AUTOMATION Die Roboter von Hüls
Die deutsche Apparatebau-Industrie hinkt nicht mehr hinter der amerikanischen Konkurrenz her; sie hat den technischen Vorsprung ziemlich aufgeholt, den die großen amerikanischen Konzerne jahrelang mit ihren raffinierten Elektronenrobotern und Steuermechanismen behaupteten.
Vor wenigen Tagen wurde in den Chemischen Werken Hüls in Marl bei Recklinghausen eine Steuerungsanlage in Betrieb genommen, auf die man in den Konstruktionsbüros der Aktiengesellschaften Siemens in Erlangen und Eckardt in Stuttgart-Bad Cannstatt sehr stolz ist. Diese Anlage wird vorläufig noch wie ein Betriebsgeheimnis gehütet. Sie gilt zur Zeit als Spitzenleistung deutscher Steuer- und Reglertechnik und dirigiert eine ganze Produktionsabteilung: die Azetylenoxyd -Fabrik.
Nicht weit davon entfernt arbeitet bereits seit sechs Monaten ein ähnlicher Roboter. Er lenkt den Produktionsbedarf der Acrylnitril-Fabrik, die einen Ausgangsstoff für synthetische Fasern herstellt. Auf einer großen Wandtafel an der Längsseite des Steuerstandes, die in schematischer Form die ganze Produktionsanlage widerspiegelt zeigen farbige Linien den Verlauf der Acrylnitril-Erzeugung an. Zwei Techniker beobachten ein Schaltpult, hinter ihnen sitzt der Hauptkontrolleur. Das ist die ganze Belegschaft; sie macht sich nicht mehr die Hände schmutzig. In der eigentlichen Fabrik, einem Gewirr von Aggregaten, arbeitet nicht ein einziger Mann.
Nur wenn an einem Punkt der Tafel rotes Licht aufleuchtet und zugleich ein Klingelzeichen ertönt, springen die beiden Techniker auf. Rotlicht und Läuten bedeuten, daß in der Produktionsanlage etwas nicht in Ordnung ist. Auch der kleinste Fehler im Produktionsbetrieb - zu hohe Temperatur, zu geringer Zufluß eines Zusatzstoffes - wird sofort signalisiert. Dann suchen die Männer durch die Betätigung von Wählerscheiben den Fehlerherd und drosseln entweder die Temperatur oder regulieren den Zufluß.
Aber beide Prunkstücke der Automation in Marl sollen sehr bald von einer dritten weit größeren automatischen Fabrik übertroffen werden, die an der neuen Werkstraße 2020 des Chemischen Werkes in Marl entsteht - von der neuen Buna -Fabrik. Die Kosten für den Aufbau dieses modernsten Synthese-Kautschuk-Betriebes sind so hoch (etwa 112 Millionen Mark), daß sich die Chemischen Werke Hüls mit den drei anderen großen Nachfolgegesellschaften des entflochtenen IG-Farbenkonzerns wieder zusammenfanden und eine neue Gemeinschaftsfirma gründeten, die Buna-GmbH*.
Für den Buna-Produktionsbetrieb werden nur etwa 100 Mann benötigt. Außerdem will die Buna-GmbH noch etwa 300 Angestellte und Hilfsarbeiter in Nebenabteilungen beschäftigen. Auf den Kopf der produktiven Fabrikarbeiter berechnet, muß die Gesellschaft also 1,12 Millionen Mark je Arbeitsplatz investieren (bisher wandte die chemische Industrie nur 30 000 bis 50 000 Mark für die Einrichtung eines Arbeitsplatzes auf). Um in diesem Jahr noch weitere Steuerungsmechanismen anschaffen zu können, wollen die Chemischen Werke Hüls eine Industrie-Anleihe von 40 Millionen Mark emittieren.
Die Direktion forciert die Automation aus zwei Gründen: Sie will die Arbeitskräfte-Lücke schließen (es fehlen etwa 350 Facharbeiter), aber mehr noch drängt es den Vorsitzenden des Vorstandes, Professor Dr. phil. nat. Paul Baumann, 58, die wenigen deutschen Firmen, die automatische Steuerungsapparate herstellen, rechtzeitig mit Aufträgen einzudecken. "Jetzt sind die Spezialfirmen noch nicht überbeschäftigt", sagt man in der Direktion der Chemischen Werke, "in einem halben Jahr kann sich das entscheidend ändern. Inzwischen werden auch andere Großbetriebe immer mehr zur Automatisierung übergehen und Steuerungsapparaturen bestellen. Wir haben uns den Vorgriff gesichert."
Die hohen Investitionskosten setzen der zweiten industriellen Revolution, die jetzt auch in Westdeutschland vordringt, natürliche Grenzen. Die Umstellung der Produktionsanlagen lohnt sich nur in den Industriezweigen, deren Standard-Produkte im kontinuierlichen Verfahren hergestellt und in großen Mengen abgesetzt werden können. Automationsreif sind deshalb in erster Linie: die chemische Grundstoffindustrie, die Vorprodukte erzeugt, und die Ölraffinerien (sie sind bereits größtenteils mit halb- oder vollautomatischen Apparaturen ausgerüstet), ferner Zementwerke, Glas-, Kartonagen- und Maschinenfabriken, Brauereien, Spinnereien und Webereien sowie ein großer Teil des Bürobetriebes. In 30 Prozent aller Industriebetriebe könnte der Produktionsprozeß - nach Ansicht der Automationsfachleute - mit modernen elektronischen und hydraulischen Steuerungsanlagen gelenkt werden.
* An dieser Gesellschaft sind die Chemischen Werke Hüls AG zu 50 Prozent und die drei IG -Farbennachfolger, die Farbenfabriken Bayer Leverkusen, die Farbwerke Hoechst und die Badischen Anilin und Sodafabriken, zu je 16 2/3 Prozent beteiligt.
Steuerungsmechanismus der Acrylnitril-Fabrik in Marl: Nur drei Mann Belegschaft