fanden in den Türen der betreffenden Schaltsehränke, auf den dort angeklebten Inventarlisten, sogar noch den "handschriftlich" eingetragenen Hinweis, daß, wer den Schalttrick ausführe, sieh gefälligst sputen müsse; denn zwischen dem Ansprechen der Druck-Sensoren und der automatischen Schnellabschaltung des Reaktors blieben jeweils gerade fünf Minuten Zeit. Die Brunsbütteler waren schneller.
Daß die Brunsbütteler Bedienungsmannschaft -- trotz dreistündigem Zischen im Maschinenhaus, trotz hektischer Nachschubarbeit der Speisewasserpumpen und eindeutigen Meßwerten über angestiegene Radioaktivität im Turbinenhaus -- an der Idee festhielt, es handele sich um "inaktiven", ungefährlichen Dampf, wird von den Experten als eindeutige "Falschbewertung" an gesehen.
Den Sicherheitskommissären freilich blieb auch nicht verborgen, in welchem Maße HEW-Geschäftsinteressen solch verhängnisvolle "Falschbewertung" begünstigt haben mochte.
In einem "Zielkonflikt" habe sich die Bedienungsmannschaft befunden, wird in dem RSK-Bericht festgestellt: Einerseits liegt ihnen Betriebssicherheit und ordnungsgemäßer Betriebsablauf am Herzen -- das hätte am 18. Juni sofortige Schnellabschaltung verlangt.
Andererseits aber wußten die Brunsbütteler Techniker, daß jede weitere Schnellabschaltung für die HEW schwere finanzielle Verluste hätte bedeuten können.
Von Anfang an hatte das Kernkraftwerk Brunsbüttel "zu Schnellabschaltungen geneigt" (RSK-Bericht). 24mal war es in den ersten zwei Betriebsjahren schon zur Schnellabschaltung gekommen, davon neunmal aufgrund von fehlerhaften Meßbefunden. So hatten beispielsweise die Druck-Sensoren im Maschinenhaus schon wiederholt angesprochen, wenn starker Wind ums Kraftwerk wehte oder das Tor des Gebäudes offenstand.
Da bei jeder Schnellabschaltung in verstärktem Maße Radioaktivität in die Umwelt freigesetzt wird, hatten die Brunsbütteler mit ihrer Abschalt-Serie den für das Jahr 1978 zugelassenen Emissions-Grenzwert schon beinahe erreicht -- jede weitere Schnellabschaltung härte womöglich Stillegung des Werks und entsprechende Millionenverluste für die HEW bedeutet. Fazit der Sicherheitskommission: Die Betriebsmannschaft ... hatte den Zielkonflikt zum Nachteil der Sicherbeit und zum (vermeintlichen) Vorteil der betrieblichen Stromproduktion entschieden."
Die Rechnung freilich ging nicht auf. Bis weit in den Herbst hinein, wenn nicht für den Rest des Jahres, wird das Kernkraftwerk Brunsbüttel stilliegen -- eine Reaktor-Ruine auf Zeit, wie mehr oder weniger alle in Westdeutschland schon betriebenen Atomkraftwerke des sogenannten Siedewassertyps.
Fast alle Siedewasserreaktoren in der Bundesrepublik, von Lingen über Gundremmingen und Würgassen bis hin zu Brunsbüttel, sind "nukleare Sorgenkinder", wie die "Zeit" notierte. Und auch das bundesdeutsche Paradestück dieser Baureihe, der erst im November letzten Jahres in Betrieb genommene Atommeiler Ohu bei Landshut, liegt nun schon seit Monaten in Agonie.
Bereits im Februar war es in dem 870-MW-Reaktor zu radioaktivem Dampfausbruch. am 15. Mai sodann, zehn Tage nach dem Wieder-Anfahren, zur erneuten Stillegung gekommen. Wegen im Rohrsystem aufgetretener Risse sind längere Reparaturarbeiten nötig.
So wird die Rentabilität der Stromerzeugung mittels Atomkraft immer fragwürdiger (SPIEGEL 26/1978). Und speziell der "Störfall" in Brunsbüttel macht auch deutlich. "daß alle Risikowahrscheinlichkeitsberechnungen", wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Harald B. Schäfer formulierte, 2eine entscheidende Schwachstelle besitzen der Faktor Mensch ist in diese Überlegungen nicht mit einbezogen".
Welche Konsequenzen aus dem Brunsbüttel-Fall zu ziehen seien, ist auch in dem RSK-Bericht ein Gegenstand der Überlegung.
Zum einen erwägen die Experten weitere technische Vorkehrungen. Die Sicherheitsschaltungen müßten so verändert werden, daß sie sich nicht einfach, wie in Brunsbüttel, von Hand überbrücken lassen. Zudem sollte, um derartige Zwischenfälle genauer als bisher zu dokumentieren, in der zentralen Warte ein Magnetband mitlaufen, nach dem Vorbild des Flugschreibers in allen modernen Verkehrsmaschinen.
Zum anderen aber halten die Kommissions-Mitglieder personelle Konsequenzen für angebracht, womöglich über die beiden von der HEW jetzt beschlossenen innerbetrieblichen Versetzungen hinaus. Ein "Führungsmodell 1970" der HEW, wonach alle Verantwortung wohlweislich allein dem örtlichen Betriebsleiter zugeschoben wird, betrachten die Experten mit größter Skepsis.
"Gegebenenfalls", so lautet denn auch ein Fazit des RSK-Berichts, müsse "eine weitere Inbetriebnahme der Anlage" Brunsbüttel so lange zurückgestellt werden, "bis der Einfluß der maßgeblichen Vorstandsmitglieder und Geschäftsführer (bei den Betreibern) beseitigt ist".