Wohltäter mit Bach und braunem Zucker
Keine Büste zwischen Miederwaren, wie von Wagner in Bayreuth; nicht, wie von Karajan in Salzburg, Bunt-Porträts zwischen Leberkäs". Das Dorf Gstaad im Berner Oberland betreibt keinen Götzendienst, der Mentor seines sommerlichen Musik-Festivals läßt sich leibhaftig blicken.
Jeden Morgen, oft schon um sechs, steht Yehudi Menuhin, 60, immer noch der Welt populärster Geiger, auf dem Rasen seines alpinen Wohnsitzes für eine halbe Stunde Yoga-kopf. "Sirschasana", sagt er, "ist wichtiger als Üben".
Abends, in den letzten vier Wochen zwanzigmal, schreitet er, eines seiner fünf kostbaren Instrumente (zwei Stradivari, je eine Guarneri, Grancino, Guadagnini, Schätzwert: über vier Millionen Mark) fest an sieh gedrückt, den Hügel zur Kirche im Nachbarort Saanen hinauf. Gütig lächelt er seiner Gemeinde zu, wie der Seelenhirte, der zur Andacht einlädt -- Ouvertüre des vielleicht intimsten, gewiß kauzigsten Musikfestspiels in Europa.
Da der Pfarrer Sutter, der Hausherr der Saaner Kirche, im Gotteshaus allen Beifall verboten hat, stehen die Zuhörer jedesmal auf, wenn die Interpreten wie Konfirmanden im Gänsemarsch zum Altar gehen, der Meister voran. Am Ende einer Darbietung erhebt sieh die dankbare Gemeinde abermals, und die Spieler nicken stumm.
Manchmal wird die Erbauung rüde durchbrochen. Haut ein Einsatz nicht hin, schlägt der Dirigent Menuhin wie auf der Probe rigoros an und beginnt von neuem. Den Satz eines Vivaldi-Konzerts geigt er zweimal; beim unerwarteten Dacapo, meint er, sei er besser gewesen. Als sieh sein Schwager, der Pianist Louis Kentner, im Beethoven-Konzert böse verheddert, spielt man den ersten Satz noch mal. Solche Pannen, bei und für Karajan sicher eine Katastrophe, verzeiht Menuhin sich und den Seinen als menschliches Versagen.
Der Kirchgang zu Menuhin kostet die Oberländer Sommer-Touristen zwischen 10 und 46 Franken. Das ist viel, wenn der Hörer für immerhin 20 Franken auf der Empore nichts sieht und schlecht hört, und sicher zuviel für jenes brave Orchesterchen, das der Lehrer Menuhin aus lauter Minderjährigen seiner englischen Schule zusammengestellt hat.
Das Inkasso des heuer 20jährigen "Festivals Yehudi Menuhin", pro Konzert an die 25 000 Franken, fließt dem Verkehrsverein Gstaad zu, der davon die Organisation und die Gagen der Gäste bezahlt. Menuhin selbst macht alles umsonst, "der Musik, den lieben Menschen hier und meinen Schülern zuliebe".
Für einen solchen Wohltäter ist den Menuhin-Ergebenen vermutlich jeder Preis recht. Denn um den Geiger Menuhin geht es, in Gstaad wie weltweit, in Konzerten und auf Schallplatte, heute nur noch wenigen. Die Mehrheit seiner überalterten Zuhörerschaft vergöttert vielmehr diese Seele von Mensch, der seit Kindertagen davon träumt, "der Menschheit Friede und Versöhnung zu bringen".
Längst wird dieser Samariter denn auch nicht mehr nach den Grundgesetzen der Geigenkunst bemessen. Selbst die professionelle Kritik erspart ihm das Fegefeuer. In seinen nicht eben seltenen Formtiefs, wenn der Bogen springt oder flattert, der Ton fahl, der Rhythmus unpräzise wird, schafft Menuhin nur noch ein Nachecho auf seine einstige Perfektion. Weiß er um diesen Niedergang?
Vor ein paar Wochen hat er in der Saaner Kirche zwei Solostücke von Bach aufgenommen. "Aber ich habe nicht gespielt", gestand er mir später, "ich habe ständig auf die Kanzel geblickt und wurde gespielt. Eine höhere Macht hat mir den Bogen geführt."
Bei solcher Fernbedienung an Profanes wie reibungslosen Lagenwechsel zu denken, würden seine Jünger als Lästerung empfinden. Immer noch ist für sie Überirdisches im Spiel, das die Menuhin-Karriere von ihrer sensationellen Frühzeit her begleitet hat.
Nun hat der Geiger selbst die wohl verblüffendste Interpreten-Geschichte dieses Jahrhunderts noch einmal nacherzählt. In dieser Woche, zur Buchmesse, erscheinen Menuhins Lebenserinnerungen: "Unvollendete Reise". Mit 30 000 Exemplaren bringt Piper sie auf den deutschen Markt*.
Nicht ohne Stolz, doch durchaus uneitel zieht Menuhin Bilanz. Der Weg vom Virtuosen in kurzen Hosen zum Apostel der Menschlichkeit ist trotz reichlicher Umschweife In Familiäres und private Weltanschauungen lesenswert. Mit vier hantierte Yehudi schon so geschickt auf der Violine wie heute Erstkläßler mit Lego-Steinen. Nur einen einzigen Morgen erhielt er normalen Schulunterricht, Zeitungen durfte er nicht lesen, "nie war ich in eine Rauferei verwickelt". Doch unter der Glocke elterlicher Fürsorge gedieh das Mirakel. Bereits mit elf hatte der Junge
* Yehudi Menuhin: "Unvollendete Reise. Piperverlag, München: 462 Seiten: 38 Mark.
Terminkalender, Agenten und Anwälte. Bei der Rückkehr von seiner ersten Europa-Tournee kamen ihm die Pressephotographen schon im New Yorker Haifen entgegengetuckert.
1929, die erste Schallplatte war schon eingespielt, begann er in der überfüllten Berliner Philharmonie "meine richtige Laufbahn als Geiger": Das "durchreisende zwölfjährige Geigerlein" spielte an einem Abend Konzerte von Bach, Beethoven und Brahms. Zuhörer Albert Einstein nach dem Vortrag: "Jetzt weiß ich, daß es einen Gott im Himmel gibt."
Der beispiellose Erfolg des verhätschelten Goldjungen riß erst ab, als Menuhin im Zweiten Weltkrieg hinter der Front rastlos für musikalische Truppenbetreuung sorgte und oft dreimal am Tag mit Klassischem im Einsatz war. Da zerbrach nicht nur die 1938 geschlossene Ehe mit der rothaarigen Nola und die "Schale des Schneckenhauses, in dem ich bis dazu gesteckt hatte", sondern auch die Sicherheit auf den Saiten.
in aller Stille, do it yourself, vertiefte er sich nun in die Baupläne der Violine, wälzte er die Standardliteratur des Geigenspiels und trainierte sogar mit einem Langstreckenläufer Durchhalte-Technik. Doch die Ausstrahlung von einst begann zu verblassen, die beinahe gespenstische Sicherheit im Technischen kam nicht wieder.
Menuhin verlegte sich mehr und mehr auf Kammermusik, gründete Schulen, Festivals, Orchester, begann zu dirigieren und ließ sich, wie wohl kein zweiter der Zunft, mit Orden und Ehrendoktorhüten schmücken. Über dem ermattenden Virtuosen ging der Heiligenschein auf.
Ob Menuhin ihn so gewollt hat, läßt seine Autobiographie offen: daß er die Autorität eines Erwählten genutzt hat, gibt sie preis: "Kein Musiker darf nur dumpf vor sich hin fiedeln, wenn die Welt in Flammen steht." Als die Sowjets den Cellisten Rostropowitsch nicht ausreisen lassen wollten, telegraphierte er direkt an Breschnew: Solche Verbote würden die Entspannung bedrohen. Rostropowitsch durfte reisen. Als die USA dem US-Bürger Menuhin den Paß nicht verlängern wollten, weil ihn Schweizer Gemeinden zum Ehrenbürger ernannt hatten, schrieb er dem Außenminister Rogers, auch Churchill habe eine doppelte Staatsbürgerschaft halten dürfen. Auch Menuhin durfte.
Der polyglotte Weltbürger bevorzugt die Staatsform der konstitutionellen Monarchie und hält "den Nationalismus für eine ideologische Analogie des unausrottbaren Verbrennungsmotors". Es schert ihn nicht, daß die Juden ihm, Yehudi, das heißt "Jude", ein Wohltätigkeitskonzert für palästinensische Flüchtlingskinder verübelten. Er hat sich nie mit seinem Vater Moshe, einem kämpferischen Antizionisten, überworfen, obwohl der immerhin vor Jahren ausgerechnet die Münchner rechtsradikale "National-Zeitung" als "mein Forum" für journalistische Mitarbeit betrachtete.
"Es erfüllt mich mit Trauer", schreibt der Jude über die Juden, "daß diese vornehme Rasse sich inzwischen der Aggression in eigener Sache verschreibt, sich den gefährlichen Luxus eigener Nationalität erlaubt und mit grausamen Fehlern ihre hohen Ideale zum Markte trägt." Kanzelworte.
"Mein Mann", sagt Diana, seine Frau seit 29 Jahren, "ist kein Musiker mehr, er ist eine Institution." Er fühlt sich, ohne alle Anmaßung, als ein Stück gutes Weltgewissen.
"Die Benzinautos sind die Pest unserer Zeit", schimpft er im Fond eines Benzinautos, auf einer dreistündigen Fahrt zu einem Wohltätigkeitskonzert. Vergangene Woche wurde ihm seine in den USA gefertigte Elektro-Limousine ausgeliefert, "die erste in Europa", die nur er, so haben es die britischen Behörden bestimmt, und nur in und um London fahren darf. Will er als batteriegetriebener Solist die Pest eindämmen? "Nein, aber ich will ein Zeichen setzen."
Er raucht nicht, trinkt nicht, ißt keinen weißen Zucker, nichts aus weißem Mehl. Er ist Mitbesitzer eines Ladens für Naturprodukte in der Londoner Baker Street, wo Joghurt aus Ziegenmilch und Spülmittel ohne Chemie-Zutaten angeboten werden.
Die Welt von heute dünkt ihn "verdorben und vergiftet, in der Natur und in den Herzen". Aber er fühlt sich berufen, diesem Jammertal ein Gran Lebensqualität zurückzugeben, mit braunem Zucker und mit Weisen von Bach. Von dem Wunderkind Menuhin hat offenbar eher das Kind überlebt.