CLIBURN In einem anderen Land
Die Ausstattung des jungen Amerikainers, der mit hochgestecktem Ziel nach Moskau reiste, bestand im wesentlichen aus einem Abendanzug, einem Frackhemd, einem geborgten Kragen, einem grauen Sweater, einer zerlesenen Bibel, einer Menge Vitamintabletten und bedeutendem musikalischen Talent: Van Cliburn, damals 23, gewann am 13. April 1958 den ersten Preis im ersten internationalen Tschaikowski-Klavier-Wettbewerb.
Kaum einer unter zehntausend Amerikanern hatte bis dahin von einem Nachwuchs-Pianisten namens Cliburn gehört. Über Nacht wurde er für seine Landsleute "unser Van"; Millionen Russen kennen ihn unter dem Kosenamen "Wanjuschka". Cliburns - durchaus noch nicht abgeschlossene - Geschichte erzählt ein jetzt erschienenes Buch von Abram Chasins: "The Van Cliburn Legend" (Die Van Cliburn-Legende)*. Der Autor ist Musikkritiker, Pianist, Komponist und seit 1943 Musikleiter des - auf privatkommerzieller Basis arbeitenden - Rundfunksenders der "New York Times" (WQXR).
Cliburn, in Louisiana geboren und in Texas aufgewachsen, langbeinig und blondmähnig, ist strenggläubiger Baptist und überläßt der Gemeinde 20 Prozent seines Einkommens. Als die Orgel der Calvary Church - diese Kirche besucht Cliburn seit seiner Übersiedlung nach New York
- den Dienst versagte, nahm er ein Bankdarlehen auf und stiftete als Ersatz einen Steinway-Flügel; für das Geld hätte er den ersehnten Cadillac haben können.
Der Musiker Cliburn eroberte Rußland mit einem Schlag, nachdem er in den USA trotz ungewöhnlicher Anfangserfolge kaltgestellt worden war. Er spielte in Moskau Tschaikowskis Konzert Nr. 1 und Rachmaninows Konzert Nr. 3; Swjiatoslaw Richter, den die Russen heute als einen ihrer besten Pianisten ansehen, nannte den Gast daraufhin "ein Genie - ein Wort, das ich auf Interpreten nicht leicht anwende". Der sowjetarmenische Komponist Chatschaturjan (Ballet "Gajaneh") urteilte,
Cliburn sei "besser als Rachmaninow - man findet einen solchen Virtuosen nur ein- oder zweimal in hundert Jahren". Starkomponist Schostakowitsch ("Leningrader Symphonie") versuchte, den Amerikaner als russische Entdeckung zu reklamieren und erklärte, Cliburn habe "weite und verdiente Anerkennung erst hier bei uns in Moskau gefunden".
In der Tat kreierten in diesem Falle die Sowjetrussen einen Star, an dem das kapitalistische Amerika kaum rechte Entdeckerfreude zu demonstrieren vermochte. Van Cliburn hatte zwar schon eine Reihe amerikanischer Preise gewonnen, auch brachte ihm sein Sieg im renommierten Leventritt-Wettbewerb für jungePianisten und Streicher 1954 zunächst einträgliche Engagements und finanzielle Unabhängigkeit - aber der Aufwind flaute schnell ab. "Molto rallentando" (Verlangsamung), wie Autor Chasins es nach der Musik-Terminologie bezeichnet, war zu konstatieren: Van Cliburn wurde, wie manche vor ihm, Opfer des amerikanischen Kulturbetriebs.
Biograph Chasins erklärt: "Zwar haben die Russen Van Cliburn nicht ,entdeckt', aber sie begrüßten enthusiastisch, was unsere Nation gleichgültig läßt und was sie leichten Herzens aufgibt-sie schätzen, was wir ignorieren. Es ist eine traurige Wahrheit, daß zu Beginn des Frühjahrs 1958 Cliburns Karriere fast zum Stillstand gekommen war ... Seine große Begabung drohte an unserer publicitysüchtigen Abgebrühtheit zu scheitern."
Zwei Konzertagenturen betreuen ungefähr 90 Prozent aller ausübenden Künstler in den Vereinigten Staaten: Columbia Artists Management und National Artists Corporation. Sie haben Tochtergesellschaften, die in 1200 Städten Abonnements-Konzerte veranstalten. Um Abonnenten anzulocken, werden für das eine oder andere Konzert Kassenmagneten verpflichtet und auch hoch bezahlt - im übrigen muß die Serie von billigen "Füllern" bestritten werden. Abwechslung ist die Würze dieses Systems. Deshalb engagieren die Veranstalter nicht gern zweimal namenlose Künstler: Die Unbekannten könnten bekannt werden, sich ein Publikum schaffen, höhere Forderungen stellen und die Rentabilität des Betriebs gefährden.
Van Cliburn, dem es mit Hilfe geschickter Manager zunächst gelungen war, den Konzertagenturen zu entgehen, hatte bereits 1957 monatelang keine Engagements. Da kam seiner - russischen - Klavierlehrerin ein Prospekt über den Moskauer Wettbewerb in die Hände. Sie ermutigte Cliburn, sich zu beteiligen: Sein großer romantischer Stil, meinte sie, müsse den Russen imponieren.
Freunde rieten ab - die Russen würden einem Amerikaner niemals den Preis geben. Er hörte nicht darauf; eine Spiritistin hatte ihm Monate zuvor prophezeit, er werde "in einem agrarischen Lande eine Goldmünze gewinnen". Cliburn übte zehn Stunden täglich. Nach Konzerten in Ohio und Michigan wurde er schwer krank, kostbare Übungswochen gingen verloren.
Das State Department zeigte sich dem Reiseplan gegenüber konziliant, steuerte aber zu den Kosten nichts bei. Cliburn hatte in Moskau schon in den Ausscheidungskonzerten großen Erfolg - er spielte Bach, Mozart und Chopin. Zur Abschlußveranstaltung erschienen auch Botschafter Llewellyn Thompson und Gattin; der Vertreter Amerikas hatte ursprünglich fernbleiben wollen.
Cliburn, Sieger über 47 Konkurrenten, erhielt die goldene Tschaikowski-Medaille und 25 000 Rubel (gut 26 000 Mark); die Hälfte dieses Betrags durfte er zum offiziellen Kurswert ausführen. Mit großer Geste offerierte Van Cliburn den Betrag der Rockefeller-Musik-Stiftung, einer philanthropischen Organisation, die seine Rußlandreise mitfinanziert hatte. Die Annahme wurde großzügig verweigert, und Cliburn überließ das Geld der Stadt New York.
Das vorläufige gute Ende der Cliburn-Legende: Die alte belgische Königin Elisabeth lud den Preisträger ein, auf der Brüsseler Weltausstellung zu spielen; Impresario Sol Hurok, der ihn früher übersehen hatte, versuchte - erfolglos - Cliburns habhaft zu werden; der Fernsehkönig Sullivan machte Avancen; Columbia Artists Management erreichte, daß der Moskauer Dirigent Kiril Kondrashin in die Vereinigten Staaten kam und mit Cliburn das Moskauer Preiskonzert in New York, Philadelphia und Washington wiederholte.
Die Gagen schnellten in die Höhe; Cliburn kassierte jetzt pro Konzert 2500 Dollar; die üblichen Ehrungen des "Success" wurden ihm zuteil: Papierschlangen-Parade am unteren Broadway, Begrüßung durch Bürgermeister Wagner, Bankette, Empfang im Weißen Haus.
Eis fehlt aber auch nicht an Warnungen ernsthafter Kritiker. Der "New Yorker" äußerte sich besorgt über die "sputnikartige Karriere" Cliburns, der ein zu kleines Repertoire habe: "Er ist mit der Ausbeutung seines phänomenalen artistischen Könnens in zwei oder drei Konzerten so ausgelastet, daß er offensichtlich keine Zeit hat, sich einmal zurückzuziehen und die umfangreiche Klavier-Literatur zu studieren - die er letzten Endes meistern muß, will er einen Platz unter den großen Pianisten unserer Zeit einnehmen."
* Abram Chasins und Villa Stiles: The Van
Cliburn Legend". Doubleday & Company, Garden City, New York; 240 Selten; 3,95 Dollar.
Sowjetbotschafter Menschikow, Kulturrats-Gottin Krylow, Cliburn: Wie ein Sputnik