„Supermacht ohne Führung“
Wilkerson, 60, gehörte 16 Jahre zu den engsten Mitarbeitern Colin Powells, von 2002 bis 2005 als dessen Büroleiter im Außenministerium. Der Oberst a. D. diente im Vietnam-Krieg, später wurde er stellvertretender Leiter des Marine War College in Quantico, Virginia.
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SPIEGEL: Oberst Wilkerson, Sie haben die Regierung von Präsident George W. Bush heftiger angegriffen als irgendein anderer Insider zuvor. Warum?
Wilkerson: Es war der Bruch mit der Genfer Konvention, wie wir ihn in Abu Ghureib gesehen haben, die Abkehr von Internationalem Recht und von Verträgen, die mich dazu brachten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ich wollte auf eine Politik hinweisen, die sich in der Führungsspitze - vom Vizepräsidenten bis hin zum Verteidigungsministerium - durchgesetzt hatte und die sich nun bei unseren Truppen an der Front auswirkte. Das war nicht nur für die Streitkräfte schädlich ...
SPIEGEL: ... bei denen Sie 31 Jahre lang gedient haben ...
Wilkerson: ... es war auch abträglich für das Bild und die Glaubwürdigkeit der Vereinigten Staaten in der Welt. Darüber hinaus schadeten diese Verstöße unserer Fähigkeit, den Kampf gegen Osama Bin Laden, Abu Mussab al-Sarkawi und andere Terroristen zu gewinnen. Wir können doch in einem Krieg der Weltanschauungen nicht bestehen, wenn wir von unseren eigenen Grundüberzeugungen abweichen.
SPIEGEL: Wie kam es dazu?
Wilkerson: Von meiner Warte im Außenministerium habe ich gesehen, wie sich auf einmal die Entscheidungsprozesse veränderten. Normalerweise erhält der Präsident von allen Seiten Ratschläge und trifft dann seine eigenen Entscheidungen. Ich konnte jedoch sehen, wie Bush offenbar Kompromisse schloss. Er sagte, wir hätten es in der Tat mit einem neuen Feind zu tun, für den die Vorschriften der Genfer Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen nicht mehr passten. Gleichzeitig ordnete er aber in einem offiziellen Memorandum, das ich selbst gesehen habe, an, alle Häftlinge sollten nach dem Vorbild amerikanischer Werte und im Geist der Genfer Konvention behandelt werden.
SPIEGEL: Genau das ist nicht geschehen.
Wilkerson: Bei der Ausführung dieser Vorschriften trug die andere Seite der Regierung den Sieg davon: diejenigen, die meinten, Terroristen seien die neuen Ungeheuer, mit denen man einfach anders umspringen müsse. Das konnte geschehen, weil sich Richard Cheney als der machtvollste Vizepräsident der gesamten US-Geschichte erwiesen hat und weil er es so wollte. Es war ein geheimnisvolles, wenig bekanntes Ränkespiel unter Führung von Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, das den normalen gesetzlichen Ablauf solcher Entscheidungen kurzgeschlossen hat.
SPIEGEL: Mit den bekannten Folgen: Folter und Erniedrigung von Gefangenen.
Wilkerson: Im Hinblick auf die Genfer Vorschriften glaubten Cheney und Rumsfeld, alles sei erlaubt. Der Bedarf an wichtigen Informationen sei so groß, dass es weitestgehenden Spielraum bei der Behandlung der Gefangenen geben müsse. Und diese Haltung setzte sich dann fort bis in die untersten Ränge der Streitkräfte. Das Zusammenwirken beider Elemente - der Informationsbedarf und der Hinweis, dass sich die Regeln geändert hätten - öffnete eine Büchse der Pandora: So kam es zu den Vorfällen im Gefängnis von Abu Ghureib, so kam es sogar zu Todesfällen.
SPIEGEL: Wie viele Gefangene starben in amerikanischer Haft?
Wilkerson: Bis zu meinem Dienstende im Außenministerium waren mehr als 70 Menschen umgekommen - einige der Fälle wurden untersucht, andere vertuscht.
SPIEGEL: Hat auch die CIA gefoltert?
Wilkerson: Das weiß ich nicht. Sollte der Präsident tatsächlich einen entsprechenden Erlass unterschieben haben, der es einer ausgewählten und geschulten Einheit der CIA gestattet, Gefangene anders als nach den Regeln der Genfer Konvention zu befragen, wüssten nur sehr wenige Menschen davon. Vielleicht nicht einmal der Außenminister.
SPIEGEL: Sie haben die Rede von Colin Powell vor der Uno-Vollversammlung im Februar 2003 vorbereitet, in der er den Irak beschuldigte, Massenvernichtungswaffen zu besitzen und Kontakte zum Terrornetzwerk al-Qaida zu unterhalten. War diese Behauptung eine Kriegslüge, wie es die oppositionellen Demokraten jetzt sehen?
Wilkerson: Das würde ich auch gern wissen. Ich war damals der Leiter der Gruppe, die Powells Präsentation bei der CIA zusammenstellte; fünf, sechs Tage lang war ich im Hauptquartier in Langley untergebracht. Da gab es beispielsweise diesen Agenten, den der deutsche Geheimdienst angeschleppt hatte und der behauptete, der Irak verfüge über mobile Produktionsfahrzeuge zur Herstellung von Bio-Waffen. Inzwischen weiß ich, dass die Deutschen auch auf ihre Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses Agenten hingewiesen hatten.
SPIEGEL: ... bei der Gefangene während des Verhörs beinahe ertränkt werden. Mit anderen Worten: Die US-Regierung hat bei den Kriegsgründen heftig übertrieben und sich die Fakten so ausgesucht, wie sie sie gern gehabt hätte?
Wilkerson: Das stimmt - jedenfalls in Bezug auf den Staatssekretär für politische Fragen Douglas Feith, der damaligen Nummer drei im Pentagon. Und bestimmt hat auch Vizepräsident Cheney übertrieben - man muss sich nur noch einmal seine Reden von damals anhören.
SPIEGEL: Colin Powell bezeichnet den Uno-Auftritt heute als Anschlag auf seinen Ruf ...
Wilkerson: ... und gleichzeitig war das auch der Tiefpunkt meiner Karriere. Wenn ich heute zurückblicke, frage ich mich: Ich war doch kein Neuling, ich hatte jahrelange Erfahrungen im Umgang mit Geheimdiensten. Wie konnte es geschehen, dass wir so ausgetrickst wurden?
SPIEGEL: Haben Sie eine Antwort?
Wilkerson: Saddam Hussein war nicht so dumm, wie wir alle glaubten. Er war sogar ziemlich smart. Er glaubte, dass die größte Gefahr immer noch vom Hauptfeind Iran drohte und dass die zweitgrößte Gefahr sein eigenes Volk war. Erst dann kamen die USA, irgendwo unten auf der Liste. Der einzige Weg, den Mythos seiner Macht aufrechtzuerhalten, war die Drohung mit Massenvernichtungswaffen. Nur so konnte er glaubwürdig sein, wenn er sagte: "Ich schlag euch tot, wenn ihr versucht, mich zu treffen." Er selbst hat diese Desinformationskampagne begonnen.
SPIEGEL: Hätte Condoleezza Rice, damals Sicherheitsberaterin von George W. Bush, mehr auf Ausgleich zwischen den verfeindeten Flügeln der Regierung bedacht sein und den Präsidenten besser beraten müssen?
Wilkerson: Der Nationale Sicherheitsrat unter Dr. Rice wurde von einer ganzen Menge Insidern mit einem einzigen Wort beschrieben: "funktionsgestört". Und wenn man genau hinschaut, diente das Versagen des Sicherheitsrats als wunderbare Tarnung für jenen alternativen Entscheidungsprozess, der sich um den Vizepräsidenten herum entwickelt hatte.
SPIEGEL: Rice hatte das Vertrauen des Präsidenten und versuchte, noch dichter an ihn heranzukommen.
Wilkerson: Sie hatte ihre Augen fest auf ein Ziel gerichtet. Mit Erfolg. Sie ist schließlich Außenministerin geworden.
SPIEGEL: Das Pentagon hat immer behauptet, man könne innerhalb von Monaten eine stabile Regierung im Irak aufbauen.
Wie konnte sich eine solche Fehleinschätzung durchsetzen?
Wilkerson: Das lag an einem unfassbaren Maß an Arroganz. Dafür war die Hybris dieser Regierung verantwortlich. Ein einziger kurzer Blick auf die Region hätte eine solche Behauptung unmöglich machen müssen. Im Gegensatz zum Pentagon haben wir im Außenministerium nie daran geglaubt, dass unsere Soldaten im Irak als Befreier mit Blumen begrüßt würden. Und die Art, in der wir den Irak-Krieg verfolgt haben, war ja nicht unser einziger Fehler. Es gab so viele, von Anfang an. Denken Sie nur daran, wie wir fast die ganze Welt vor den Kopf gestoßen haben, als wir das Klimaschutzprotokoll von Kyoto ablehnten - ohne jede Angabe von Gründen. Die Ungeschicklichkeit und manchmal auch die Unfähigkeit, mit der wir die ganze Welt konfrontierten, machten Außenpolitik während der ersten Amtszeit von George W. Bush äußerst schwierig.
SPIEGEL: Inzwischen hat sich das Klima verändert. Die amerikanische Öffentlichkeit hat sich von Bushs Irak-Politik abgewendet. Sollten jetzt die US-Truppen aus dem Irak abgezogen werden?
Wilkerson: Die Frage hat zwei Aspekte: Weil Verteidigungsminister Rumsfeld 2003 entschieden hat, die Gesamtzahl der Streitkräfte nicht zu erhöhen, ist ein Abzug unvermeidbar. Anderenfalls werden irgendwann im nächsten Jahr, spätestens aber 2007, unsere Armee und das Marineinfanteriecorps zerbrechen. Das ist leider so.
SPIEGEL: Und der zweite Aspekt?
Wilkerson: Wir müssen die Lage im Irak genau im Auge behalten. Wir müssen unseren
SPIEGEL: Die demokratische Opposition hat vorgeschlagen, der Präsident solle einige Fehler einräumen, um dann in den USA und weltweit um neue Hilfe zu bitten.
Wilkerson: Für viele Amerikaner, mich selbst eingeschlossen, wäre ein solches Schuldeingeständnis - verbunden mit einigen Kurskorrekturen - eine Ermutigung. Ich zweifle allerdings daran, dass ein solches Vorgehen der Gemütsverfassung und dem Charakter von George W. Bush entspricht.
SPIEGEL: Aber ist nicht in Wahrheit der Verlust der moralischen Autorität das größte Problem der Vereinigten Staaten?
Wilkerson: Selbstverständlich. Ich saß kürzlich mit einem früheren kanadischen Premierminister auf einem Diskussionspodium, auf dem er sagte: "Wir Kanadier sind nicht antiamerikanisch. Wir sind nur sehr sehr beunruhigt über einen kopflosen Giganten." Das ist eine Metapher, die zu dieser Supermacht passt. Sie scheint ohne Führung und ohne Richtung.
SPIEGEL: Gibt es nicht inzwischen wieder Ansätze einer maßvolleren und berechenbareren Außenpolitik, so wie sie auch Ihr alter Chef immer gefordert hat?
Wilkerson: Hoffentlich, es gibt inzwischen einige ermutigende Kursänderungen. Außenministerin Rice handelt so, als hätte sie gelernt, heute von einem anderen Notenblatt zu spielen, und zwar eine Melodie, die in den Ohren unserer Freunde und Verbündeten viel lieblicher klingt. Das ist prima. Aber ich höre immer noch, vor allem bei Vizepräsident Cheney, Töne eines aggressiven Unilateralismus, die mich beunruhigen. Es gibt noch immer diesen Willen, alles allein machen zu wollen - nach dem Motto: keine Angst vor den Torpedos, volle Fahrt voraus; geht zum Teufel, wir sind stark. Diese Haltung passt nicht mehr ins 21. Jahrhundert.
SPIEGEL: Sind die Neokonservativen mit ihrer Agenda nicht längst gescheitert?
Wilkerson: Das sind weder Neokonservative noch neue Konservative. Das sind Jakobiner nach dem Vorbild von Frankreichs Revolutionsführer Robespierre. Und die Behauptung, diese Eiferer seien tot, sie schliefen oder lägen in Lauerstellung, ist auch nicht gerade beruhigend, weil es noch viele von ihnen gibt. Wir müssen aufpassen, dass sie ihre hässlichen Häupter nicht erneut erheben, um immer wieder neue Probleme zu schaffen.
SPIEGEL: Oberst Wilkerson, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.