FILM Sex, Blut und Trauen
Ein Oktobertag mit kräftiger Sonne
in der Emilia Romagna. In dieser fruchtbaren Bauernregion der Po-Ebene liegt, unweit von Parma und wenige Minuten von Verdis Geburtsort Roncole entfernt, inmitten weiter, dunstverhangener Felder das große Gut "Le Piacentine".
Auf einem Innenhof von der Größe eines Marktplatzes erscheint ein junger erschöpfter Soldat in schäbiger, verstaubter olivgrüner Landseruniform. Der Achtzehnjährige kommt, es ist das Jahr 1918, aus dem I. Weltkrieg zurück. Fr geht weiter zur Mitte des Hofes, wo die große Familie, die das Gut bewirtschaftet, gerade beim Dreschen ist. Während der unerwartete Heimkehrer einen Knecht und eine alle Bäuerin umarmt und kleine Mädchen um ihn herumtanzen, schlägt seine Mutter die Hände übers Gesicht und bewegt sich dann glückstrunken taumelnd rückwärts zu einer der altertümlichen Dampfdreschmaschinen, um überschwenglich deren Lokomotivpfeife zur Begrüßung ertönen zu lassen.
Bernardo Bertolucci, der Regisseur des "Letzten Tango in Paris", den Visconti das größte Talent des jungen Films nannte, dreht hier und in den umliegenden Korn- und Maisfeldern, Weinbergen Lind Dörfern seinen neuen Film "1900". Eine gewaltige "Bauern-Saga", die von der Jahrhundertwende bis in die Gegenwart reicht und bildkräftig mit Sex, Blut und Tränen, extremen Leidenschaften und sinnlicher Poesie, bourgeoiser Dekadenz, sozialistischen Ku rupfen und faschistischen Schrecken gesättigt sein wird.
Das Epos schildert die Geschichte zweier Männer, die beide am selben Tag im Jahr 1900 auf einem großen Landgut wenige Schritte voneinander enffernt geboren werden. Der eine, Olmo, ist Sohn des Bauern und Pächters, der andere, Alfredo, ist Sohn des Bürgers und Besitzers.
Der Film zeigt einen langen Sommer, in dem die beiden mit Versteckspielen, Mutproben und Fröschefangen gemeinsam ihre Kindheit verbringen. Sie machen zusammen ihre ersten sexuellen Erfahrungen, eine Freundschaft entsteht, die die späteren scharfen sozialen und politischen Konflikte überdauert. Mit acht, neun Jahren entdecken sie mit den ersten Bauernstreiks die Wirklichkeit, die sie trennt, ihnen ihre Klassenzugehörigkeit vor Augen führt.
Darauf folgt ein Sprung zum Jahr 1918, wo Olmo, der Bauernsohn, aus dem Krieg zurückkehrt; Alfredo, der Bürgersohn, war, So arrangierte es sein Vater, zu Hause geblieben. Olmo und Alfredo erneuern ihre Freundschaft, unterstützt durch spontane Anziehung Lind ihre Frauen, gemeinsame Feste und Ausschweifungen, bis der Faschismus zu herrschen beginnt.
Die Kämpfe um mehr Lohn und Selbstbestimmung, die der Bauer und Sozialist Olmo nun unter größeren Gefahren und täglich neu bestehen muß, werden von Alfredo, dem freischwebenden liberalen Bürgerlichen, zunächst gebilligt und leidlich unterstützt. Doch dann wird Alfredo durch den Tod seines Vaters Besitzer des Gutes, ihm wird, so Bertolucci, "jetzt seine Identität als Besitzer, der er treu sein muß, als eine Verurteilung bewußt". Der Klassenkonflikt zwischen Olmo und Alfredo wird blutiger Ernst, die privaten Brücken und individuellen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen haben keine Kraft mehr.
Die faschistischen Sturmtruppen terrorisieren die Emilia Romagna, unterstutzt von Geldzuwendungen der Gutsbesitzer, die den Sozialismus fürchten. Alfredo gehört nicht direkt dazu, aber er wird, indem er auf seinem Besitz einen faschistischen Verwalter das Regiment führen läßt, zum Mittäter. Sein Freund Olmo wird zum Verfolgten und taucht bei den Partisanen unter.
Für Bertolucci sind diese beiden Figuren, Olmo und Alfredo, die er mit der gleichen Anteilnahme darstellt, "ein bißchen die zwei Gesichter ein und derselben Person", Symbolfiguren "einer sozialen Dialektik, Charaktere, durch die man in das Innere des Jahrhunderts blicken kann". Die utopische Botschaft von "1900" soll sein, daß das 20. Jahrhundert "das Jahrhundert ist, in dem die Figur des Besitzers stirbt, als soziales Individuum und als soziale Tatsache".
Während der siebenundsechzigjährige Luchino Visconti in seinem neuen Film "Gruppo di famiglia in un interno" resignativ und symbolisch die Möglichkeit einer neofaschistischen Machtübernahme beschwört, vertraut der dreiunddreißigjährige Bertolucci optimistisch, und dafür soll sein Film sprechen, auf die "unverzichtbaren Eroberungen der Arbeiter-und-Bauernklasse, die für immer die Wiederkehr des Faschismus in Italien verhindern wird".
Aber auch Bertolucci. dieses ebenso naive wie intellektuelle Kino-Genie, hat einen Fluchtpunkt, der ihn weit von der monströsen Banalität der Politik und des Alltags entfernt. Er kultiviert in merkwürdiger Unschuld einen biologischen und ästhetischen Romantizismus, dessen Erfüllung er allein im Kino findet, diesem "Sodom", wo ihm jeder Skandal gerechtfertigt erscheint.
Wie beim "Letzten Tango in Paris sei er auch bei "1900" im "klassischen Trip der Notwendigkeit eines sehnsüchtigen Empfindens abgefahren". War dies im "Tango" die Sehnsucht nach Ehrlichkeit, Einfachheit und Unmittelbarkeit im erotischen Kontakt, die Suche nach einer "rein geschlechtlichen Sprache, frei von allen Rückhalten", so wird "1900" im Kern bestimmt von der "Sehnsucht nach einer archaischen Kultur" mit den Qualitäten von "Geduld, Freundlichkeit, Spitzfindigkeit, großer Vitalität und Anhänglichkeit".
Mit "1900" möchte Bertolucci sein Publikum "zur Wiederentdeckung seiner Ursprünge führen, seiner echten Wurzeln, in die Welt der Erde und Natur". Er möchte die Kamera "direkt physisch in die Felder tragen, in die Furchen, das Land, in die Dörfer, um gewisse volkstümliche Werte wieder zu entdecken, die wir, aus imperialistischen Gründen, erstickt haben". Bertolucci ist bewußt und ehrlich genug, sieh einzugestehen, daß dieser Boden-und-Bauern-Enthusiasmus aus einer "dekadenten bürgerlichen Not" kommt.
Nach dem phänomenalen Erfolg des "Letzten Tango in Paris" scheint für Bernardo Bertolucci in der Filmindustrie und als Filmkünstler alles möglich zu sein. "1900" ist das kostspieligste und ehrgeizigste Projekt in der Geschichte des europäischen Films. Die Dreharbeiten werden erst im Mai nächsten Jahres beendet sein und die Herstellungskosten sind auf sechs bis sieben Millionen Dollar veranschlagt; mehrere amerikanische Filmkonzerne stehen für Finanzierung und weltweiten Verleih gerade. Das Breitwand-Epos soll vier Stunden dauern.
Unter dem internationalen Staraufgebot befinden sich Burt Laneaster, der den alten Gutsbesitzer darstellt, Dominique Sanda und Stefania Sandrelli, die beide im "Großen Irrtum" die weiblichen Hauptrollen spielten, und aus Deutschland neben Werner Bruhns und Ellen Schwiers die Heldin von "Dorotheas Rache", Anna Henkel.
Trotz des Hollywood-Aufwands und der Investitionslast dreht Bertolucci mit faszinierender Unmittelbarkeit und Rewegungsfreiheit. Soviel Kommerz in dem Film steckt, soviel elementare Lust kommt in ihm auch zum Ausdruck. Monatelang sammelten er und sein Stab für "1900" in der Emilia historisches Bauerngut, altes Handwerkszeug, Pflüge, Spinnräder, Waagen, Heugabeln, Kleidung, Schmuck und Dokumente. Bertolucci ist spürbar ganz in diese archaische Kultur, der er ein bewegtes, kämpferisches Denkmal setzen will, eingetaucht.
Mitarbeiter nennen die kräftige Gestalt in weißen Jeans und braunen Cowboystiefeln, mit einem roten Bauerntuch um den Hals und einem abenteuerlichen Hut auf dem Kopf, den "Balzac". Es gibt wohl keinen neueren Regisseur, der auf derart intensive und präzise Weise Technik, Phantasie und Sinnlichkeit in Einklang zu bringen versteht. Filmen ist für Bertolucci "das Problem mit Räumen, Personen und Licht von höchster Präzision ein Maximum von Freiheit an Improvisation erlangen zu können".
Bertoluccis eigentümlicher Realismus ist von einem fast rauschhaften Ästhetizismus bestimmt. Er schwelgt in Details, Haaren, Kleidern und isolierten Bewegungen, vor allem aber in Licht und Farben. "Le Piacentine" hat Mauern in verwaschenen-i Altrosa und Säulen in blassem Türkis, die Dreschmaschinen sind leuchtend ziegelrot, die Dampfmaschinen rußig schwarz, dazu das Korn, ein azurblauer Himmel und tiefgrünes Weinlaub.
Immer und immer wieder wird die Szene der Heimkehr des Soldaten gedreht, immer wieder Umarmungen und Gefühlsausbrüche. Ein ganzer Tag für dreißig Sekunden Film. Wie für ein Kolossalgemälde wird die Dresch-Gemeinsehaft Stunde für Stunde neu arrangiert. Es geht im Grunde, die Darsteller machen längst alles richtig, nur noch um das Licht. Mit haushohen blütenweißen Leinensegeln und vielen silbrigen Reflektoren wird die Sonne eingefangen, gebündelt und auf die Szenerie verteilt, die in immer neuen Illuminationen gefilmt wird.
Bei aller ästhetischer Anstrengung und engagierter Darstellung "kollektiver Leidenschaften" und der "Zusammenstöße Ausgebeuteter und Ausbeuter" hat Bertolucci nicht vergessen, warum der "Letzte Tango in Paris" in so ungewöhnlichem Maß Aufsehen erregte und Zuschauer fand.
"1900" wird noch viel mehr und noch extremere sexuelle Szenen enthalten, und die meisten sind von solch einer Offenheit und Brutalität, daß selbst Freunde Bertoluccis von "zynischer Spekulation" sprechen. Die schlimmste Szene zeigt den faschistischen Verwalter und seine Geliebte bei einem abscheulichen sexuellen Exzeß und Verbrechen. Der Faschist, für Bertolucci ein Konzentrat "aller aggressiven, negativen, destruktiven Kräfte", die in den anderen Figuren des Films latent vorhanden sind, schläft wüst mit der Frau im Heu. Ein kleiner Junge kommt zufällig dazu. Der Faschist drückt das Gesicht des Jungen in das Geschlecht der Frau und "wirft sich auf ihn, als würde er ihn sodomisieren". Dann "nimmt" der Faschist die Frau "von hinten". Als der Junge weglaufen will, bekommen die beiden Angst, daß er sie verraten könnte, und der Mann schmettert den Jungen an einem Balken zu Tode.
Der ganze Film ist vollgepackt mit hitzigen Beischlafkämpfen und Aggressionen. Zwei Jugendliche masturbieren und koitieren mit einer Epileptikerin, auf Tischen und in Bewässerungsgräben wird wild gevögelt, Blusen werden zerfetzt, um volle Brüste zu greifen, Frauen langen Männern zwischen die Beine, und eine schöne Bürgerin gibt sich im Kokainrausch in Jugendstil-Dekor pornographischen Spielen hin.
Maria Schneider, seinem "Tango"-Star, der auch "1900" aufheizen sollte, hat das zu Bertoluccis Überraschung nicht gepaßt. Sie fand es einer jungen Sozialistin, die sie spielen sollte, nicht würdig, ihrem Geliebten gleich zu Beginn an die Hoden zu fassen, sich von ihm "die Titten" quetschen zu lassen und ihm dann noch jungmädchenhaft selig um den Hals zu fallen. Auch war sie nicht bereit, zusammen mit Dominique Sanda vor der Kamera mit hochgeschürztem Rock ins Gras zu pinkeln. Nach einem Streit auf "Le Piacentine" reiste Maria Schneider wieder ab. "Starallüren", ruft man ihr jetzt nach.
Bertolucci fand schnell eine andere mit viel Busen, die seinen ausgefallenen sexuellen Phantasien entspricht. "Film", so sagt er, "wird aus Skandalen gemacht, das muß man akzeptieren."