WARSCHAUER GETTO Die Augenzeugen
Am 1. Mai 1943 notierte der damalige Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Joseph Goebbels, in sein Tagebuch: "Die Juden haben es doch tatsächlich fertiggebracht, das Getto in Verteidigungszustand zu setzen. Es spielen sich dort sehr harte Kämpfe ab, die sogar dazu führen, daß die jüdische Oberleitung täglich Heeresberichte herausgibt . . . Man sieht . . . daran, wessen man sich seitens der Juden zu gewärtigen hat, wenn sie im Besitz von Waffen sind."
Wenige Tage später, als die Truppen des SS-Generals Stroop mit Dynamit und Flammenwerfern gegen die Bunker und Stützpunkte der jüdischen Widerstandskämpfer vorgingen, erhielt die polnische Exilregierung in London einen letzten, verzweifelten Hilferuf der Verteidiger des Warschauer Gettos.
Zu den drei Absendern der Botschaft gehörte auch der damals 43jährige jüdische Historiker Emmanuel Ringelblum, dem es später gelang, aus dem Zwangslager Poniatow - wohin er mit Überlebenden des Aufstands gebracht wurde - zu entfliehen und im polnischen Teil von Warschau unterzutauchen. Anfang März 1944 wurden jedoch Ringelblum, seine Familie und 35 andere jüdische Flüchtlinge in einem Kellerversteck entdeckt, von der Gestapo exekutiert und in ein Massengrab geworfen.
1946 und 1950 wurden - vergraben in der Erde des ehemaligen Getto-Viertels
- handschriftliche Aufzeichnungen und Dokumente gefunden, die unter der Bezeichnung "Ringelblum-Archive" heute als eine der wichtigsten Quellen der
Leidensgeschichte polnischer Juden unter der Besatzung gelten. Ringelblum hatte seit der Kapitulation von Warschau im Jahr 1939 die Rolle eines Chronisten übernommen; er sammelte nach eigenen Beobachtungen und nach den Berichten und Informationen seiner Mitarbeiter Fakten, Anekdoten, Meinungen und Gerüchte, die ihm das Material für eine Geschichte des Warschauer Gettos liefern sollten.
Teile der 1946 aufgefundenen persönlichen Aufzeichnungen Ringelblums wurden 1948 vom Warschauer Institut für
Jüdische Geschichte in einer historischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Ein Jahr zuvor war in Paris unter dem Titel "Le Ghetto de Varsovie" das Tagebuch der Mary Berg erschienen - die Aufzeichnungen einer bei Errichtung des Warschauer Gettos 16jährigen Jüdin, die nach Beginn der Deportationen ihrer amerikanischen Nationalität wegen Polen verlassen durfte und über Spanien, und Portugal nach Amerika ausgetauscht wurde.
Aus Ringelblums Berichten, dem - aus geretteten Notizen - nachträglich erstellten Tagebuch der Mary Berg und anderen nach dem Krieg zum Teil in Polen, zum Teil im Ausland über das Warschauer Getto veröffentlichten Zeugnissen und Dokumenten schöpfte der amerikanische Autor John Hersey den Stoff für seinen Erfolgsroman "Der Wall", dessen literarische Form auf die Fiktion einer nachgelassenen Chronik Ringelblums zurückgeht und dessen Hauptperson, der Archivar Noah Levinson, mit Ringelblum in den Grundzügen identisch ist.
Allerdings vermied es Hersey, auf seine Quellen zu verweisen, so daß der Vorwortschreiber der französischen Ausgabe des Hersey-Romans, der Schriftsteller Joseph Kessel, gutgläubig die Behauptung wagte, jener Archivar Noah Levinson - dem Ringelblum Modell stand - habe in Wirklichkeit nie existiert und sei von dem Autor Hersey frei erfunden worden.
Zu dieser Ansicht gelangten noch vor vier Jahren die Leser einer Rowohlt -Taschenbuch-Ausgabe der deutschen Fassung des Hersey-Romans, denen der Autor als "fiktiver Herausgeber" ebenso fiktiver, wenn auch zeitgeschichtlich glaubwürdiger "Tagebücher und Aufzeichnungen eines jüdischen-Historikers" vorgestellt wurde - obschon der aus
den beiden Dokumentenfunden von 1946 und 1950 zusammengestellte authentische Bericht Emmanuel Ringelblums unter dem Titel "Chronik des Warschauer Gettos" inzwischen - 1952 -
in einer Polnischen und einer jiddischen Ausgabe in Warschau erschienen war.
Nach der jüdischen Ausgabe richten sich eine amerikanische und die letzthin in Paris erschienene französische Übersetzung der Ringelblumschen "Chronik des Warschauer Gettos". Wie die polnische ist auch die in Warschau edierte jiddische Ausgabe unvollständig und - wenn auch an jeweils anderen Stellen - zensiert; kritische Äußerungen über polnischen Antisemitismus, über die Ausschreitungen polnischer Banden gegen die Warschauer Juden und über die feindselige Haltung polnischer Parteien und Widerstandsgruppen fehlen in beiden Fassungen oder sind in der jiddischen nur andeutungsweise wiedergegeben, so daß, nach dem Urteil des jüdischen Historikers Joseph Kermish, "ganze Kapitel und Seiten, Zeilen und Worte, die ebenso lesbar und verständlich sind wie diejenigen, die man veröffentlich hat", unterdrückt wurden.
Zwei weitere - politisch offenbar unverdächtige - Zeugnisse über die Geschehnisse im Warschauer Getto, die Ringelblums Aufzeichnungen zum Teil bestätigen, enthält ein kürzlich in Ostberlin erschienener Sammelband mit dem Titel "Im Feuer vergangen"**; die darin abgedruckten Beiträge wurden bereits früher in polnischen Buchausgaben veröffentlicht. Verfasserinnen der beiden Berichte über die Warschauer Juden sind Noemi Szae-Wajnkranc und Dorka Goldkorn, die beide den Krieg und die Deportationen überstanden, aber kurze Zeit darauf durch Zufall ums Leben kamen: Noemi Szac-Wajnkranc durch eine Kugel aus dem Hinterhalt, als sie mit einer Abteilung der Roten Armee nach Lodz kam; Dorka Goldkorn, eine aktive Kommunistin, durch einen Autounfall. Dorka Goldkorns Bericht, der sich mit der Aktivität kommunistischer und jüdischer Widerstandszellen des Gettos beschäftigt, hatte der Romancier Hersey - wie ein Vergleich vermuten läßt - einige seiner Gestalten entnommen; andere, in Herseys "Wall" beschriebene Szenen, des Getto -Aufstands sind deutlich den Erinnerungen der Noemi Szac-Wajnkranc entlehnt.
Aus allen diesen Erlebnis-Büchern, die aus differierenden Absichten verfaßt, nach verschiedenen Gesichtspunkten redigiert oder gereinigt worden sind, läßt sich endlich ein ungefähres Bild der Zustände rekonstruieren, die während der deutschen Besetzung im Warschauer Getto geherrscht haben. Es ist das Bild einer Gesellschaft, eines Kommunalwesens, das durch terroristischen Zwang willkürlich zusammengebracht worden ist und unter dieser lebensgefährdenden Pression alles andere als einheitliche Züge aufweist. Unter den etwa 500 000 Opfern der Gewalt gibt es die Leidenden, aber auch die Bevorrechtigten, die
- obwohl selber Opfer - für einige Zeit die noch Schwächeren auszunutzen verstehen. Wie die Konzentrationslager,
so hat erst recht das Getto in seiner kommunalen Struktur einer mittleren Großstadt so etwas wie ein verzerrtes Abbild sozialer Schichten.
Für die Rekonstruktion dessen, was im Warschauer Getto geschah, haben allerdings nur die Erlebnisberichte den Wert der Authentizität. Herseys Roman "Der Wall" hat, so authentisch die in ihm verarbeiteten Berichte auch sein mögen, keinen Quellencharakter und soll ihn auch nicht haben.
Bereits die Figur seines Hauptzeugen, des Historikers Ringelblum, hat Hersey absichtsvoll gezeichnet. Herseys Ringelblum, der Archivar Noah Levinson, ist ein Sonderling mit dem Gebaren eines "Schnüfflers". "Er war von kleinem Wuchs", . . beschreibt Hersey den Archivar, "auf seiner ungestümen Nase saß eine stahlgeränderte Brille, deren Gläser so dick waren, daß . . . Levinsons Augen ungewöhnlich groß erschienen . . . Sein Haar war nie recht gekämmt."
Der wirkliche Ringelblum dagegen wird von dein amerikanischen Herausgeber der "Chronik des Warschauer Gettos", Jacob Sloan, als ein hochgewachsener, angenehmer und umgänglicher Mann beschrieben, der Sinn für Humor besaß und über soziale Lebenskenntnis verfügte; er war aktiver Zionist, aber kein Dogmatiker. Sloan räumt ihm sogar "die bei osteuropäischen Zionisten seltene Fähigkeit" ein, seine "politischen Feinde zu verstehen".
Kurz vor Kriegsausbruch befand sich Ringelblum, damals Warschauer Beauftragter der jüdischen Hilfsorganisation "American Joint Distribution Committee", in Genf, wo der 21. Zionistische Weltkongreß tagte. Ringelblum entschied sich zur Rückkehr nach Warschau und traf dort auf dem Umweg über Italien, Jugoslawien und Ungarn in den ersten Kriegstagen ein. Er begab sich nach der Kapitulation von Warschau zur deutschen Militärverwaltung
und erbat, unter Berufung auf die amerikanische Neutralität, die Genehmigung zur Wiederaufnahme der Tätigkeit des "American Joint Distribution Committee". Nach dem Bericht des amerikanischen Herausgebers der Ringelblum -Chronik, Jacob Sloan, wurde er von den Deutschen hinausgeworfen. "An diesem Tage", so heißt es bei Sloan, "begann Ringelblum mit der Niederschrift seiner Chronik."
Die "Chronik des Warschauer Gettos" beginnt in der veröffentlichten Form mit einem Brief, der über Terror- und Verfolgungsmaßnahmen der "Herren und Meister" - wie Ringelblum die deutschen Verwaltungs- und Besatzungseinheiten ironisch - nennt - berichtet; er trägt das Datum des 1. Januar 1940. Zu diesem Zeitpunkt wohnten in Warschau rund 360 000 meist orthodoxe Juden; der Strom jüdischer Flüchtlinge aus der Provinz erhöhte diese Zahl in den folgenden Monaten auf rund eine halbe Million.
Schon bald nach der Besetzung Polens und der Errichtung des Generalgouvernements in Krakau waren die Juden durch Ausnahme-Verordnungen diskriminiert, enteignet und von der polnischen Bevölkerung isoliert worden. Sie mußten den Juden-Stern tragen, wurden zu Zwangsarbeit eingeteilt und erhielten Rationen, die für sie den langsamen Hungertod bedeuteten.
Die Übergangszeit bis zur Errichtung des abgeschlossenen Warschauer Gettos dauerte bis November 1940; ein Vorzeichen war die Nachricht von der Errichtung eines geschlossenen Gettos in Lodz. Wohlhabende Warschauer Juden brachten hohe Geldbeträge auf, um die Schließung des zunächst mit Stacheldraht und Palisaden umzäunten - Warschauer Judenviertels hinauszuschieben; im Septemter 1940 befahlen die Deutschen jedoch den Bau einer zweieinhalb Meter hohen Mauer, die im Sommer 1941 fertiggestellt war. Sie umschloß ein Viertel, zu dem außer dem historischen Getto noch die von den Polen geräumten Straßenzüge in der Nähe des Warschauer Bahnhofs gehörten.
Ringelblum beschreibt, wie sich die Warschauer Juden in dieser Übergangszeit allmählich auf ein Leben am Rande der Ausnahme-Gesetze einstellten, die auf bürokratische Weise ihren Ruin herbeiführen sollten. Die meisten Eingeschlossenen wechselten ihre Berufe. Ein früherer Theaterdirektor, so berichtet die "Chronik", verkaufte warmes Essen von Haus zu Haus; Orleska, eine Wilnaer Schauspielerin, wurde Serviererin, Lehrer und Professoren verdingten sich als Hausmeister oder Fensterputzer.
Bemerkenswert, so notiert Ringelblum, sei der Fall des Malers Eljowicz: "Er war aufgegriffen worden und mußte im Arsenal arbeiten. Man ließ ihn einen Ofen anzünden. Sie sind nicht ungeschickt', wurde ihm gesagt.
Eljowicz antwortete: 'Ich bin Kunstmaler.' Sie (die Deutschen) verlangten, daß er Zeichnungen von ihnen anfertige.' Er (Eljowicz) ist inzwischen bei seinem sechsten Porträt; der Dienstgrad der Modelle steigt beständig."
Die Warschauer Juden hatten bald herausgefunden, daß die Gestapo und die polnische Polizei bestechlich waren:
"Es ist möglich, sich vom Zwangsarbeitsdienst loszukaufen, indem man (Geld) für die Einkleidung der (jüdischen) Armen gibt", berichtet Ringelblum. Sarkastisch fügt er hinzu: "Daher gehen nur die Armen zur Zwangsarbeit." Der Preis für "Haft-Befreiung", heißt es an anderer Stelle, sei gestiegen:
"Die Helden der Befreiung - Ringelblums Bezeichnung für die Verbindungsleute der Gestapo - verlangten für die Entlassung eines willkürlich verhafteten Juden über 5000 Zloty.
Ungeordnet und lakonisch notiert der Getto-Chronist alles, was ihm von Freunden und Mitarbeitern an Nachrichten und Gerüchten zug ragen wird, so zum Beispiel, daß "Bazillenträgern (Juden) die Benutzung der Eisenbahn verboten sei", daß von tauz md jüdischen Schuhmachern Warschaus nur zwölf eine Arbeitskonzession erhielten oder daß eine Jüdin, die man zum Aufwischen einer Unterkunft geholt hatte, den Herren und Meistern" ihre Uhr und 10 000 Zloty hinterlassen mußte:
"Zwei Soldaten 'verlangten von einem meiner Freunde 50 Zloty; wenn er in Ruhe gelassen werden wollte", heißt es in der "Chronik"; "Da er- das Geld nicht hatte, führten sie ihn fort und nahmen ihm den Mantel." Juden, die vor den Deutschen nicht schnell genug den Hut zogen, wurden auf der Stelle dafür bestraft: "Sie mußten Gymnastik-Übungen machen" und "Steine oder Dachziegel balancieren."
Als Beispiel für den Umfang des Spitzel-Systems, das die Gestapo mit Hilfe bereitwilliger Kollaborateure eingeführt hatte, erwähnt Ringelblum den Fall eines Juden, der seinen Geburtstag feiern wollte: "Da jede Versammlung über zehn Personen genehmigt werden mußte, ging er zur Gestapo und legte die Liste seiner Gäste vor. Er erhielt den Bescheid, daß eine Kontrolle nicht nötig sei, da bereits drei der zwanzig Eingeladenen Vertrauensleute (der Gestapo) seien."
Die Warschauer Gestapo führte ein System des Umgangs mit Juden ein, das von Anfang an die Absicht erkennen ließ; ein Getto mit einer abhängigen, aber eigenen Kommunalverwaltung einzurichten. Die Besatzungsbehörde ernannte einen Ingenieur namens Adam Czerniakow zum Ältesten eines "Judenrates", der von Czerniakow zusammengestellt werden mußte. Dieser Rat war für die Befolgung der Ausnahmegesetz verantwortlich; er mußte Zwangsarbeiter rekrutieren und mit Hilfe einer jüdischen Polizeitruppe für Ordnung sorgen; für sanitäre Zwecke und zur Bekämpfung von Epidemien war er sogar berechtigt, Steuern einzuziehen.
Bis zum Herbst 1940 hofften die Juden noch, daß ihnen ein von der Außenwelt abgeschnittenes Getto erspart bliebe.
"Der heutige Tag war schrecklich", vermerkt Ringelblum am 12. Oktober 1940.
"Lautsprecher verkündeten die Aufteilung der Stadt in drei Bezirke: ein deutsches Viertel . . ., ein polnisches und ein jüdisches. Vor Ende Oktober müssen alle, ausgenommen die Deutschen, in das ihnen zugewiesene Viertel umziehen, und zwar ohne Mitnahme ihrer Möbel." Einen Tag später heißt es in den Aufzeichnungen Ringelblums: "Es steht jetzt endgültig fest, daß 104 000 Juden aus dem südlichen Teil Warschaus und dem Vorort Praga ihre Häuser verlassen und im Getto leben müssen . . . 140 000 Christen, die bisher das jüdische Viertel bewohnten, werden ausgewiesen."
Am 15. November 1940 zogen deutsche und ukrainische Wachmannschaften vor dem Getto auf, hinter der Stacheldrahtumzäunung und der Mauer patrouillierte die jüdische Polizei. Der einzige Zugang zum Reich der "freien Sklavengesellschaft" - wie Ringelblum das scheinbare Selbstverwaltungs-Regime der zusammengepferchten Gefangenen des Gettos nennt - war das Tor zum Bahnhofsgelände, zum sogenannten
Umschlagplatz, einem nur mit Sonderausweisen passierbaren Terrain, wo der Austausch der Güter stattfand: Rohstoffe gegen Fertigwaren, die In den Werkstätten des Gettos hergestellt wurden.
"Und siehe, da erhob ein Teil dieser Menschen sein Haupt", heißt es über diesen Zeitabschnitt in den Getto-Erinnerungen der Augenzeugin Noemi Szac -Wajnkranc. "Es begann der Tauschhandel, Import und Export. Leichen auf der Straße, Typhus, eine unerhörte Sterblichkeit - und gleichzeitig eine Industrie . . .Wie Pilze nach dem Regen tauchten Fabriken auf.
Fabriken - kann man so die kleinen Kellergeschosse und winzigen Räume nennen, wo die schönsten Trikotagen, Strümpfe, Sweater, Socken entstanden?
Es gab Werkstätten, in denen man alte Laken und Bettbezüge färbte, mit Mustern bedruckte und daraus die modernsten Herrenhemden, schöne geblümte
Kopftücher und Schnupftücher nähte. Aus Zucker, ohne Kakao und ohne Nüsse, fabrizierte man Schokolade mit Mandeln. Es arbeiteten Gerbereien, Drechslerwerkstätten, man fabrizierte massenweise und zahlte der Miliz, den Geheimen und den Deutschen riesige Schmiergelder."
Einige Tausend jüdischer Zwangsarbeiter wurden im Gebiet des Gettos sogar von deutschen Unternehmern beschäftigt, die Aufträge für die deutsche Wehrmacht ausführten; der mächtigste unter ihnen war der Gerberei- und Textilfabrikbesitzer Walter Toebbens, der seinen Zwangsarbeitern Zusatzrationen zu verschaffen wußte, um seine Betriebe funktionsfähig zu Lalten. In den letzten Tagen des Warschauer Gettos, kurz vor Beginn des Aufstands, richtete Toebbens, der seine Existenz gefährdet sah, als seine Arbeiter einen Aufruf, in dem er behauptete, alle Gerüchte über neue Deportationen seien unwahr.
"Jüdische Rüstungsarbeiter", so redete Toebbens seine Sklaven an, "glaubt nicht denen, die euch irreführen wollen... Die Bunkerverstecke bieten euch keine Sicherheit . . . Gefahr und Untätigkeit untergraben die Moral von Leuten, die gewohnt sind, zu arbeiten."
Über den 24köpfigen Jüdischen Rat, der unter Leitung von, Czerniakow eine Art Selbstverwaltung des Gettos praktizieren sollte - Czerniakow beging noch während seiner Amtszeit Selbstmord -, urteilen die Augenzeugen unterschiedlich. Ringelblum zum Beispiel bezichtigte die Mitglieder des Jüdischen Rates der Korruption und
der Zusammenarbeit mit der SS: "Czerniakows Selbstmord - er hätte das Zeichen zum Aufstand sein müssen -,kam zu spät, notierte Ringelblum Ende September 1942, als der Älteste des Warschauer Judenrates sich der ihm auferlegten Mitwirkung an der Massendeportation der Getto-Juden entzog, indem er Gift nahm: "Ein schwacher Mann und ein Zeichen der Schwäche."
Ein milderes Urteil fällt in ihrem Bericht Noemi Szac-Wajnkranc: "Er (Czer-. niakow) wand und drehte sich wie ein Fisch im Netz, er suchte das mehr und mehr zerreißende Gettoleben immer, wieder zu flicken, bis er eines Tages begreifen mußte, daß es nicht mehr gelingen konnte, es zu flicken: Er nahm Zyankali. Er beging Selbstmord, weil er dem ihm vorgelegten Plan der völligen Liquidierung des Gettos nicht zustimmen konnte, weil er es nicht über sich brachte, Menschen in den Tod zu schicken."
Ringelblum gehörte von Anfang an zu den Gegnern des Jüdischen Rates, dem
er nicht nur Unterwürfigkeit; sondern auch Klassenpolitik vorwarf - zugunsten der Reichen unter den Getto-Juden. Der Autor der "Chronik" gründete mit Gleichgesinnten die soziale jüdische Hilfsorganisation IGA, von der es in der "Chronik" heißt: "Sie ist den Potentateh des Rates ein Dorn im Auge...und -
nach Meinung der Ratsmitglieder - der Hauptherd der Opposition . .. Die IGA ist in der Tat die einige Institution des Gettos, in der Freiheit der Meinung herrscht und wo es möglich ist, den Rat und seine Intrigenpolitik offen zu kritisieren." Die vom Jüdischen Rat hofierten Reichen, so bemerkt Ringelblum, hätten die Beteiligung afn der Gemeinschaftshilfe für Besitzlose und Flüchtlinge mit der Begründung abgelehnt, das habe keinen Sinn, da sie letzten Endes ja doch alle umkommen würden.
"Jemand hat mir eine Theorie entwickelt", heißt es in der "Chronik", "der Krieg erwecke im Herzen der Menschen das Beste und das Schlimmste. Wie die Krankheit sei er eine Prüfung. Bei den (polnischen) Christen stößt man auf mutige und uneigennützige Hilfe oder auf einen Antisemitismus der übelsten Art bei den Juden auf einen grausamen Egoismus oder auf eine Verpflichtung ohne Einschränkung den Elenden gegenüber.
In der Tat ist das Tableau der Getto -Gesellschaft, wie es von Ringelblum nach dem Grundsatz des Autors "photographisch getreu" überliefert wird aus Kontrasten zwischen Leidensgeschichten der Elenden und dem sonderbaren Verhalten der Privilegierten zusammengesetzt.
Eine sinistre Rolle spielte in Ringelblums Bericht zum Beisjel die jüdische Polizei die Schirmmützen, Abzeichen und Knüppel trug und der überwiegend frühere Advokaten angehörten. Ringelblum wirft ihr vor, sie imitiert den Kommando-Stil der Deutschen und sei schon vor Beginn der Massen-Deportationen wegen ihrer Korruption und Brutalität berüchtigt gewesen.
"Während der Deportationen", so urteilt Ringelblum, "erreichte sie (die Polizei) den Gipfel der Verkommenheit. Keiner der Polizisten fand ein Wort des Protestes gegen den abscheulichen Auftrag, die eigenen Brüder zum Schlachthof zu führen ... Auf ihren Gesichtern war keine Spur von Trauer oder Leid zu erkennen. Man sah im Gegenteil zufriedene, glückliche und gutgenährte Gestalten, beladen mit der Beute, die sie zusammen mit der ukrainischen Miliz davonschleppten."
Die Lebensformen im Getto hatten sich zu diesem Zeitpunkt noch einmal einschneidend geändert. Wenige Wochen nach der vollständigen Abschließung war auch der Telephon- und Postverkehr mit dem übrigen Warschau unterbunden worden. Schmuggler und Spitzel, die sich das Wohlwollen der Gestapo erkauften, bauten eine Zubringer - und Verkaufsorganisation auf, die - zum Teil mit Duldung der Wachen - diesseits und jenseits der Getto-Mauer illegalen Handel betrieb; es bestand sogar eine schwarze Risiko-Versicherung, die bei Unfall oder Tod Renten auszahlte.
Emmanuel Ringelblum und Noemi Szac-Wajnkranc verkennen nicht, daß der Schmuggel- und Schwarzhandel, der
seinigen, zwielichtigen Glücksrittern des Gettos Millionen einbrachte,dennoch für die Masse der Eingeschlossenen zeitweilig die Rettung vor Huger oder gar vorm Verhungern war. Ringelblum schlägt sarkastisch vor, den Schwarzhändlern nach der Befreiung ein Denkmal zu errichten, und Noemi Szac -Wajnkranc, die den gleichen Gedanken hat empfiehlt als Inschrift: "Allen stillen, unerschrockenen, namenlosen Helden des Schmuggels - zu Ehren!"
Allerdings gab es im Getto nicht nur die "namenlosen Helden des Schmuggels", sondern - wie Ringelblum mit Chronistengenauigkeit notiert - auch eine Aristokratie skrupelloser Schwarzhändler, der zum Beispiel zwei Geschäftsleute namens Kohn und Heller angehörten. Kohn und Heller, die Ringelblum stets zusammen nennt, wurden von dem deutschen Kommnissar des Warschauer Gettos Auerswald protegiert, der ihnen Importgenehmigungen
und die Lizenz für eine Getto-Pferdebahn beschaffte; der jüdische Volksmund nannte dieses primitive Beförderungsmittel die "Hütten des Onkel Kohn".
Kohn und Heller waren, Ringelblum zufolge, Kollaborateure der Gestapo, zugleich aber hätten sie versucht, sich bei ihren miteingeschlossenen Schicksalsbrüdern einen guten Leumund zu verschaffen. Zu diesem Zweck, notiert Ringelblum, "courtoisierten sie die frommen Juden. Sie gaben Geld für jüdische Schulen und zahlten Rabbinern und anderen Gottesdienern Pensionen".
Als Chef einer jüdischen "Wirtschaftspolizei" sei im Getto der Gestapo-Agent Halm Ganzweich aufgetreten, der später einen "Kranken-Transportdienst" organisiert habe, doch soll sich dieser Transportdienst, dessen Mitglieder von Ganzweich mit Phantasie-Uniformen ausgestattet wurden, weniger mit Kranken als mit Erpressungen beschäftigt haben. Die Ganzweich-Clique erhielt den Spitznamen . "Die Dreizehn", weil sich ihre Büros im Haus Nr.13 der Leznostraße befanden.
Entsetzen verbreiteten auch die schwarzuniformierten Angestellten eines anderen Emporkömmlings der Getto -Aristokratie, des Beerdigungs-Unternehmers Pinkert, den Noemi, Szac -Wajnkrane den "König der Verstorbenen" nennt: "Die Deutschen bemühten sich aus allen Kräften darum, daß Pinkert jemanden zu begraben, hatte, sie bemühten sich darum besonders eifrig und unermüdlich . . . Am Ende wußte man nicht mehr, wer für wen arbeitete, ob die Deutschen für Pinkert oder Pinkert für die Deutschen.",
Pinkert, so fügt die Autorin hinzu, wurde allerdings von niemandem begraben: "Als man die Gaskammern in Betrieb nahm, als man zum erstenmal in den Krematorien Feuer machte, entfernte man den König der Totengräber. Man verbrannte ihn im Ofen und streute seine Asche in alle vier Winde."
Die Großverdiener des Schmuggels organisierten im Getto sogar noch
eine Vergnügungsbranche: "Restaurants, Tanzlokale und Gartentanzlokale entstanden", schreibt Noemi Szac - Wajnkranc. "Graue Gettomauern, Hunger, Tod auf Schritt und Tritt - und in Kellergeschossen prächtige Vergnügungslokale . . . Eine blutjunge Sängerin mit der Stimme einer Nachtigall sang so wunderschön, als hätte es niemals auf der Welt ein Getto gegeben, als wüßte man nicht, was ein Deutscher sei. Auf einem Tablett reichte man Gebäck und Kaffee oder duftende, appetitliche rosafarbene Cremes und überzuckerte Nüsse."
Alle diese paradoxen Erscheinungen
- der Millionenverdienst und der Bar-Luxus vor dem Panorama eines allgemeinen Elends in nächster Nähe des Todes - waren zeitlich begrenzt, eine Atempause für Begüterte, ein Aufschäumen des Absuds, den jede Halbmillionen-Kommune auf ihrem Grund lagert. Als im Sommer, 1942 in den Dienststellen der Gestapo ein Wechsel eintrat, wurden Ganzweich und seine Helfer als unbequem empfunden und
liquidiert. Ende Juli 1942 begannen die Massendeportationen.
"Physischer Mut ist ein komplizierterer Begriff, als man gemeinhin glaubt",
kommentiert der in Paris lebende Historiker Leon Poliakov ("Das Dritte Reich und die Juden"), Übersetzer der französischen Ausgabe der "Chronik des Warschauer Gettos", die Tatsache, daß es bis Ende 1942 im Warschauer Getto so gut wie keinen aktiven Widerstand gegen die Deutschen gab. Wohl gab es, was Poliakov als "passive Resistenz" bezeichnet: die Herstellung falscher Ausweispapiere, die Anlage von Verstecken und Fluchtwegen, die Sammlung von Nachrichten.
Ringelbium zum Beispiel übte "passive Resistenz", indem er durch seine Helfer, durch Zionisten oder Vertraute aus anderen politischen Kreisen des Gettos - sie bildeten eine Art Bruderschaft mit den Initialen "O. S."
("Oneg Sabbat", deutsch: Sabbat-Freude)
- Nachrichten sammeln ließ, die für die Weltöffentlichkeit bestimmt waren. Sie sollten darüber aufklären, was mit den Juden in Polen geschah - ohne Wissen des deutschen Volkes, wie Ringelbium ausdrücklich betont, denn die Deutschen "wissen nichts von den ständigen Morden und Vernichtungsaktionen, die von speziellen Henker-Kommandos ausgeführt werden".
Die Nachrichten über Deportationen und Massenhinrichtungen von Juden gab Ringelblum an Verbindungsleute der polnischen Widerstandsbewegung weiter; über deren Geheimsender sollten sie nach London getunkt werden. Aus der "Chronik des Warschauer Gettos" geht jedoch hervor, daß bis Ende Juni 1942 über die Vernichtungsaktionen gegen die polnischen Juden Genaues in London nicht bekanntgemacht wurde.
"Freitag, der 26. Juni (1942) war ein großer Tag für die O.S.", heißt es endlich in den Aufzeichnungen Ringelblums.
"Heute morgen hat der englische Rundfunk über das Schicksal der polnischen Juden berichtet ... Monatelang haben wir gelitten, weil die Welt gegenüber unserer Tragödie ohne Beispiel taub und stumm geblieben ist.
"Wir klagten die polnische öffentliche Meinung und die Verbindungsleute an, die mit der polnischen Exilregierung Kontakt hatten. Warum gaben sie der Welt nicht bekannt, daß die Juden in Polen ausgerottet wurden? Verschwiegen sie absichtlich unsere Tragödie, damit die ihre nicht im Schatten blieb?...
Die heutige Sendung hat die Bilanz gezogen: 700 000, die Zahl der bis jetzt umgebrachten Juden, ist genannt worden."
Tatsächlich gab es Rivalitäten zwischen den von Deutschen schikanierten Polen und den von Deutschen eingepferchten Juden, aber selbst unter den politischen Parteien und Gruppen der Getto-Juden blieben alte Rivalitäten zäh bestehen. Sogar nach Beginn der Deportationen lehnte die Mehrheit die Bildung einer gemeinsamen Kampforganisation mit der Begründung ab, die weitere "Entwicklung der Ereignisse" müse abgewartet werden.
Ringelblum, der Zeuge der Deportationen war, sich aber zu retten wußte, übt in der "Chronik" bittere Selbstkritik: "Warum haben wir uns wie Schafe zum Schlachthof führen lassen? Warum hat es der Feind so leicht gehabt?
Warum hatten die Henker nicht einen einzigen Verlust zu beklagen?" Der Getto-Chronist weiß keine andere Antwort als diese: "Wir haben die Bestätigung des psychologischen Gesetzes erlebt, wonach der völlig unterjochte Sklave keinen Widerstand mehr zu leisten weiß."
Die "Chronik des Warschauer Gettos" endet unter dem Datum des 14. Dezember 1942. Ringelblum bemerkte lakonisch: "Unsere Unterwerfung hat zu nichts geführt. So etwas darf sich nicht wiederholen."
Nach dem Bericht seines amerikanischen Herausgebers, Jacob Sloan, hat Ringelblum jedoch seine Chronik fortgeführt und in seinem späteren Versteck die Ausarbeitung einer Geschichte des Jüdischen Kampfbundes begonnen, die er - nach Sloan - als "sein Lebenswerk" betrachtete. Nachdem 300 000 Juden aus dem Getto deportiert worden waren, bildete sich unter dem Kommando des 24jährigen Zionisten Mordechaj Anielewicz ein "Jüdischer Kampfbund". Am 19. April 1943 kam es zum Aufstand der eingeschlossenen Juden gegen die Deutschen, der - mangels militärischer Hilfe von außen - im Juni 1943 zusammenbrach.
"Es war ihm (Ringelblum) nicht vergönnt, seinen Aufzeichnungen die endgültige Form zu geben", äußerte Joseph Kermish, Besitzer der vollständigen Kopien von Ringelblums Handschriften, zu den bisher erschienenen Ausgaben der "Chronik".
"Daher ist es die moralische Pflicht der Herausgeber, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, damit das Werk des Märtyrer-Autors in genau der gleichen Form den Leser erreicht, wie es aus seiner Feder kam."
Zwei prominenten bundesdeutschen Verlagen wurde ein solches Angebot kürzlich gemacht. Als Grund der Ablehnung hat einer der Verleger angegeben, es würde nur den Antisemitismus fördern, wenn man "die Situation im Getto offen bloßlegt".
* Emnmanuel Ringelblum: "Chronique du Ghetto de Varsovie"; Editions Robert Laffont, Paris; 376 Seiten; 12,90 Franc.
** "Im Feuer vergangen", Tagebücher aus dem Ghetto; Verlag Rütten & Loening, Berlin; 612 Seiten; 7,90 (Ost-)Mark.
Juden-Umquartierung in Warschau. Den politischen Feind verstehen
Getto-Chronist Ringelblum
Soziologe einer Zwangsgesellschaft
Roman-Autor Hersey
Dichtung nach Dokumenten
Haus des Jüdischen Rates: Leichen und Industrien
Spielsalon im Getto: Atempause für Begüterte
Vernichtungs-Historiker Poliakov
Das deutsche Volk wußte von nichts