VERKEHRSFLUGZEUGE / LUFTFAHRT Landung auf dem Bauch
Es war eine seltsame Prozession, die sich an einem kalten, grauen Morgen der zweiten Novemberwoche über den Abhang des Cerro de los Angeles bewegte. Auf dem Gipfel des Hügels, der sich genau im geographischen Mittelpunkt Spaniens erhebt, steht eine Christus-Statue. Am Fuße der Erhebung fiel der Padre Carlos Gonzalez Salas auf die Knie. Und auf den Knien bewegte er sich Meter für Meter mühsam durch Schlamm und über Steine bergan. Seine Begleiter, ein Verwandter und ein anderer Priester, hoben ihn hilfreich über größere Felsbrocken hinweg.
Es handelte sich aber nicht etwa um einen Büßergang nach mittelalterlichen Vorbildern: Auf dem Gipfel angelangt, erhob sich der Padre von seinen blutenden, zerfetzten Knien, um Gott für die wunderbare Errettung der Passagiere der "Pinta" zu danken. Damit war ein Gelübde erfüllt, das der Padre acht Wochen zuvor abgelegt hatte. Die "Pinta", die den Namen der winzigen Karavelle des Columbus führt, ist ein modernes viermotoriges spanisches Verkehrsflugzeug vom Typ Lockheed-"Superconstellation".
Am 24. September befand sich die "Pinta" auf dem fahrplanmäßigen Flug von Havanna nach Madrid. Als sie um 23.15 Uhr zur Zwischenlandung in Bermuda ansetzte, begann eine Kette von Ereignissen, die mit einem der dramatischsten und rätselhaftesten Unfälle der modernen Verkehrsfliegerei endete.
Die "Superconstellation" - ein Flugzeugtyp, der auch von der "Deutschen Lufthansa" auf der Transatlantik-Strecke geflogen wird - schwebte vorschriftsmäßig ein. Als aber der Kommandant, Don Fernando Bengoa, das Fahrwerk ausfahren wollte, belehrte ihn ein Blick auf die Instrumente, daß etwas nicht in Ordnung war: Das rechte Rad klemmte. Die hydraulische Anlage, die das Fahrwerk normalerweise aus den Versenkungen in den Motorgondeln heraustreibt, schien defekt zu sein.
Das war kein Grund zur Panik. In den technischen Flugdienstvorschriften eines jeden Maschinentyps stehen unter dem Stichwort "Notfälle" präzise Bestimmungen für alle derartigen Pannen. Jeder Pilot muß die erforderlichen Handgriffe im Halbschlaf beherrschen, bevor er sich hinter den Knüppel einer Verkehrsmaschine setzen darf. Regelmäßig werden seine Kenntnisse und seine Reaktionsschnelligkeit von Inspektoren seiner Fluggesellschaft überprüft.
Für den Notfall, daß das normale hydraulische System zum Ausfahren des Fahrwerkes versagt, besitzt die "Superconstellation" eine zweite unabhängige hydraulische Anlage. Sie wird mit einer Handpumpe betrieben. Auch für den Fall, daß dieses zweite Aggregat defekt wird, ist vorgesorgt: Das Fahrwerk ist so konstruiert, daß der Pilot es "hinausschütteln" kann. Er braucht die Maschine nur in einen sanften Gleitflug zu legen und dann scharf nach oben zu reißen; das Fahrwerk fällt dann durch sein Eigengewicht aus der Verschalung heraus und klinkt selbsttätig ein.
Der Kommandant der "Pinta", ein erfahrener 37jähriger Flieger, exerzierte die vorgeschriebenen Handgriffe. Er ließ die Pumpe in Betrieb nehmen, er drückte die Maschine in das Manöver des "freien Falls". Aber was immer er auch unternahm: Das rechte Fahrwerk rührte sich nicht. Selbst die guten Ratschläge des Chefpiloten der spanischen Fluggesellschaft, der sich zufällig an Bord befand, führten zu keinem Erfolg.
Sollte er eine Landung "auf einem Bein" versuchen? Sie würde unweigerlich mit einem schweren Bruch enden.
Über Sprechfunk unterrichtete Kommandant Bengoa den Kontrollturm von seiner Lage. Er machte mehrere Anflüge in geringer Höhe, damit das technische Flughafenpersonal den Bauch der Maschine im Scheinwerferlicht inspizieren konnte. Dann ging er mit der "Pinta" wieder auf Höhe.
Was sich von diesem Zeitpunkt ab in der Passagier-Kabine abspielte, schilderte später minuziös einer der 24 Fluggäste, der deutsche Schriftsteller und Forschungsreisende Wolfgang Cordan. Er befand sich auf der Rückreise von Mexiko, wo er im Urwald die Reste einer ausgedehnten Tempelstadt der Mayas entdeckt hatte. "Einige Passagiere schliefen noch", erzählte er. "Was keiner von uns wußte, waren zwei Dinge. Daß nämlich die Räder nicht ausfuhren und daß die Amerikaner (die den Flughafen auf Grund des Pacht- und Leihabkommens betreiben) mit der ihnen eigenen Entschlossenheit Rettungsversuche machten."
Der Flughafen Bermuda hatte sich über Sprechfunk mit dem Flughafen New York in Verbindung gesetzt. Die New Yorker beschafften schnell die Adressen von einigen Fahrwerk-Spezialisten der Flugzeugfabrik Lockheed. Aber es war Samstagabend. Die Lockheed-Männer machten einen Broadway-Bummel. Trotzdem wurden sie schnell aus einigen Vergnügungsetablissements gefischt. Über Sprechfunk rieten sie der Besatzung der "Pinta", die noch immer über dem Lichtermeer von Bermuda kreiste, was zu tun sei.
"Die Schläfer schraken auf, als der Boden in der Kabine aufgerissen wurde", berichtete Cordan, "zwei Bordmonteure verschwanden im Loch und ein Hämmern hob an." Allmählich wurden die Passagiere unruhig. Allen war jetzt klar, daß etwas nicht in Ordnung war. Eine junge spanische Marquesa legte zeremoniell eine schwarze Mantilla über den Scheitel und nahm ihren Säugling von fünf Monaten auf den Schoß. Andere beteten. Drei Stunden kreiste die Maschine über dem Flughafen. Cordan begann mit geschlossenen Augen Maya-Texte aufzusagen: "Ich wollte wissen, ob ich Angst hatte."
Nach vier Stunden entstiegen die Monteure dem Flugzeugbauch. Ihre Versuche, die Defekte festzustellen und zu beheben, waren vergeblich gewesen. Sie schlossen das Loch und legten pedantisch den zerschnittenen Teppich wieder darüber. Dann erschien der Kommandant und sprach zum erstenmal zu den Passagieren.
"Er sah aus wie Franco", erinnerte sich Cordan. "Und zum Sterben hatte er sich einen Orden angelegt. Auch die anderen Offiziere trugen plötzlich Auszeichnungen auf der Uniform-Brust. Die Stimme des Kommandanten war fest. Er sagte uns, daß wir eine Bauchlandung machen müßten."
Was der Kommandant den Passagieren dann erklärte, war ungewöhnlich im Vergleich zu der beruhigenden "Es kann ja nichts passieren"-Haltung, die Verkehrsflieger stets Fluggästen gegenüber zur Schau tragen. "Meines Wissens sind erst zwei Bauchlandungen mit einer solchen Maschine versucht worden", sprach Don Fernando. "Eine vor Havanna, die andere in New York. Alle starben." Aber auf einem spanischen Geröllfeld habe er vor vielen Jahren eine Bauchlandung gemacht. "Wie Sie sehen, führe ich diese Nacht das Flugzeug. Ich bitte Sie, den Anordnungen des Bordpersonals Folge zu leisten."
In diesem Augenblick erhob sich ein junger Priester von athletischer Gestalt: Padre Carlos Gonzalez Salas aus Tampico (Mexiko). Er erteilte den Passagieren mit einem "ego vos absolvo" die Absolution. Als er dann "San José" - den heiligen Joseph - anrief, war zum erstenmal Schluchzen zu hören. Nur in der Todesminute wendet sich der Spanier an den "patrón de la buena muerta", den Schutzheiligen des guten Todes.
Zu beiden Seiten der Landebahn waren inzwischen Löschfahrzeuge der Flugplatzfeuerwehr aufgefahren, wie es bei solchen Notlandungen vorgeschrieben ist. Links vier, rechts vier. Sie besprühten die Betonpiste in einer Länge von 1000 Metern dick mit Löschschaum, um von vornherein eine Funkenbildung beim Aufsetzen der Maschine unmöglich zu machen. Dann warteten sie mit laufenden Motoren auf das Einschweben der "Pinta", die inzwischen das linke Rad und ihr Bugrad wieder eingezogen hatte.
An Bord hatten die Männer die Notausstieg-Luken geöffnet. "Als der Fahrtwind wie ein Orkan durch die Maschine brauste, da saß mir zum ersten Mal die Angst in der Kehle", gesteht Cordan. Kissen, Taschen, Hüte wirbelten durch die Kabine. Jäh senkte sich der Bug der Maschine. Cordan hörte, wie ein Passagier neben ihm - ein Strahlungsforscher aus Bombay - sagte: "Ich habe von so etwas gehört. Der erste Stoß ist nichts, aber der zweite! Dann gute Nacht!" Um den Aufprall zu mildern, hatte das Bordpersonal den Passagieren Decken vor die Brust und Kissen vor die Stirn gebunden.
Mit einer unmäßig hohen Geschwindigkeit - etwa 300 km/st - setzte Kommandant Bengoa die "Pinta" auf den Bauch. 900 Meter rutschte sie kreischend und schlingernd über die Landebahn, während die Feuerlöschwagen nebenher rasten und die Maschine in eine Fontäne von Löschschaum hüllten.
"In der Türöffnung vor mir erschienen rote Lichter, die rasend wuchsen", erinnert sich Cordan an die letzten Sekunden vor dem Aufprall. "Ich zog den Kopf ein. Der Schlag, ein Krachen und Splittern, ein Gleiten. Das Prasseln von Flammen, und noch immer glitten wir. Der zweite Stoß kam nie. Vielmehr standen wir auf einmal in einer seltsamen Stille. Nur die Flammen prasselten, ein Schneesturm brach durch die Öffnungen, die Welt wurde ein goldenes Gewoge aus Schnee und Feuer, die Stewardess rief, man solle die Augen vor dem ätzenden Schaum schützen, wir preßten uns Kissen vor das Gesicht. Draußen schrien englische Kommandostimmen. Wir machten unsere Riemen los und standen auf. Dann gab es eine kleine Explosion, die Nase des Flugzeuges brach zusammen, wir wurden durcheinander geworfen. Irgendwoher kam der Befehl zum Aussteigen. Die Flammen bei den Backbordmotoren waren stärker geworden. Und in dem Moment war die bewußte Angst wieder da - jetzt noch verbrennen!"
Die Passagiere drängten sich durch die Notausstiege ins Freie. Cordan verfehlte die aus der Maschine heraushängende Strickleiter und stürzte durch Schaumwolken in die Arme eines riesigen Negers.
Keiner der Männer und Frauen an Bord der "Pinta" hatte sich verletzt, und die Fluggesellschaft, die "Iberia", tat alles, damit die Passagiere den Schock im Luxus des Millionärparadieses Bermuda vergessen konnten: An den vorsorglich aufgebauten Tragbahren vorbei wurden sie zu Sekt, Whisky und Kaffee ins Grand Hotel geführt. "Es war wie in amerikanischen Filmen", sagt Cordan, "wo die Toten lächelnd aus den rauchenden Trümmern einer Katastrophe steigen." Zwei Tage lang - bis zum Weiterflug mit einer Ersatzmaschine - traktierte die "Iberia" ihre Passagiere mit den erlesensten Vergnügungen. Es gab Soupers, Parties, Exkursionen und sogar Haifischjagden.
Die viermotorige Maschine hatte - wie eine technische Kommission sogleich nach der Notlandung feststellte - "nur geringfügige Schäden" erlitten. Erst später wurde sie bei dem Versuch zerstört, sie nach einem neuen System mittels aufblasbarer Gummihüllen aufzubocken.
Gehen Bauchlandungen moderner schwerer Verkehrsmaschinen immer so gut aus, oder enden sie oft wie in den beiden Fällen, von denen der "Pinta"-Kommandant den Passagieren berichtete? Den Lockheed-Leuten ist unklar, welche Unglücke der spanische Kommandant meinte. Sie kennen einige Fälle, in denen "Superconstellations" auf dem Bauch landeten. Aber niemals sind dabei Passagiere ums Leben gekommen.
So mußte am 3. August des vergangenen Jahres ein Kommandant der "Air-France" eine "Superconstellation" in der Nähe von New York auf den Bauch setzen - aber nicht weil irgendwelche mechanischen Defekte ihn dazu zwangen, sondern weil er sich verkalkuliert hatte. Er hatte wegen starken Gegenwindes ungewöhnlich viel Benzin verbraucht, bei seinem Anflug auf New York den Flughafen aber nicht über seine geringen Reservevorräte unterrichtet. Als er nicht sogleich Lande-Erlaubnis bekam, bat er höflich um die Benennung eines Ausweichflughafens. Die New Yorker schickten ihn nach dem 250 km entfernten Boston. Unterwegs blieben ihm plötzlich die Motoren stehen, und er hatte keine Wahl, als die Maschine dort zu landen, wo sie sich gerade befand: Er setzte sie auf einen Acker.
Für einen solchen Notfall ist die Bauchlandung sogar vorgeschrieben. Das Fahrwerk würde sich in den weichen Boden bohren, und die Maschine könnte sich dann überschlagen. Auf dem stabilen Metallrumpf rutscht sie verhältnismäßig glatt über den Boden. Die Passagiere des "Air-France"-Flugzeuges blieben denn auch unverletzt, nur der Pilot brach sich ein Bein.
Nach Ansicht des Lockheed-Vertreters Charles Kamman, der die "Superconstellations" bei der "Deutschen Lufthansa" in Hamburg betreut, muß eine Bauchlandung "fast unweigerlich" gut ablaufen. Auch die von den Lockheed-Werken herausgegebene technische Flugdienstvorschrift der "Superconstellation" versichert dem Piloten: "Es ist möglich, dieses Flugzeug im Notfall mit eingezogenem Fahrwerk zu landen, ohne es ernsthaft zu beschädigen."
Charles Kamman, der zeitweilig einer Lockheed-Untersuchungskommission für Flugzeugunfälle angehörte, hat in Amerika mehrere Fälle erlebt, bei denen bauchgelandete Maschinen vom etwas kleineren Typ "Constellation", dem Vorläufer der "Superconstellation", am nächsten Tag wieder einsatzbereit waren. "Selbst die Rumpf-Unterseite wurde nur aus Schönheitsgründen ausgebeult, die Flugfähigkeit wurde durch die Beulen nicht beeinträchtigt."
Bis zum Unfall der "Pinta" hatte noch kein Flugzeug der "Constellation"-Muster wegen eines mechanischen Defektes bauchlanden müssen, fast stets war es unerklärliches, unwahrscheinliches menschliches Versagen, in der englischen Fachsprache "pilot's error" (Irrtum des Piloten) genannt. So landete 1945 einmal ein amerikanischer Pilot eine "Constellation" - auch für ihn überraschend - auf dem Bauch, weil er es versäumt hatte, das Fahrwerk auszufahren (obwohl ihm, wie in jeder Maschine, ein Horn bei Erreichen der Landegeschwindigkeit automatisch durch laute Huptöne anzeigte, daß das Fahrwerk nicht ausgefahren war).
In der Nacht des 18. Dezember 1954 landete eine "Superconstellation" der "Trans-Canada Airlines" versehentlich auf dem Bauch, weil der Pilot seine Position falsch bestimmt hatte. Er machte einen vorbildlichen Anflug auf den Flughafen von Toronto - nur befand er sich nicht in der Einflugschneise des Flughafens, sondern noch 15 km weit ab. Da der Boden dort wesentlich höher über dem Meeresspiegel lag als die Landebahn des Flughafens, schlitterte die Maschine unversehens über einen Hügel. In beiden Fällen entstiegen die Passagiere unverletzt den zerbeulten Flugzeugen.
Die Ursachen dieser Bauchlandungen konnten von den Lockheed-Experten aufgeklärt werden. Die Untersuchung des "Pinta"-Unfalls ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Bevor die Maschine beim Bergungsversuch zerstört wurde, hatten Techniker der Lockheed-Werke Gelegenheit, die Fahrwerkanlagen genauestens zu untersuchen. Sie konnten keine Anzeichen für ein mechanisches Versagen der Aggregate finden. Die Hydraulik-Anlagen funktionierten seltsamerweise, und so ist bis heute ungeklärt, warum das Fahrwerk der "Pinta" in jener Septembernacht über Bermuda nicht ausgefahren werden konnte. "Der Unfall der 'Pinta'", meint Lockheed-Spezialist Kamman, "ist ein Beispiel für das eine Prozent Schwierigkeiten, das bei allen Verkehrsmitteln auftreten kann."
Während die Experten der Flugzeugfabrik und die Sachverständigen der "Iberia"-Fluggesellschaft noch über den Berichten ihrer Untersuchungskommissionen brüteten, bestieg Padre Carlos Gonzalez Salas in Salamanca, wo er an der Universidad Pontifica studiert, einen Zug nach Madrid. Dort mietete er sich einen Wagen, der ihn und zwei Begleiter zu dem 15 Kilometer südlich von Madrid gelegenen Hügel Cerro de los Angeles brachte.
In den letzten Minuten an Bord der "Pinta" hatte er gelobt, den Hügel auf den Knien hinaufzupilgern, wenn die Passagiere die Notlandung überleben sollten. Als sich der Padre nach Erfüllung des Gelübdes auf der Hügelkuppe erhob, sagte er zu seinen Begleitern schlicht: "Ich bin sehr glücklich!"