POLEN-VERTRAG Etwas in petto
Walter Scheel redete freundlich auf Józef Cyrankiewicz ein: "Für uns ist der Vertrag die Eingangsstufe für eine bessere Entwicklung, so wertet ihn auch die deutsche Öffentlichkeit." Dem polnischen Ministerpräsidenten und ehemaligen KZ-Häftling in Auschwitz entfuhr es auf deutsch: "Das muß sich erst noch erweisen."
Der Pole faßte sich sofort und tauschte mit dem Bundesaußenminister nach der Paraphierung des deutsch-polnischen Grenzvertrags am letzten Mittwoch in Warschau über Dolmetscher wieder diplomatische Höflichkeiten aus: "Bitte, sagen Sie doch dem Herrn Bundeskanzler, er möge sich einige Tage für seinen Aufenthalt hier reservieren." Scheel: "Ich glaube, das wird er tun."
Scheel selber hatte die Polen unmittelbar zuvor bei seiner Rede zur Paraphierung nachdenklich gestimmt. Er wies darauf hin, um diesen Vertrag werde in der Bundesrepublik "noch hart gerungen werden".
In der Tat formieren sich in Westdeutschland parlamentarische Opposition und rechte Apo zum Widerstand gegen den Pakt von Warschau. Berufsvertriebener Friedrich Hollunder, Vorsitzender der Landsmannschaft Oberschlesien, klagte an: "Die Grenzen des russischen Imperiums werden ... quer durch das deutsche Volk festgeschrieben und bestätigt." Im CSU-Organ "Bayernkurier" wurde die Bundesregierung "mit dem Regime Ulbricht auf eine Stufe" gestellt.
CDU/CSU-Fraktionschef Rainer Barzel hielt sich noch zurück: "Wir werden den Vertragstext ... sorgfältig prüfen." Ein Barzel-Berater räumte ein: "Die Ablehnung wird uns sehr, sehr schwerfallen."
Nicht zuletzt deshalb, weil die spendablen CDU-Freunde in der Wirtschaft Drang nach Osten verspüren. Schon ließen die am Polenhandel stark interessierten Unternehmen vom Kölner "Industrieinstitut" den Grenzvertrag begrüßen, weil die wirtschaftliche Zusammenarbeit "angesichts des nunmehr verbesserten Klimas reale Chancen' habe. Auch die einhellige Zustimmung der Westmächte zum Grenzvertrag macht der Union das Nein-Sagen schwer.
Taktiker Barzel hat dennoch Vorbereitungen getroffen, eine Ablehnung des Vertrags zu kaschieren. Er gab ein Gegenpapier in Auftrag, das eine Arbeitsgruppe unter Leitung des konservativen Vertragsgegners Werner Marx bis zur Fraktionssitzung an diesem Mittwoch ausarbeiten soll.
Den verschwommenen Ideen des Vertriebenen-Präsidenten und CDU-MdB Herbert Czaja entsprechend, sollen in dem Papier eine vage Grenzformel, ein um so deutlicherer Friedensvertrags-Vorbehalt und ein als "Volksgruppenrechte" getarnter, für Polen nicht akzeptabler Minderheitenschutz fixiert werden.
Sobald die Bundesregierung das deutsch-polnische Vertragswerk dem Parlament zur Ratifizierung zuleitet, wollen die Christdemokraten ihre Ersatz-Ideen als Entschließungsantrag dem Plenum vorlegen.
Die Opposition stößt sich vor allem an den Konzessionen, die Scheel den Polen in der Grenzformel und beim Friedensvertrags-Vorbehalt machen mußte. Bindend erkannte der Außenminister für die Dauer des Bestehens der Bundesrepublik an, daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze Polens bildet, und erfüllte sogar die Forderung Warschaus, den Grenzverlauf' wie Im Potsdamer Abkommen, als festgelegt zu bezeichnen.
Entsprechend den polnischen Wünschen nach endgültiger Sicherung der Oder-Neiße-Grenze schwächte Bonn den Vorbehalt, daß Deutschlands Grenzen erst in einem Friedensvertrag endgültig gezogen werden können, auf ein Mindestmaß ab. In einem Notenwechsel zwischen der Bundesregierung und den drei Westmächten ist der Vorbehalt so vage formuliert, daß die Polen sogar diese Dokumente gegen Quittung akzeptierten. Regierungssprecher Ahlers tat ein übriges zur Beruhigung Warschaus: Der Vorbehalt sei lediglich "hypothetisch".
Bonns Regierungsjuristen sind dennoch überzeugt, daß der Notenwechsel in Verbindung mit Artikel 4, der die Fortgeltung bestehender Verträge -- etwa des Deutschland-Vertrags -- sichert, ausreichend Schutz bietet, falls die Opposition gegen den Pakt wegen Verletzung des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots Verfassungsklage erhebt.
Fraglich ist jedoch, ob die CDU/CSU-Opposition auf dieses letzte Mittel zurückgreift, denn die Christenunion steht unter starkem moralischem Druck. Mit Hilfe der Polen hat die SPD/FDP-Koalition die Union in das Dilemma gebracht, daß ein Nein zum Vertrag zugleich die Übersiedlung Zehntausender Deutscher aus Polen verhindern würde. Der Druck auf die Opposition könnte noch stärker werden, wenn Warschau, wie Bonn erwartet, schon vor der Ratifizierung einige tausend Übersiedler ausreisen läßt. Ein Kanzler-Berater: "Die haben da etwas in petto."
Der größere Teil der Ausreiseberechtigten, nach neuesten Schätzungen zwischen 50 000 und 75 000, darf erst nach der Ratifizierung des Abkommens die polnische Volksrepublik verlassen. Innerhalb von zwei Jahren soll die Familienzusammenführung abgeschlossen sein.
Die technischen Einzelheiten werden kurz nach der für Anfang Dezember geplanten Unterzeichnung des Polen-Vertrags auf einer Konferenz der beiden Rotkreuz-Gesellschaften vereinbart.
Um deutschstämmigen Antragstellern Schikanen lokaler Behörden in Polen zu ersparen, unter denen sie bislang nicht selten zu leiden hatten, werden sie sich künftig an eine Rotkreuz-Zentrale für Familienzusammenführung in Warschau wenden können.
Entgegen weitergehenden Bonner Wünschen wird der Kreis der Berechtigten im wesentlichen auf Verwandte aufsteigender und absteigender Linie beschränkt (Eltern, Großeltern, Urgroßeltern sowie Kinder und Kindeskinder).
Mit einer Abrede über Besuchsreisen haben die beiden Regierungen der Opposition ein weiteres Argument gegen den Vertrag genommen. Die Union hatte nämlich bislang behauptet, die "politische Zementierung von Demarkationslinien und Grenzen" (CDU/CSU-Fraktionsbeschluß) behindere einen freien Reiseverkehr.
Nun erwies sich, daß die Grenzanerkennung Besuche in beiden Richtungen erst möglich macht. Denn die Polen versprachen, Westdeutsche künftig bei der Visa-Erteilung und den Devisen-Vorschriften wie andere ausländische Touristen zu behandeln.
Zur Normalisierung des Verhältnisses soll auch der Abschluß eines Sozialversicherungsabkommens beitragen. Bonn will in Polen lebenden Personen, die nach deutschem Recht Anspruch auf Sozialhilfe oder Renten aus der Bundesrepublik haben, künftig diese Gelder auch auszahlen dürfen.
Als sich die beiden Delegationen in der Nacht zum vorletzten Sonnabend zur Schlußsitzung trafen, erkundigte sich Warschaus Außenminister Stefan Jedrychowski, was es mit diesen Sozialleistungen eigentlich auf sich habe. Scheel wußte ebenfalls nicht Bescheid und überließ die Antwort dem Experten des Bundesinnenministeriums, Ministerialrat Gerhard von Loewenich.
Der Beamte wollte grundsätzlich werden. Er las den Polen Paragraph eins des Bundessozialhilfegesetzes vor, wonach den Empfängern der Hilfe ein Leben ermöglicht werden soll, das "der Würde des Menschen entspricht".
Jedrychowski verstand Loewenichs Referat als Vorwurf, Rentner führten in Polen kein menschenwürdiges Dasein, und reagierte unwillig. Doch sein Vize Józef Winiewicz nahm es mit Humor: "Jetzt kriegen wir alle eine Zulage."