UMWELT Wacht am Rhein
Wenn in den badischen Weinorten am westlichen Kaiserstuhl und in den elsässischen Nachbardörfern am jenseitigen Rheinufer die, Kirchenglocken läuten und die Feuersirenen heulen, dann wissen die Einheimischen: Im Rheinwald rückt ein Bautrupp an.
Den grenzüberschreitenden Alarmplan haben sich elf deutsche und zehn französische Umweltschutz-Bürgerinitiativen ausgedacht, deren Mitglieder und Sympathisanten seit vier Wochen ein elf Hektar großes Brachland auf der Gemarkung des elsässischen Fleckens Marckolsheim besetzt halten. Seit dem 20. September haben sich fast 7000 Bürger aus dem Oberrheintal bei der Tag- und Nachtwache schichtweise abgewechselt.
Denn auf dem Gelände, das die "Chemischen Werke München Otto Bärlocher GmbH" (CWM) -- 51 Prozent der Anteile hält CWM-Geschäftsführer Christian Rosenthal, 49 Prozent der Frankfurter Degussa-Konzern -- der Straßburger Hafenverwaltung abgekauft haben, soll ein neues Industriewerk entstehen: ein "Bleiwerk", das, so ein Protest-Flugblatt, "die Gesundheit der gesamten Bevölkerung gefährdet, die Existenzgrundlage der Landwirte zerstört".
Deshalb wird von der Baustelle aus mit Walkie-Talkies Gewährsleuten in den umliegenden Ortschaften Gefahr signalisiert, sobald in der Nähe des Terrains Bauarbeiter gesichtet werden; die Funk-Empfänger, im Bund mit Pfarrern und Feuerwehr-Kommandanten, geben die Meldung mittels Glockengeläut und Sirenengeheul an die Bevölkerung weiter. "Im Ernstfall sollen" -- so Alex Herrmann, Mittelsehullehrer für Naturwissenschaften und Sprecher der Organisation Gisem ("Groupe d'information pour la sauvegarde de l'environnement de Marckolsheim") -- "eine halbe Stunde nach dem Alarm 800 und nach zwei Stunden zweitausend Personen auf dem Platz sein.
Mit Autos und Traktoren, versteht sich; bereits beim ersten Bleialarm am 20. September hat sich das System bewährt. Die Arbeiter, die Bauzäune und Pfähle anliefern sollten, sahen sich plötzlich einigen hundert Demonstranten gegenüber und kehrten wieder um
"nach einer freundschaftlichen und vernünftigen Diskussion", wie das "International Aktionskomitee der 21 Bürgerinitiativen" berichtete.
Die 21 Gruppen hatten sich vier Wochen zuvor zum erstenmal verbündet -- bei einem gemeinsamen Sternmarsch gegen ein deutsches Projekt auf deutschem Boden, ein Kernkraftwerk im badischen Wyhl, zwei Kilometer Luftlinie vom Marckolsheimer Bleiwerks-Grund entfernt. Den Vorschlag, in deutsch-französischer Harmonie den CWM-Bauplatz und -- hei Baubeginn -- auch das Kernkraftwerks-Gelände zu besetzen, hatte damals, am 25. August, ein Elsässer Landwirt eingebracht. Und die badischen Protestler, voran Winzer, Tabakbauern und Viehzüchter, hatten eingedenk der stetigen Westwinde, die, wie sie fürchten, bei Realisierung der CWM-Pläne Bleistaub aus dem Elsaß herüberwehen würden, dem Plan sogleich zugestimmt.
CWM-Geschäftsführer Rosenthal freilich kann sich die "Feindseligkeit der Bevölkerung" nur dadurch erklären, daß sie "vorsätzlich falsch informiert wird. Das Produkt, das im Elsaß hergestellt werden soll, enthalte zwar "unter anderem auch Bleiverbindungen". Aber die Firma "garantiert eine maximale Blei-Emission in Schornsteinhöhe von zehn Milligramm je Kubikmeter Abluft". Und das sei schließlich nur ein Drittel der Menge, die in Frankreich als zulässig gilt.
Doch die Bleiwerk-Gegner lassen sich davon nicht irritieren, zumal sie in der Beschreibung der Produktionsanlage einen Rechenfehler entdeckten, den Rosenthal mittlerweile zugibt, sowie einige "falsche" oder "ungenaue" Angaben: Statt 1,464 Tonnen Bleistaub, die das Werk nach CWM-Angaben jährlich in die Luft pustet, errechnete der Arbeitskreis für Umweltschutz der Universität Freiburg einen Blei-Ausstoß von 9,138 Tonnen; selbst bei optimaler Filterleistung würden immerhin noch mindestens 3,046 Tonnen Bleistaub durch den Schornstein gehen.
So fühlen sich die CWM-Kontrahenten von der Chemie-Firma wie von den staatlichen Stellen düpiert, insbesondere vom Straßburger Präfekten Jean Sicurani, der die Baugenehmigung erteilte, obwohl elf der zwanzig Marckolsheimer Gemeinderäte dagegen waren und aus Protest zurücktraten.
Dafür wächst der Rückhalt in der Bevölkerung: Als der Präfekt Sicurani am 26. September die Pontonbrücke über den Altrhein-Arm, der hier die Grenze bildet, für badische Demonstranten sperren ließ, "blockierten unsere Leute mit etwa fünfzig Autos und zehn Schleppern den Übergang", so de! Sasbacher Winzer Wiedemann.
Der Nachtwächter, den die Baufirma zum Schutz ihrer Bauhütte abgestellt hatte, lief schon nach drei Tagen zu den Besatzern über; und die 18 000 organisierten Grenzgänger, die täglich aus dem Elsaß zu deutschen Arbeitsplätzen pendeln, haben sich mit den Bleiwerk-Gegnern solidarisiert.
Bauern versorgen die deutsch-französischen Wachtposten -- je ein badisches und elsässisches Dorf übernehmen im 24-Stunden-Turnus die Bewachung des Bauplatzes -- nut Wein und Brot. In einer Holzhütte wärmen Frauen die Speisen auf einem Propangaskocher; ein Notstrom Aggregat sorgt bei Nacht für elektrisches Licht. Ein klappriger Omnibus, den die Protestanten für 325 Francs in Colmar erstanden, dient als Nacht lager; ein provisorischer Hühnerhof, drei Hühner, ein Hahn, liefert frische Fier.
An den Wochenenden machen die "Musauer Wackes" auf dem Platz Straßentheater, und Roger Sieffert, ein elsässischer Sänger, singt Umwelt-Chansons im Dialekt, den Deutsche wie Franzosen verstehen und "in einer Mischung aus trotziger Autonomie und Unterklassensprache", wie ein Aktionsmitglied erklärt, bei der Verständigung bevorzugen. Am Fingaiig zu dem CWM-Gelände flattert ein historisch beziehungsreiches Transparent: "Deutsche und Franzosen -- die Wacht am Rhein".
Für CWM-Rosenhal freilich sind die Wächter nur "heute, die besoffen Gaudi machen". Er droht nut Regreßansprüchen ("Wir haben die Absicht, die Anstifter der Besetzung für den Zinsverhuust haftbar zu machen"), die er nut 20 000 Francs pro Monat beziffert. Hans-Helmuth Wüstenhagen hingegen, Vorsitzender des westdeutschen "Bundesverbands Bürgerinitiativen-Umwelt-Schutz e. V" (Sitz: Karlsruhe), läßt sich davon nicht bange machen: "Entweder wir dreschen nur Phrasen, oder wir müssen auch bereit sein, uns bestrafen zu hassen."
Weitere Besatzungspläne gegen Projekte mi Oberrheintal haben Wüstenhagen und seine Mitstreiter jedenfalls schon ausgetüftelt. Denn das Marckolsheimer Bleiwerk ist, wie seine Widersacher nicht zu Unrecht fürchten, nur der erste Schritt zu einem "elsässischen Ruhrgebiet":
Unmittelbar im Norden des CWM-Geländes hat der US-Konzern "Ethyl Corporation" 35 Hektar Land gekauft. Auf dem Gebiet der Gemeinde Mackenheim, dem nördlichen Anrainer von Marckolsheim, haben sich die deutschen Bayer-Werke mit Gelände eingedeckt.
Freilich, "wenn es um eine Schokoladenfabrik ginge", sagt ein Elsässer, "würden wir beim Bau sogar noch mithelfen".