Teng: „Hauptsache, die Katze fängt Mäuse“ „Man konnte ihm kaum widerstehen“
Maos Vorfahren waren Großbauern, Tengs Vorfahren Großgrundbesitzer. Tschou En-lai stammt aus noch besserer Familie. Als Enkel eines kaiserlichen Mandarins aus einer Dynastie, die China vor 3000 Jahren regierte, konnte Tschou den proletarischen Nachweis seiner Herkunft nie führen.
Er kam in der Provinz Kiangsu, nördlich von Schanghai zur Welt; im gleichen Jahr, in dem sich die europäischen Großmächte die besten Stücke aus dem untergehenden Reich der Mitte stahlen: Tirpitz-Matrosen besetzten im Handstreich den Hafen von Kiautschou, die Russen holten sich Port Arthur, Frankreich die Bucht von Kuangtschouwan, Großbritannien den Hafen von Weihaiwei.
Was den jungen Tschou, .der bei seiner Geburt den Namen "En" (Wohlwollen) und nach der Volljährigkeit den Zusatz "lai" (kommen), also: "Von ihm möge Wohlwollen kommen", erhielt, in diesen Umbruchjahren in die Reihen rebellischer Nationalisten trieb, hat der Staatsmann und Kommunist nie berichtet. Rechtfertigung oder Selbstdeutung war nicht seine Sache.
Zur gleichen Zeit, da Lenin den Petrograder Winterpalast von seinen Rotgardisten stürmen läßt, fährt Tschou zum Studium nach Japan, zwei Jahre später ist er Mitbegründer der radikalen Jugendgruppe "Erwachsene Gesellschaft" und wird nach einer Studentendemonstration verhaftet. In der gleichen Zelle sitzt mit ihm die Schülerin Teng Jing-tschao, später seine Frau, die heute den Frauenverband leitet.
1921, im gleichen Jahr wie der Bauernsohn Mao Tse-tung, wird Tschou Mitglied der gerade gegründeten Kommunistischen Partei. Der Pekinger Bibliothekar Mao ist es auch, der dem Genossen Tschou eine billige Schiffspassage nach Europa vermittelt.
In den Renault-Werken des Pariser Vororts Boulogne-Billancourt gründet der Werkstudent eine Filiale der chinesischen KP. Er schließt Freundschaft mit den KP-Führern Thorez und Marty, besichtigt den Spiegelsaal von Versailles, in dem die Siegermächte den Frieden über das geschlagene Deutsche Reich diktierten, trampt nach London und Göttingen.
In Göttingen, wo er Geologie und Geschichte studiert, verliebt er sich in Kunigunde Staufenbiel, Hausmädchen seiner Zimmervermieter. Ein unehelicher Sohn Kuno fällt in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs als deutscher Soldat in Ostpreußen, Tschous Enkel Wilfried lebt heute in der DDR.
Bei jenen Lehr- und Wanderjahren in Europa hat der Mandarin-Sproß viel von seiner oft bestaunten Weltläufigkeit gewonnen. In der Pekinger Führung kannte er den Westen am besten, sprach Englisch und Französisch, etwas Russisch, Japanisch und Deutsch.
Es gibt wenige Zeugnisse über das persönliche Verhältnis der beiden alten großen Männer der chinesischen Revolution untereinander. Beide haben einander in der oft farbigen Beschreibung der Kampfgefährten ausgespart.
So gründliche Beobachter wie der Tschou- und Mao-Freund Edgar Snow, der beide in den Höhlen von Jenan erlebte, wissen zwar viel Amüsantes über den Rebellen Tschou zu berichten: seine schwarze Bartkrause, den abgeschabten Ledermantel, den der Politruk trug, oder das mongolische Pony, das er mit Vorliebe ritt Gespräche oder gar Diskussionen zwischen Mao und Tschou aber hat Snow offensichtlich nicht erlebt.
Die Schriftstellerin Freda Utley weiß zu rühmen: "Man konnte Tschou kaum widerstehen -- geistreich, charmant, taktvoll." Anna Luise Strong: "Er tanzt sehr kontrolliert, mit leichter Grazie."
Wichtiger als die äußere Kontenance aber scheint für Tschous Verhältnis zum Großen Steuermann gewesen zu
*Bei der Wahl des ZK 1969.
sein, daß er bei aller Loyalität nie Mao blind bewunderte. Der Volkstribun hat Tschou gebraucht, seinen Verstand sicher geschätzt, befreundet hat er sich mit dem kühlen Strategen nie.
Tschous Fähigkeit, in kollektiver Disziplin innere Freiheit zu bewahren, hat ihn nicht selten zwischen die Fronten gebracht. Das begann schon, als Tschou bereits fünf Jahre vor Mao in das Politbüro aufstieg, das den "Bauerntölpel" Mao als Häretiker bekämpfte. Ohne zu zögern, lief Tschou zu dem Geächteten über, als Mao ihn von der Richtigkeit seiner Strategie überzeugen konnte.
Der von Stalin unterstützte Kuomintang-Chef Tschiang Kai-schek, für den Tschou den Aufstand in Schanghai schürte, gab nach der Einnahme der Stadt den Befehl, den KP-Führer zusammen mit 27 000 weiteren Kommunisten zu liquidieren: Tschou und seine Frau entgingen der schon angesetzten Hinrichtung. Als 1936 der feindliche Kuomintang-Häuptling durch die Meuterei zweier seiner Generäle in Sian den Roten in die Hände fiel, war es Tschou, der Mao davon überzeugte, daß ein lebender Tschiang Kai-schek für die Einheitsfront gegen die Japaner wertvoller sei als ein Triumph über seine Leiche.
In der Kulturrevolution 1966 mußte der Regierungschef miterleben, wie Schüler die Ministerien stürmten, ausländische Botschaften in Brand steckten und seine Beamten als "Volksfeinde" durch die Straßen schleiften. Er suchte zwischen den unübersichtlichen Fronten zu vermitteln, diskutierte mit den zornigen Roten Garden, die auch seinen Namen schon in der Liste der "Schwarzen Gesellen" führten. Er lenkte einen Staat, dessen Verwaltung und Parteiorganisation es praktisch nicht mehr gab, geduldig durch die permanente Revolution.
Aber als 1968 die Sowjets über die CSSR herfielen, war es Tschous Autorität. die dem Spuk der Straßenkämpfe in China ein schnelles Ende machte. Ohne Unterstützung Maos, sogar gegen ihn, brachte der Premier das zerstörte Haus wieder in Ordnung. Er holte die verjagten Bürokraten zurück in die Ämter. allen voran den zum "Staatsfeind Nr. 2" verteufelten Teng.
Tschou war es auch, der im Jahr 1971 in nur wenigen Monaten das bereits aufgegebene diplomatische Terrain zurückeroberte. Von 45 Außenposten hatte Peking 44 abberufen, heute unterhält China zu 99 Staaten der Erde diplomatische Beziehungen.
Der Premier in der grauen Kader-Kluft wurde begehrtester Verhandlungspartner politischer Führer jeder Fasson. Er söhnte China mit Jugoslawien aus, er schützte Rumäniens Eigenständigkeit vor Moskauer Hegemonie.
Vor allem aber gab er der blockfreien Welt mit seiner Formel, daß die größte Gefahr für Freiheit und Frieden in einem Arrangement der beiden Atom-Supermächte liege, eine neue, selbstbewußte Orientierung.
Tschou hat die Amerikaner gehaßt, vor allem wegen ihres militärischen Abenteuers in Indochina. Das hinderte ihn aber nicht, mit US-Außenminister Kissinger jenen Schritt vorzubereiten, der wie kein anderer die Weltpolitik der letzten Jahre veränderte: die Annäherung zwischen Amerika und China. Gleichzeitig wurde Tschou nicht müde. Europa vor dem "Sozialimperialismus" der Kreml-Führung zu warnen.
Nicht alles dabei war eigennützige Taktik: Tschou war der erste, der die Moskauer Führer erlebte, er war wohl auch der letzte, der bei seinem Treffen mit Premier Kossygin im Jahr 1969 nach der Beerdigung von Ho Tschiminh den Versuch unternahm, den Bruderzwist im Hause Lenin zu kitten.
1923, als Tschou das erste Mal von Paris aus nach Moskau gefahren war, lebte Lenin noch, Trotzki war noch im Lande. Stalin, dessen Entschlossenheit er schätzte, Bucharin und Sinowjew waren damals seine Gesprächspartner.
Doch als er auf dem 10. Parteitag im August 1973 endlich zum Mao-Nachfolger aufstieg, war er ein todkranker Mann. Seit Mai 1974 konnte er das Krankenzimmer so gut wie nicht mehr verlassen, der Besuch weniger Staatsgäste in der dämmerigen, karg eingerichteten Kammer gehörte seither zum diplomatischen Protokoll.