TEMPO 100 Seebohms Kolonnen
Der hochentwickelten Fähigkeit des Bundesverkehrsministers Seebohm, drastische Wendungen in seine Reden einzuflechten, verdankt die bundesrepublikanische Öffentlichkeit eine funebre Schilderung der westdeutschen Verkehrssituation. "Wenn man die Särge der Verkehrstoten des vergangenen Jahres hintereinander aufstellen würde", dozierte Seebohm am Dienstag letzter Woche, "so würden sie eine siebeneinhalb Meter breite Straße in einer Länge von fünfzehn Kilometern füllen."
Das Beispiel von der sarggefüllten Totenstraße entschlüpfte dem Minister, als er das amtliche Ergebnis des Versuchs präsentierte, den er an zwei Feiertagswochenenden den westdeutschen Kraftfahrern im vergangenen Juni auferlegt hatte. An den Test-Tagen durften die Automobilisten auf den Autobahnen höchstens 100 km/st und auf den anderen Straßen (außerhalb geschlossener Ortschaften) höchstens 80 km/st fahren.
Kern der ministeriellen Feststellungen:
- Ostern 1960, als kein Tempo-Limit
bestand, wurden auf westdeutschen Straßen insgesamt 252 Personen getötet - 65 mehr (34,8 Prozent) als im gleichen Zeitraum des vergangenen Jahres.
- Pfingsten 1960, als Tempo 100 beziehungsweise 80 eingehalten werden mußte, wurden 212 Personen getötet
- 33 weniger (13,5 Prozent) als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
"Dieses Ergebnis", folgerte das Verkehrsministerium, "ist als beachtlicher Erfolg der gemeinsamen, einander ergänzenden Maßnahmen der Gesetzgebung und der Exekutive zu werten."
Immerhin räumten des Ministers Unfall-Analytiker ein, daß "wegen der geringen statistischen Masse das zur Verfügung stehende Material nur eine besonders vorsichtige Auswertung" erlaube.
In der Tat: Den zweiten Geschwindigkeitsbegrenzungs-Versuch vom 15. bis 20. Juni konnte das Ministerium überhaupt nicht bewerten, da "die Vergleichsmöglichkeiten mit dem Vorjahr fehlen". Die übrigen Vergleiche stießen
"auf gewisse nicht ausschaltbare Schwierigkeiten, weil die Verkehrszusammensetzung sich ständig wandelt, die Daten der Feiertage wechseln und Witterungseinflüsse gerade im Frühling oft sehr unterschiedlich sind".
Andere Umstände, die den Wert der Test-Aktion mindern mußten, ließen die Beamten des Verkehrsministeriums unerwähnt. So vermieden die Bonner Experten etwa, in der Bewertung der Test-Ergebnisse darauf einzugehen, daß die westdeutschen Autofahrer unter dem Eindruck des Polizei-Großeinsatzes und der ständigen öffentlichen Warnungen mit besonderer Vorsicht chauffierten. Die vorteilhaften Versuchsbedingungen mußten schlechterdings zu atypischen Ergebnissen führen - wenngleich keineswegs zu bezweifeln ist, daß die Bonner Analysen "einige ... in ihren Tendenzen ausreichend gesicherte Feststellungen" offenbaren.
So bewahrheitete sich etwa die Befürchtung von Verkehrspsychologen, daß die durch Tempo-Limits heraufbeschworene Praxis des Kolonnenfahrens unfallfördernd wirke. Zumindest fiel auf, daß die im übrigen günstige Statistik des Verkehrsministeriums eine erhöhte AnzahlLeichtverletzter aufweist - was, wie die "Kölnische Rundschau" vermerkte,
"nicht zuletzt auf Karambolagen innerhalb der Fahrzeugschlangen beim Kolonnenfahren zurückzuführen ist".
Obwohl Seebohms Untergebene es an Mühe nicht hatten mangeln lassen, eine Fülle von Unterlagen über die beiden Geschwindigkeitsbegrenzungs-Versuche zusammenzutragen, versagten sie sich
merkwürdigerweise, die Unfallstatistik in die Rubriken "Autobahn" und "sonstige Straßen, aufzugliedern. Zu Recht konnte ein ADAC-Sprecher darauf hin-Weisen, daß allein eine solche Aufschlüsselung erkennen lasse, was sich zu Pfingsten wirklich auf den Autobahnen abgespielt habe.
Statt dessen beschrieben die Bonner Verkehrs-Experten in allen Details jene 206 Verkehrsunfälle (mit 230 Verkehrstoten), die sich an den beiden Versuchs -Wochenenden außerhalb geschlossener Ortschaften ereignet hatten. Aufgrund polizeilicher Unterlagen führten sie dabei 25,2 Prozent der Unfälle auf "Abkommen von der Fahrbahn wegen erhöhter Geschwindigkeit" zurück und konstatierten überdies: "Bei einer Anzahl weiterer Unfälle, die sich vor allem beim Überholen ereignet haben, hat ebenfalls überhöhte Geschwindigkeit mitgewirkt. Dies zeigt deutlich, daß viele Kraftfahrer die Gefahr, die in der Geschwindigkeit ihres Fahrzeugs steckt, nicht genügend beachten."
Die These von der Gefährlichkeit schnellen Fahrens, die das Verkehrsministerium auf diese Weise erneut zu
untermauern suchte, ist indes vor kurzem in einem Land durchlöchert worden, dessen Verkehrspraktiken Minister Seebohms Ratgeber oft als vorbildlich schilderten: in den USA. In einer 232 seitigen Broschüre präsentierte die amerikanische Straßenbehörde ("Bureau of Public Roads") jüngst die Ergebnisse einer gigantischen Straßenverkehrs-Untersuchung, die - wie die Schweizer Kraftfahrzeitschrift "Automobil Revue" schrieb - "der behördlichen Ideologie einen schweren Schlag (versetzen), weil sie die dogmatische Gleichsetzung von hohem Tempo und größerer Unfallhäufigkeit ins Reich der Legende verweisen".
Die amerikanische Untersuchung mündet nämlich in die Feststellung, "daß Fahrer, die mit Geschwindigkeiten unter 40 Meilen in der Stunde (64 km/st) fuhren, in einem vergleichsweise viel größeren Maße an Unfällen beteiligt waren als Fahrer, die schneller fuhren".
Die Amerikaner verschafften sich diese Erkenntnis in einer beispiellosen Fleißarbeit. "Einen Eindruck vom Umfang unserer Untersuchung", so heißt es darüber in dem Bericht der US-Straßenbehörde, "vermag die Tatsache zu vermitteln, daß 3,7 Milliarden gefahrene Meilen und 10 000 an Unfällen beteiligte Fahrzeuge erfaßt wurden." 290 000 amerikanische Automobilisten wurden während der letzten vier Jahre auf freier Strecke gestoppt und von Fachleuten der Straßenbehörde interviewt. Zu beantworten waren Dutzende von Fragen, etwa nach Reiseroute, PS-Zahl des Wagens, bevorzugter Geschwindigkeit.
- Die Untersuchung erstreckte sich auf
35 Landstraßen-Abschnitte in elf amerikanischen Bundesstaaten mit einer Gesamtlänge von etwa 1000 Kilometern, die das gesamte Highway-Netz Nordamerikas repräsentierten.
Auf den meisten Streckenabschnitten hatten die Fahrer die Möglichkeit, ihr Tempo nach eigenem Ermessen zu wählen. Es galten entweder die in dem betreffenden US-Staat allgemein angeordneten Regeln für die Höchstgeschwindigkeit oder die unverbindliche Vorschrift, "nicht unvernünftig schnell" zu fahren.
Um einwandfreie Vergleiche anstellen zu können, schufen sich die Verkehrs-Analytiker eine eigene Maßeinheit, die sie als "Unfallbeteiligungsrate" (accident involvement rate) bezeichnen. Sie ist definiert als "die Zahl der Unfallbeteiligungen auf 100 Millionen gefahrenen Autobahn-Meilen".
Bei der Analyse der Zusammenhänge zwischen Tempo und Unfallrate zeigte sich:
- Die Unfallbeteiligungsrate (bei Tagesfahrten) erreicht für die Geschwindigkeiten zwischen 90 und 110 km/st deutlich ihr Minimum. Sie steigt dagegen für den Geschwindigkeitsbereich um 60 km/st auf den sechsfachen Wert.
Mit anderen Worten: Im Verhältnis verunglückten rund sechsmal soviel Tempo-60-Fahrer wie Tempo-100-Fahrer.
Trotz dieser amerikanischen Test -Ergebnisse scheint offenkundig, daß Seebohm entschlossen ist, die Einführung einer Höchstgeschwindigkeitsgrenze in der Bundesrepublik zu befürworten.
"Geschwindigkeitsbegrenzung ist ein probates Mittel, weil sie kein Geld kostet", gestand Seebohm in der vergangenen Woche. "Daher ist der Anreiz sehr groß."
Freilich wäre eine solche Maßnahme, gemessen am amerikanischen Modell, von fragwürdigem Wert. Denn in den Vereinigten Staaten bestehen nicht nur Vorschriften für Höchstgeschwindigkeiten, sondern auch für Mindestgeschwindigkeiten. Beispielsweise müssen amerikanische Automobilisten auf Straßen, für die eine Höchstgeschwindigkeit von 60 Meilen (97 km/st) festgesetzt ist, mindestens mit einem Tempo von 40 Meilen je Stunde (64 km/st) fahren; Langsamfahrer werden bestraft.
Nach Studienreisen durch die USA bestätigte Ministerialrat Arthur Pukall aus dem Bundesverkehrsministerium:
"Als Folge des Abschneidens der Geschwindigkeitsspitzen nach oben und unten ist auf amerikanischen Straßen ein wesentlich ruhigerer Verkehrsfluß als in der Bundesrepublik festzustellen:
Die Zahl der Überholvorgänge ist dadurch erheblich geringer."
Aber die Einführung von Mindestgeschwindigkeiten, wesentliche Voraussetzung für das stetige Fließen des Verkehrs, glaubt Seebohm in der Bundesrepublik nicht befürworten zu können. Er müsse sonst, gestand der Minister,
"praktisch alle Lastwagen und Lastzüge von den Autobahnen verweisen".
Amerikanische Autobahn
Langsamfahren wird bestraft