Erhard Eppler über Helmut Schelsky: „Systemüberwindung ...“ Im strengen Sinne radikal
Einer der hellhörigsten deutschen Publizisten, der sich überdies in der CDU gut auskennt, sagte mir kürzlich, dort seien alle "von Schelsky besoffen". Wer das schmale Büchlein gelesen hat, weiß, wo die höchsten Alkoholprozente stecken: nicht in der Polemik gegen C. F. von Weizsäcker wegen seines Engagements für die Ostverträge. Auch nicht in seinem Aufsatz von 1971 zum Thema Systemüberwindung, obwohl dort manche Erscheinungen treffend analysiert sind, die nicht nur Professoren zu schaffen machen. Nur: So originell war das alles schon damals nicht, und heute sieht man wohl deutlicher, daß nicht alles zusammengehört, was Schelsky zusammenbrachte. Die Forderung nach "Bildungsurlaub" zum Beispiel ist wesentlich älter als die Studentenrevolte und kommt von den Gewerkschaften, und daß eine Steuerreform, sogar wenn sie es wollte, das "System" nicht sprengen kann, wissen die Jusos besser als Schelsky.
"Besoffen" wird auch niemand von Schelskys Gedanken über "Publizistik und Gewaltenteilung". Seine Ausgangsthese: "Nicht die Pluralität der Quellen der Information garantiert in Wirklichkeit die freie Meinungsbildung, sondern die Sachlichkeitsbindung jedes einzelnen, jedenfalls wichtigen Publikationsmittels" -- diese These ist so schön und so unpraktikabel wie vieles, was er über die Medien sagt. Nur: Wer bei "Sachlichkeitsbindung" die Springerpresse nur am Rande erwähnt und gleich hinzufügt, es gebe ja das Fernsehen als Gegengewicht, muß sich fragen lassen, wo hier die Logik steckt.
Wenn Schelsky behauptet, die auf öffentlichem Monopol beruhenden Informationssysteme beschränkten "die Auswahl auf drei Knöpfe, oder -- da ja alle Sender parteipolitisch mediatisiert sind -- auf die simple Wahl, parteipolitische Informationen zu empfangen oder abzuschalten", kann man nur hinzufügen, wie froh viele Zwangskonsumenten lokaler Monopolzeitungen wären, "hätten sie diese Wahl auch in der Presse. Wenn man einmal über Schelkys Beitrag zur politischen Diskussion der siebziger Jahre sprechen wird. dann wird es allein um seinen Versuch gehen, Demokratie und Freiheit auseinanderzudividieren·. "Wenn von den Herrschenden der Vorrang "Mehr Demokratie" programmatisch verkündet wird. dann ist damit ebenso verschwiegen und uneingestanden die Hinnahme von "Weniger Freiheit' verbunden."
Das Rezept für seine Alternative zwischen "mehr Demokratie oder mehr Freiheit" ist einfach: Man reduziere Demokratie auf das Mehrheitsprinzip und stelle ihr eine Ordnung gegenüber, in der die Teilung der Gewalten den Freiheitsspielraum des Bürgers schützt. Daß dabei die Namen Rousseau und Montesquieu nicht fehlen dürfen, versteht "sich von selbst. Und dann blase man im Namen der Freiheit zum Kampf gegen die Demokratisierung.
Es ist kein Zufall, daß Schelsky mit Beispielen sehr sparsam ist. Denn sie passen nicht in sein Schema. Sicher: Das neue Betriebsverfassungsgesetz lief unter dem Stichwort Demokratisierung der Betriebe. Aber die Methode der Demokratisierung war und ist doch nicht das einfache Mehrheitsprinzip, sondern eben die Gewaltenteilung: Die Unternehmer müssen einige Kompetenzen mit andern, vor allem mit dem Betriebsrat, teilen. Wenn es bei der Mitbestimmung darum geht, ob auch Gewerkschaftsvertreter in die Aufsichtsräte gewählt werden dürfen, dann sind es die Konservativen, die gegen die "Betriebsfremden" wettern, während die Sozialdemokraten frei nach Montesquieu argumentieren: Wo organisierte Macht sei, brauche man organisierte Gegenmacht --
Wenn heute von Demokratisierung der Schule die Rede ist, versucht doch niemand, Schülern und Lehrern je eine Stimme zu geben und dann eine Vollversammlung den Direktor wählen zu lassen. Es geht doch darum, daß ein paar Kompetenzen auf die Eltern oder auf die Schüler übergehen. Dies ist exakt das Prinzip der Gewaltenteilung. das Schelsky gegen das der Demokratisierung ausspielen will.
Demokratisierung in den Kirchen bedeutet doch wohl nicht, daß in Urabstimmung über das Glaubensbekenntnis entschieden und dann Dissidenten hinausgeworfen werden sollen, sondern daß Pfarrer oder Bischof mehr als bisher ihre Aufgaben mit Leuten teilen, die von den Gemeinden dazu gewählt werden. Und die Hochschulreform besteht doch nicht darin, daß eine Studentenvollversammlung, zu der auch Professoren gnädig zugelassen sind, über Forschung und Lehre entscheidet, sondern in der Teilung der Gewalt, die bisher bei den Ordinarien lag.
Ob dies dann immer sachgemäß geschieht, ist eine andere Frage. Demokratisierung wird in jedem Bereich anderes bedeuten müssen. Aber immer bedeutet sie auch Gewaltenteilung. und die zielt auf größere Freiheitsräume für jene, die "bisher nur zu parieren hatten. Mag sein, daß dies unbequem ist für die, die bisher allein das Sagen hatten. Es kostet sie zwar nicht die Freiheit, wohl aber viel Freizeit. Doch das steht auf einem anderen Blatt.
Die Alternative: hier Freiheit durch Gewaltenteilung -- dort Unfreiheit durch Demokratisierung ist aber nicht nur falsch, sie ist für den Staat des Grundgesetzes lebensgefährlich. In Deutschland haben der Wille zur Demokratie und zur Freiheit immer zusammengehört. Beide zusammen waren nicht stark genug, einen Hitler zu verhindern. Wer beide gegeneinander auszuspielen versucht, muß von allen guten Geistern verlassen sein. Er ist im strengen Sinne radikal: Er trifft unsere Demokratie an ihrer Wurzel. In einem Land, wo das Ende der Demokratie auch das Ende der Freiheit war, sind Thesen wie die Schelskys für die parlamentarische Demokratie gefährlicher als alles, was einige Jusos vorzubringen haben. Schließlich konnte die Freiheit in Deutschland vor 40 Jahren auch deshalb abgewürgt werden, weil ein demokratischer Staat keine demokratische Gesellschaft als Basis hatte.
Schelsky rät der CDU. gegen die Forderung nach mehr Demokratie die nach mehr Freiheit zu setzen. Das haben sie inzwischen alle getan, die Strauß, Filbinger, Dregger. Und mehr: Sie erklären, sie müßten die bedrohte Freiheit gegen die bösen Demokratisierer verteidigen. Damit erst entsteht jene Polarisierung, die Schelsky beklagt. Nicht die Forderung nach mehr Demokratie polarisiert unsere Gesellschaft. sondern die abenteuerliche Alternative zwischen Demokratie und Freiheit. Denn eine Partei, die in ihrer Geschichte doch wohl etwas mehr für die Freiheit getan und gelitten hat als die Konservativen, läßt sich nicht von Herrn Strauß über Freiheit belehren.
Was Schelsky hier angerührt hat. führt dazu, daß Grundwerte des Grundgesetzes zum Streitpunkt zwischen Parteien werden. Und das ist schlicht gesagt systemsprengend. Die Antwort auf "Mehr Demokratie" müßte, wenn man das Grundgesetz ernst nimmt, doch wohl heißen: "Sachgerechte Demokratisierung". Darüber läßt sich zwischen Demokraten streiten, nicht, ob man für oder gegen Freiheit sei.
Wo der Ansatz so schief ist, kann auch im einzelnen nicht viel Gutes kommen. Nicht nur Demokratisierung, auch Politisierung ist nach Schelsky vom Übel. Die hohe Bundestagswahl-Beteiligung 1972 ist für ihn keineswegs ein Zeichen politischer Reife, sondern eine gefährliche Annäherung an "die Konfliktsteigerung wie in den totalitären Staaten". Er plädiert für die Freiheit, nicht zu wählen, als ob irgend jemand diese Freiheit antasten wollte.
Es ist auch nicht wahr, daß Politisierung und Sachlichkeit sich beißen. Wer seine 100 Versammlungen im letzten Wahlkampf hinter sich brachte, hat das Gegenteil erfahren: Gerade politisierte Wähler reagieren empfindlich auf überzogene Polemik. Die Wähler sind dabei, die Politiker zu erziehen. Daß Schelsky auch noch Demokratisierung und Politisierung in Zusammenhang bringt mit einer "Reduzierung auf Personalkult und Führerwahl", dürfte in einem Volk, das vier Adenauerwahlen und eine Erhardwahl hinter sich hat, nur ein müdes Lächeln wecken. Nein, die beiden Dinge beißen sich sogar, wie Kenner der innerparteilichen Situation in der SPD bestätigen können.
Schelsky sagt: "Ich bin kein Politiker und daher nicht zum Optimismus verpflichtet." Ich bin in seinen Augen vielleicht einer, aber auch nicht zum Optimismus verpflichtet. Der wäre wohl auch fehl am Platze. Wie muß es um eine große Partei bestellt sein, wenn sie sich an solchem Fusel besaufen kann?