OSTBLOCK / FÜHRUNGSKRISE Nix Druschba
Zum zweiten Male in seiner Laufbahn als amtierender Chef der Weltrevolution sah sich Nikita Sergejewitsch Chruschtschow gezwungen, der zunehmenden Verwirrung innerhalb der kommunistischen Parteien mit dem Versand eines umfänglichen Memorandums zu begegnen.
Diese Methode hatte sich schon, einmal vor vier Jahren bewährt. Damals erhielten die kommunistischen Parteiführungen den Text der Chruschtschowschen Geheim-Rede vom XX. Parteitag, in der er mit dem "Personenkult" Stalins abgerechnet hatte, um der partei-internen Gerüchtemacherei zu begegnen.
Auch diesmal handelte es sich um den Wortlaut einer ideologisch hochbrisanten Rede, die Chruschtschow über den Kurierdienst des Zentralkomitees der KPdSU an die kommunistischen Politbüros (außerhalb Chinas) ausliefern ließ. Während sich das öffentliche Interesse auf den Moskauer Prozeß gegen den amerikanischen U-2 -Piloten Powers richtete, fanden die Spitzenfunktionäre zwischen Warschau und Havana Muße, nun sich die bis dahin geheimgehaltenen Teile jener Ansprache zu studieren, die der Sowjetboß im Juni auf dem rumänischen KP -Kongreß wider die Aufsässigkeit der Peking-Chinesen gehalten hatte. Das vertrauliche Schriftstück, ein dokumentarischer Beweis für jene sowjetisch chinesischen Reibereien, die seit Monaten die Kreml-Auguren des Westens beschäftigen, gelangte ein wenig später auch in den Besitz der westlichen Geheimdienste.
Chruschtschow hatte seinen Auftritt in Bukarest (SPIEGEL 28/1960) dazu benutzt, den Chinesen "linkes Sektierertum" und eine Verfälschung der Lehren Lenins vorzuwerfen, weil Mao Tsetungs Ideologen entgegen der sowjetischen Lehre behauptet hatten, Kriege seien nicht nur unvermeidlich, sondern zum Sieg der kommunistischen Weltrevolution geradezu erforderlich.
Die chinesischen Partei-Blätter reagierten auf die Rüge des sowjetischen Parteichefs mit scharfen Ausfällen und ziehen Chruschtschow - kühn des "Rechtsopportunismus". Das sowjetische Regierungsblatt "Iswestija" schoß zurück:
"Toren und Dogmatiker haben aus der internationalen Lage völlig absurde Schlüsse gezogen."
Die Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Pekinggerieten dann rasch
aus dem Stadium der Theorie in das der Praxis:
- An der Nordwestgrenze der Mandschurei kam es Anfang August zu einem Gefecht zwischen chinesischen und sowjetischen Truppen.
- Die Sowjet-Union zog ihre Spezialisten aus China zurück, die dort erste Hilfe bei der Industrialisierung geleistet hatten (SPIEGEL 36/1960).
- Die Chinesen holten den überwiegenden Teil ihrer in der Sowjet -Union immatrikulierten Studenten heim.
- Die Zeitschrif "Druschba" (Freundschaft), das Organ der "Gesellschaft für chinesisch-sowjetische Freundschaft", stellte ihr Erscheinen ein, ebenso zwei andere in Moskau erscheinende chinesische Blätter.
Moskau und Peking bemühten sich zwar, den mandschurischen Zwischenfall geheimzuhalten; dennoch entsandte der sowjetische Verteidigungsminister,
Marschall Rodion Malinowski, eine Militärkommission in das Grenzgebiet, um die Affäre untersuchen zu lassen.
Die Sowjetregierung protestierte in Peking. Von dort antwortete man, es habe sich um ein bedauerliches "Versehen" gehandelt, beanstandete jedoch gleichzeitig, daß die Russen an der chinesisch sowjetischen Grenze starke Truppenverbände unterhielten. Diese chinesische Anklage konterte Moskau mit der Gegenbeschuldigung, chinesische Truppen hätten von der Mandschurei aus Streifzüge in russisches Gebiet unternommen.
Das Renkontre an der Grenze bestätigte ebenso wie Chruschtschows Schulungsbrief an die außer-sowjetischen Parteiorganisationen, daß es bei dem Streit der beiden kommunistischen Weltmächte nicht allein um nebulose marxistische Theorien geht, sondern um harte praktische Politik: um die führende Position in einer - wie die Ideologen beider Kontrahenten übereinstimmend glauben - von Tag zu Tag kommunistischer werdenden Welt. Was Lenin tatsächlich gemeint oder nicht gemeint hat, ist dabei längst unwichtig geworden.
Die Besorgnisse der Russen, sie könnten von den Chinesen in einen Atomkrieg hineingezerrt werden, in dem ihre in vier harten Jahrzehnten aufgebaute Industrie innerhalb weniger Stunden zerbombt sein würde, kümmern den China-Boß in diesem Streit wenig. Mao Tse-tung hat ein solches Kriegsrisiko seit langem einkalkuliert.
Um Chruschtschow zu beweisen, daß Peking keiner Pression der "rechtsopportunistischen" Sowjetführung nachgeben werde, falls sie ihn von seinem Kurs abzubringen suche, setzte er nach dem Abzug der sowjetischen Wirtschaftsexperten eine Propaganda -Kampagne in Gang, für die Pekings "Rote Fahne" das Stichwort gab.
"Das chinesische Volk muß ..." - so formulierte das Blatt der roten Mandarine - "darauf vorbereitet sein, das Ziel des reinen Kommunismus notfalls
ohne Hilfe von außen zu erreichen."
Zuvor hatte Sowjetmensch Titarenko, Spezialist für ideologische Fragen beim Zentralkomitee der KPdSU, im Auftrag seines Parteichefs einen Artikel verfaßt, den die großen Provinzzeitungen der Sowjet-Union an exponierter Stelle druckten. "Könnte der bisherige erfolgreiche Aufbau des Sozialismus unter den gegenwärtigen Bedingungen in einem so großen Lande wie China fortgesetzt werden", fragte Titarenko provozierend, "wenn dieses Land isoliert wäre und nicht auf die Unterstützung aller anderen sozialistischen Länder rechnen könnte?"
Konterte Maos "Rote Fahne": "Die (chinesische) Partei steht auf dem Standpunkt, daß wir uns hauptsächlich auf unsere eigenen Anstrengungen verlassen müssen."
Gleichzeitig veröffentlichte das Pekinger Parteiblatt ein Drei-Punkte-Programm, in dem die chinesische Regierung bereits die Konsequenzen aus der Moskauer Isolierungs-Androhung zog:
- Der Wirtschaftsaufbau wird verlangsamt.
- Die Industrie muß Rohstoffe und
Energie einsparen.
- Alle nichtproduktiven Aufbau-Projekte, die im Augenblick entbehrlich sind", sollen stillgelegt oder aufgegeben werden.
Offensichtlich war Mao Tse-tung bereit, diese Opfer zu bringen, um die Fortführung seiner eigenen Politik zu sichern.
Die Machtprobe zwischen den beiden kommunistischen Weltmächten hatte inzwischen auf afrikanischem Boden zu einem scharfen Wettbewerb geführt. Moskau förderte die "bürgerlichen Nationalisten" in den jungen Staaten Afrikas, Peking wünschte sofort kommunistische Revolutionäre am Ruder zu sehen.
Dozierte der sowjetische Professor Schukow in der Moskauer "Prawda":
"Zwar stehen an der Spitze der neuen Staaten Afrikas und Asiens meist bürgerliche Politiker... Dennoch kann diese Tatsache nicht die progressive geschichtliche Bedeutung einer Durchbrechung der imperialistischen Front schmälern."
Und weiter: "Die dünkelhafte Geringschätzung der nichtproletarisehen Elemente, die unter bestimmten historischen Bedingungen auf der politischen Bühne auftreten, ist das gefährliche Zeichen des Sektierertums, das zur Selbstisolierung führt."
Die Pekinger "Volkszeitung" schoß zurück: "Wenn wir der von der Bourgeoisie angeführten nationalen Befreiungsbewegung (in den Kolonialländern) volle Unterstützung gewähren, dann bedeutet das in Wirklichkeit die Übernahme bürgerlicher Ansichten und eine Verletzung der Lehren Lenins."
Der von Sowjet-Schukow prophezeiten "Selbstisolierung" suchte China durch eine Infiltrations-Offensive In Afrika zuvorzukommen, die ihm neue Freunde schaffen soll und alle vergleichbaren Leistungen anderer Ostblock -Staaten, selbst die der Sowjet-Union, übertrifft. Peking profitierte dabei von einer Äußerlichkeit: der nichtweißen Hautfarbe seiner Emissäre.
Allein im vergangenen Jahr lud China
- das in Afrika als eine Nation bewundert wird, die sich aus eigener Kraft vom anglo-amerikanischen Kolonialismus befreit hat - 270 Gruppen afrikanischer Politiker zu Studienreisen und Freundschaftsbesuchen ein. In derselben Zeit reisten 40 chinesische Delegationen nach Afrika. Mit sieben afrikanischen Staaten* und der algerischen Exilregierung unterhält Peking bereits diplomatische Beziehungen. Besonders eng sind die Bindungen zu Guineas Staatschef Sekou Touré.
Den revoltierenden Afrikanern steht nicht nur chinesischer Rat, sondern auch chinesisches Geld zur Verfügung. Mao finanziert die Partisanen der "Union der Völker Kameruns", die einen grimmigen Buschkrieg gegen ihre frankreichfreundliche Regierung führen. Die algerische Untergrundarmee erhält aus China ebenfalls Waffen und Munition.
Auch der propagandistische Aufwand ist bemerkenswert:
- Radio Peking sendet wöchentlich 70
Stunden für Afrika (die Sowjet -Union nur 31 Stunden).
- Die Chinesen werden nicht müde,
Kenya-Tage, Uganda-Tage, Helft -Algerien-Wochen und Solidaritäts -Tage für Kamerun zu veranstalten.
- Mit billigen Volksausgaben der Werke
Mao Tse-tungs überschwemmt China die dünne Intelligenzschicht der afrikanischen Länder.
Diese erfolgreiche chinesische Freundschafts-Offensive auf dem afrikanischen Kontinent, auf dem die Sowjets ebenfalls handfeste Interessen haben, hat das Verhältnis Chinas zum "großen sozialistischen Brudervolk" nicht weniger abgekühlt als der gehässige Streit der marxistischen Schriftgelehrten.
Allzu frohlockenden westlichen Spekulationen über die verfeindeten roten Genossen trat allerdings der britische Ost-Experte Richard Lowenthal entgegen. Kommentierte Lowenthal Chruschtschows geheimes China-Rundschreiben: "Die dauerhaften (gemeinsamen) Interessen, auf denen die russisch-chinesische Allianz beruht, bleiben selbstverständlich bestehen."
* Äthiopien, Vereinigte Arabische Republik, Marokko, Sudan, Ghana, Guinea, Togo.
Entfremdete Genossen Mao, Chruschtschow (1958): Notfalls ohne Sowjet-Hilfe