ENGLAND / LABOUR PARTY Mr. Carrons Gewerbe
Mit 14 Jahren war er Bergarbeiter. Mit 18 saß er hinter dem Lenkrad eines Lastwagens. Mit 34 begann er die Ochsentour eines britischen Gewerkschaftsfunktionärs.
53 Jahre alt geworden, stand Frank Cousins, mit Brille und grauen Schläfen, endlich als Präsident an der Spitze des Internationalen Transportarbeiter-Verbandes*. Zwei Jahre später, an seinem 56. Geburtstag, gelang es ihm - so formulierte der Londoner "Daily Herald" die britische Arbeiterbewegung "in ihre größte Krise seit 25 Jahren zu stürzen".
Angetan mit einem Stahlkorsett, das Cousins tragen mußte, weil er sich als Fernfahrer außer Diensten bei einer Urlaubs-Autotour von Jugoslawien nach England einen Bandscheibenschaden geholt hatte, bewog der Boß der 1,3 Millionen britischen Transportarbeiter (Transport and General Worker' Union / TGWU) den auf der Insel Man tagenden Kongreß der englischen Gewerkschaften In der vorvergangenen Woche zur Annahme einer Anti-Atombomben-Resolution: Sie wendet sich gegen jede Verteidigungspolitik, "die auf der Androhung einer Anwendung strategischer oder taktischer Kernwaffen beruht".
Grinste Cousins: "Wir haben uns ja auch im Zweiten Weltkrieg ohne die Atombombe gut geschlagen."
Der Sieg des Cousins und die Niederlage der Labour-Führung unter Gaitskell - sie befürwortet nach wie vor eine Wehrpolitik, die England unter dem
Schutz der amerikanischen Atomwaffen beläßt - wäre vollständig gewesen, hätte nicht der Führer der zweitgrößten Einzelgewerkschaft, der Metallarbeiterboß William Carron, seine 908 000 Stimmen in schwer ergründbarer Logik sowohl für die Cousins-Resolution als auch für jene Resolution abgegeben, die Gaitskells Politik verfocht.
Nach Beratung mit seiner Delegation argumentierte Carron mit gespielter Naivität, er fände keinen Widerspruch zwischen den beiden Entschließungen und werde deshalb für beide stimmen. Mit diesem Trick machte sich der katholische Gewerkschaftsführer zwar zur Zielscheibe bitteren Hohns, aber er rettete zugleich seinen alten Freund Hugh Gaitskell: Nicht nur der Antrag gegen, sondern auch die Resolution für die
Atombombe wurde angenommen. Allerdings war die Mehrheit für Gaitskell mit 690 000 weitaus geringer als die Cousins-Mehrheit mit 1 143 000 Stimmen.
Das ermunterte den orthodoxen Sozialisten Cousins, sich für den Labourkongreß am 3. Oktober in Scarborough erhöhte Chancen auszurechnen, den Zauderer Gaitskell vom Partei-Thron stürzen zu können. Der Labour-Chef erscheint ihm suspekt, seit Gaitskell die Verstaatlichung der Industrie nicht mehr als ökonomisches Allheilmittel betrachtet.
Cousins hat - so behaupten seine Gegner - nahezu grenzenlose eigene Ambitionen. Trotz seiner Weigerunq, für das Unterhaus zu kandidieren, fehlt es nicht an Stimmen, die ihn als "potentiellen Premierminister" rühmen.
Dazu Cousins: "Ich will niemals Premier werden. Ich möchte bleiben, was ich bin, und als Vertreter der Gewerkschaften Premierminister machen."
Das kompromittierende Wort, in Jugoslawien gesprochen in England sogleich dementiert, trug dem ehrgeizigen Gewerkschaftsboß böse Sticheleien ein. Giftete das ihm gleichgesinnte Sonntagsblatt "The People": "Cousins will so viel Macht an sich reißen, daß er praktisch zum Diktator der Labour Party würde."
Die Londoner "Times" beurteilte den Gaitskell-Rivalen kühler: "Zwar intelligent und von rascher Auffassungsgabe, aber weder ein Stratege noch ein tiefer Denker."
Dennoch glaubt Bergarbeitersohn Frank Cousins allmählich in die Rolle des Bergarbeitersohns Aneurin Bevan hineinzuwachsen. In früheren Jahren hatte Labour-Rebell Bevan einen ähnlichen Kampf gegen Gaitskells Vorgänger Clement Attlee geführt. Mit Gaitskell hingegen hatte sich Bevan 1957 auf dem Parteikongreß geeinigt, als er seinen Widerstand gegen die Atombombe aufgab. Danach avancierte Bevan zuerst zum Schatten-Außenminister und nach der Wahlniederlage von 1959 sogar zum stellvertretenden Parteiführer.
Viele Anhänger des linken Labour -Flügels haben Bevan diesen "Verrat" nicht verziehen. Andere glaubten, es handele sich nur um einen schlauen Schachzug, der dem Rebellen ermöglichen sollte, seine alten Ansichten - leicht verbrämt innerhalb der Parteiführung durchzusetzen. Bevans Tod machte derartigen Spekulationen vor zwei Monaten ein Ende und öffnete Cousins den Weg, sich zum Wortführer der Linken innerhalb der Partei zu machen, wenn nicht gar nach der Labour-Führung zu greifen.
Während der Atom-Debatte auf der Insel Man gab sich Cousins peinliche Blößen. Seine Gegner forderten ihn auf, endlich Farbe zu bekennen und zu erklären, ob er für einen einseitigen Verzicht Englands auf die Atombombe eintrete und ob er den Austritt Großbritanniens aus der Nato wolle.
Cousins wich aus. Seine eigene Gewerkschaft hatte ihm verwehrt, so weit vorzuprellen. Aber seine persönliche Meinung war klar. "Die Nato hat die Rolle einer aggressiven Institution übernommen", sagte er kalt.
Um einen weiteren Cousins-Sieg auf dem Labour-Kongreß in Scarborough zu verhindern, wird Metallarbeiterboß Carron abermals sein fragwürdiges Gewerbe betreiben müssen: Er wird für Cousins stimmen, weil seine Mitglieder es wollen - und für Gaitskell, weil er selbst es für richtig hält. Gingen Carrons 908 000 Stimmen dem Labour -Chef verloren, könnte die Partei - wie Desmond Donnelly, ihr rechter Flügelmann, fürchtet - im "Pudding des Neutralismus" versinken.
Auf der Insel Man erhielt Gewerkschaftsboß Cousins 4,4 von insgesamt 7,5 Millionen Stimmen. Aber auch auf dem Parteikongreß geben die Gewerkschaften den Ausschlag: mit etwa sechs Millionen Stimmen (nur etwa drei Viertel der Gewerkschaftsmitglieder zahlen auch Parteibeitrag) gegen 800 000 Stimmen der örtlichen Parteigruppen. Jeder Labour-Chef ist deshalb verloren, wenn er seine Politik nicht an den Wünschen der großen Gewerkschaften orientiert.
Was Cousins heute ausnutzt, hat Partei-Rebell Bevan einst getadelt. "Es ist eine Perversion der Demokratie", schimpfte er, "daß die großen Gewerkschaftsbosse die Labour Party praktisch in der Hand haben."
* Am 31. Juli 1960 nicht wiedergewählt, da Ihn die amerikanischen Delegierten als linksradikal ablehnten.
Carron
Atomgegner Cousins
Unbegrenzte Ambitionen