STAATSRAT Der Würdigste
Mit der Akkuratesse, die langjährige Übung verleiht, schnellten die 337 anwesenden Abgeordneten der DDR -Volkskammer von ihren Sitzen und rührten ihre Hände zum Applaus erster Güte. Ministerpräsident Otto Grotewohl beugte sich, melancholisch lächelnd, vor und reichte dem Ersten Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands die Hand:
Walter Ulbricht - Volkskammer-Präsident Dieckmann: "der Würdigste unter uns" - war einstimmig zum Vorsitzenden des eben durch Akklamation geschaffenen Staatsrats der Deutschen Demokratischen Republik gewählt.
Zur optischen Anreicherung des Ereignisses hielt die effektkundige Regie des Weiheaktes drei Mädchen und einen Knaben aus den blaubetuchten Reihen der Jungen Pioniere bereit. Berichtete das SED-Pflichtblatt "Neues Deutschland" anderntags: "Ein kleines Mädchen überreichte dem Vorsitzenden des Staatsrats einen Strauß roter Nelken. Walter Ulbricht dankt ihr mit einem Kuß auf die Stirn, der allen Kindern unserer Republik gilt, deren glückliche Zukunft unser Staat in sorgliche Hände genommen hat."
Nach dieser gemütsbewegenden Unterbrechung des Wahlaktes beförderten die Volkskammer - Abgeordneten "unter nicht endenwollendem Beifall" (Neues Deutschland") und ohne Debatte die restlichen 23 Kandidaten auf die Sessel des Staatsrats: Für die sechs Stellvertreter des Vorsitzenden - darunter auch Otto Grotewohl - erhoben sie sich von den Plätzen, für die 17 übrigen Rats-Mitglieder genügte ihnen das Aufheben der Hand.
Alsdann trat der mit den Attributen bürgerlicher Festgewandung - schwarzer Anzug, weißes Hemd, silbergraue Krawatte - angetane Spitzbart-Proletarier vor die Mikrophone und sprach den Eid. Die Schlußformel "Ich schwöre es" fügte er jedoch erst hinzu, nachdem ihn ein hilfreich herbeieilender Genosse flüsternd auf die Unterlassung aufmerksam gemacht hatte.
Kleine Schönheitsfehler dieser Art waren angesichts der Eile verzeihlich, mit der das Politbüro der SED zwei Tage nach der Einäscherung des ersten und einzigen DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck der deutschen Arbeiter- und Bauern -Macht eine neue Staatsspitze zu schaffen bemüht war: Die Volkskammer ersetzte im Wege einer Verfassungsänderung die Institution des Staatspräsidenten durch einen Staatsrat und stattete diesen von
Ulbricht beherrschten Apparat mit weitreichenden Sondervollmachten aus. Mit ihrer Hilfe kann der durch seinen Vorsitzenden repräsentierte Staatsrat
- Gesetze allgemeinverbindlich auslegen und
- Beschlüsse mit Gesetzeskraft verkünden.
In beiden Fällen bedarf Ulbricht nun nicht mehr der - auch bisher nur formellen - Zustimmung der Volkskammer.
Obwohl Ulbricht nicht Ministerpräsident und damit formal auch nicht Chef der staatlichen Exekutive - wie etwa Chruschtschow in der Sowjet-Union -
ist, hat der SED-Parteiführer ein Amt erlangt, das ihn, gemeinsam mit seinen anderen Funktionen, zum Diktator macht. Ulbricht ist jetzt:
- Vorsitzender des Staatsrats der DDR
und damit faktisch Staatspräsident;
- Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrats und somit de-facto-Befehlshaber der Volksarmee;
- Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees und mithin Staatspartei-Chef.
Die Ämterfülle, die sich der stets geschickt vor dem Moskauer Wind segelnde Altkommunist als Ausdruck seiner Macht verschafft hat, ist selbst im Vergleich zu den zentralistischen Staatsapparaten der übrigen Ostblockländer außergewöhnlich und nur noch den absolutistischen Herrscherbefugnissen verflossener und gegenwärtiger faschistischer Diktatoren vergleichbar.
Tatsächlich hat Ulbricht mit der Bildung des Staatsrats die Verfassung der DDR nur äußerlich dem Beispiel der übrigen Ostblockländer angenähert.
In der Sowjet-Union, in Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, Ungarn, in Nordkorea und in der Mongolei nehmen die Vorsitzenden der "Staatsräte" oder "Präsidien" die Stellung des Staatsoberhaupts ein. Ausnahmen bilden die Tschechoslowakei, deren neue, "sozialistische" Verfassung von 1960 ausdrücklich das Amt eines Staatspräsidentenvorsieht, China, dessen Staatsoberhaupt sich "Vorsitzender der Volksrepublik" nennt, und Vietnam, das bislang das Präsidenten-Amt beibehalten hat.
Während aber in fast allen dieser Länder Funktionäre der zweiten Garnitur das politisch meist einflußlose Amt des Staatsoberhaupts versehen, hat Ulbricht die Funktionen des ersten Mannes im Staate mit denen des mächtigsten verbunden. Die Ausstattung des DDR -Staatsrats mit Gesetzgebungsbefugnis bedeutet nichts anderes, als daß der sonst auch in Ostblock-Staaten aufrechterhaltene Anschein demokratischer Regierungsform in der DDR zugunsten der offenen Diktatur aufgegeben worden ist.
* Von links: Ostberlin-Oberbürgermeister Friedrich Ebert, SED-Politbüro-Mitglied Hermann Matern, DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl.
Ulbricht, Genossen* am Sarge Piecks: Alle Macht dem Sekretär